Arbeitswelten und Arbeitsbeziehungen als Gegenstand historischer Forschung – neue Perspektiven auf die Gewerkschaftsgeschichte

Arbeitswelten und Arbeitsbeziehungen als Gegenstand historischer Forschung – neue Perspektiven auf die Gewerkschaftsgeschichte

Organisatoren
Friedrich-Ebert-Stiftung; Hans-Böckler-Stiftung
Ort
Bonn
Land
Deutschland
Vom - Bis
08.10.2009 - 09.10.2009
Url der Konferenzwebsite
Von
Matthias Müller, Weinheim

Anlässlich des 60-jährigen Bestehens des Deutschen Gewerkschaftsbundes luden die Friedrich-Ebert-Stiftung sowie die Hans-Böckler-Stiftung vom 8. bis 9. Oktober 2009 zu einer gemeinsamen Fachtagung, die sich dem Thema „Arbeitswelten und Arbeitsbeziehungen als Gegenstand historischer Forschung – neue Perspektiven auf die Gewerkschaftsgeschichte“ widmete. In historischer Breite, wissenschaftlicher Tiefe und methodischer Divergenz beleuchteten an diesen beiden Tagen insgesamt 14 Referenten und Podiumsdiskutanten den genannten Forschungsgegensand und leisteten damit ihren Beitrag zur Wiederbelebung eines Themengebietes, dem von den Anwesenden eine stiefmütterliche Pflege seitens der Forschung attestiert wurde.

Jener Beobachtung folgend ging Veranstaltungsleiterin URSULA BITZEGEIO gleich zu Beginn der Tagung in medias res und beklagte, dass die Themenbereiche Gewerkschaftsgeschichte und Arbeiterbewegung seit den 1990er-Jahren für den historischen Nachwuchs kaum mehr von Interesse gewesen seien und zwischenzeitlich selbst geistige Kapazitäten vor einer Beschäftigung mit diesen Themen abraten würden. Bewusst zugespitzt fragte Bitzegeio, ob dieses Desinteresse möglicherweise auf der Sorge basiere, mit der Bearbeitung solcher Themenfelder „eine politische aufgeladene These wagen zu müssen“ und ob „diese Skepsis nicht selbst vielmehr Ausdruck einer politischen [und damit letztlich unpolitischen] Grundhaltung“ sei? Die in vier Sektionen gegliederte Fachtagung erhielt durch Bitzegeios Frage somit ihren entscheidenden Impuls, der an den beiden Seminartagen die Diskussionskultur nachhaltig beleben sollte.

Die erste Sektion beschäftigte sich anhand dreier Fallbeispiele mit Strukturbrüchen und Entwicklungslinien der Gewerkschafsgeschichte und spannte einen historischen Bogen vom Kaiserreich bis zur Weimarer Republik. Am Beispiel von Erfurter Arbeitern der Jahre 1880-1914 untersuchte JÜRGEN SCHMIDT den „Arbeitsplatz als Ort für soziale Kommunikation und Kontakte“ und ging der Frage nach, welche Hemmnisse das Aufkommen von Gewerkschaftbindungen behinderten und welche Möglichkeiten das Entstehen ebensolcher beförderten. Gleichzeitig fragte er, welcher Wirkungsmacht dem Streik als Mittel des Arbeitskampfes dabei zugestanden werden musste und konstatierte, dass im konkreten Fall Erfurt der Streik auf die Arbeiter oftmals eher abgrenzend denn homogenisierend gewirkt habe. Im Folgenden präsentierte SABINE RUDISCHHAUSER ihre vergleichende Studie zur „Tarifpraxis und Rechtkultur in Deutschland und Frankreich vor 1918“, ehe RAINER FATTMANN mit dem Thema „`Die Neue Frau` als Unternehmerin“ das gewerkschaftliche Verhalten weiblicher Angestellter in der Weimarer Republik untersuchte. In seinem Vortrag trat Fattmann gängigen Postulaten entgegen, denen zufolge Frauen in jener Zeit ausschließlich „minderwertige Arbeit“ verrichtet und gerade auch die Gewerkschaften „altbackene“ Geschlechterstereotype tradiert und befestigt hätten. Um zur Abschwächung dieses überzeichneten Bildes beizutragen, erläuterte er, dass für weibliche Angestellte - unter Berücksichtigung der europäischen Perspektive - in der Weimarer Republik verhältnismäßig fortschrittliche Ausbildungsmöglichkeiten bestanden hätten.

Die zweite Sektion widmete sich mit Heinz Dürrbeck (1912-2001) und Viktor Agartz (1897-1964) zwei „vergessenen Eliten“ der frühen bundesdeutschen Gewerkschaftsgeschichte. Hier charakterisierte STEFAN MÜLLER das spätere Vorstandsmitglied der IG-Metall Dürrbeck als „Vertreter einer sozialistischen Brückengeneration“. Deren Angehörige hätten in der Arbeiterbewegung der Weimarer Republik ihre Sozialisation erhalten und die Bundesrepublik als „Staat des Kapitals und der Bourgeoisie“ anfänglich abgelehnt. So auch Dürrbeck, der in dieser Zeit seine auf einer radikalen Demokratie beruhenden Sozialismus-Vorstellungen entwickelte. Nach seinem Einstieg in die hauptamtliche Gewerkschaftsarbeit im Jahr 1954 avancierte er schließlich zum zentralen Gründervater der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit. Mit Viktor Agartz, der von der Süddeutschen Zeitung im Jahr 1955 zum „mächtigsten Gegner Adenauers“ erkoren worden war und „neben Kurt Schumacher und Hans Böckler der wohl wichtigste Funktionär und Vordenker“ der Nachkriegs-SPD gewesen sei, präsentierte CHRISTOPH JÜNKE „eines der letzten Tabus in der deutschen Gewerkschaftsbewegung“. Jünke räumte ein, dass Agartz, dessen ungeklärtes Verhältnis zum DDR-Kommunismus in den 1960er-Jahren maßgeblich seine Isolierung in der deutschen Linken befördert hatte, letztlich als gescheiterte Person betrachtet werden müsse. Dennoch habe Agartz mit seinem Bezug auf die von Leo Kofler geprägte Theorie der „Neuen Elite“, die Agartz als „Gegen-Elite“ zu gewerkschaftlichen Funktionärselite betrachtete, das Entstehen der später sogenannten Neuen Linken vorhergesehen. Trotz inhaltlicher Differenzen und dem zeitlichen Abstand, sei er mit dieser, so Jünke, letztlich auf eine tragische Weise verbunden. Denn „sturerer Praktizismus hier und selbstgefälliger Intellektualismus dort“ hätten in beiden Fällen „eine Zusammenarbeit mit der in der Regel als tendenziell versteinert betrachteten Gewerkschaftsbewegung“ verhindert. Agartz` Scheiterns, so Jünke abschließend, müsse daher mit dem Scheitern der ersten Generation der westdeutschen Neuen Linken in einem Atemzug genannt werden.

Weniger geschichtsphilosophisch beladen begann am darauffolgenden Morgen der zweite Seminartag. Mit dem Fokus auf die Arbeiter- und Gewerkschaftsgeschichte nach 1970 schritten THOMAS WELSKOPP, KLAUS TENFELDE, JAN-OTMAR HESSE und KIM CHRISTIAN PRIEMEL zu einer Podiumsdiskussion über „Methodische Anforderungen an eine neue Zeitgeschichte“. Einigkeit herrschte in der Wahrnehmung, dass die klassische Gewerkschaftsgeschichtsschreibung zunehmend durch Forschungen zur Unternehmensgeschichte abgelöst worden und hierbei vermehrt international vergleichende Studien auf dem Vormarsch seien. Neben solchen Ansätzen sei künftig auch eine „Globalisierung der Fragestellungen“ zu erwarten. Dennoch, so ein treffender Einwand, müsse ein „ideengeschichtliches Grundgerüst“ ebenso wie die klassische politische Theorie für neue Studien weiterhin die Grundlage bleiben und einer „McKinseyisierung“ der Forschung entgegengewirkt werden. Entsprechend der von Bitzegeio postulierten Eingangsthese warnte auch Klaus Tenfelde vor einer Entideologisierung, die sich aus eben jener Vakanz ableite und im eingangs beschriebenen Forscherdesinteresse letztlich zum Ausdruck komme.

Der Diskussionsrunde folgte die dritte Sektion, die sich dem „Werte- und Formenwandel der Arbeit“ widmete. In seinem Vortag „Verfall der Leistungsbereitschaft oder postmaterialistisches Arbeiten?“ stellte JÖRG NEUHEISER „Überlegungen zur Diskussion zum `Wertewandel` in der Arbeitswelt seit den 1970er-Jahren“ an. Anschließend erörterte Jan-Otmar Hesse „Die `Krise der Selbständigkeit` in Westdeutschland in den 1970er-Jahren“. Hesse erläuterte anhand sozioökonomischer Daten, dass staatlicherseits bei dieser „Krise“ auf ein nicht existentes Problem reagiert worden sei und durch die überhastete Förderung von Existenzgründungen, die Zahl der Konkurse eher nach oben getrieben worden seien. Schließlich wurde durch den Literaturwissenschaftler ENNO STAHL ein sehr lebendiger Vortrag zu „Wirtschaft und Arbeitswelt in der deutschen Gegenwartsliteratur“ dargeboten, der zu den eher sachlich-analytischen Erörterungen der Vorredner eine angenehme Abwechslung bot. Trotz der gegenwärtigen Krise spiele das Thema Arbeit, so Stahl, in der zeitgenössischen deutschen Belletristik derzeit kaum eine Rolle. Dennoch präsentierte er mit Ernst-Wilhelm Händlers „Wenn wir sterben“, Georg M. Oswalds „Alles was zählt“ sowie Kathrin Rögglas „wir schlafen nicht“ dem Auditorium drei lesenswerte Ausnahmen. Der erstgenannten stellte er jedoch ein eher mangelhaftes Zeugnis aus. So beschreibe Händlers Erzählung zwar anschaulich, jedoch mit einem verharmlosenden neoliberalen Duktus behaftet, was Angestellten passiere, wenn sie „vom großen Schleuderkarussell der Wirtschaft ausgespien werden“. Eine deutlich moralischere Position beziehe gegen solche Prozesse dagegen das Buch von Georg M. Oswald, in dem in „kenntnisreiche(r) Weise die beinharte Ellenbogenmentalität des aktuellen Geschäftslebens“ aufs Korn genommen werde; ähnlich auch in der Erzählung Kathrin Rögglas, in der bereits der Titel „wir schlafen nicht“ erahnen lässt, dass in diesem Buch die Arbeitsrealität der sogenannten New Economy beschrieben wird. Wohl zu Recht beklagt Stahl, dass die deutsche Gegenwartsliteratur von den skizzierten Realitäten des Arbeitsalltags leider kaum Notiz nehme. Schauderhaft, aber wohl treffend, prophezeite Stahl, dass es wohl nicht mehr lange dauern dürfe, „bis die sozialen Verwerfungen auch die heute noch privilegierten Kulturschaffenden des bürgerlichen Mittelstands erreicht haben“ und jener Problematik spätestens dann in der Literatur ein breiterer Raum eingeräumt werden dürfte.

In der letzten Sektion erörterte CHRISTINE BOBZIEN Möglichkeiten der Forschung, die sich mit den im Archiv der sozialen Demokratie gelagerten Beständen der IG-Metall künftig auftäten, ehe RÜDIGER GERLACH am Beispiel des Automobilherstellers Volkswagen den in den 1960er-Jahren vollzogenen betrieblichen Wandel der Sozialpolitik beschrieb, der sich in diesem Zeitraum von der klassischen paternalistischen zur „mitbestimmten“ betrieblichen Sozialpolitik vollzog. Dieser Prozess, so Gerlach, habe mit der zunehmenden Verrechtlichung und den sich vergrößernden staatlichen Interventionen korreliert. Als letzte Fachgröße der Tagung referierte ANNE SEIBRING über „Menschengerechte Arbeitsgestaltung in den 1970er-Jahren“. Hier untersuchte Seibring die Bewegung zur Humanisierung des Arbeitslebens (HdA) und erläuterte, dass deren Wirkungsmacht letztlich nur wegen der zu dieser Zeit in der Regierungsverantwortung befindlichen Sozialdemokratie zur Entfaltung gekommen sei. Auch diese drei Vorträge wurden durch einen erläuternden Kommentar sowie eine daran anschließende Diskussionsrunde beendet. Eine Institution, die sich an alle vier Sektionen anschloss und die insgesamt gelungene Veranstaltung fachgemäß abrundete. Schuldig blieb die Tagung lediglich der eingangs geforderten politischen These. Es darf daher gespannt abgewartet werden, ob sich der historische Nachwuchs ihrer annehmen wird.

Konferenzübersicht:

Sektion I: Strukturbrüche und Entwicklungslinien an der Schwelle zum 20. Jahrhundert

Jürgen Schmidt: Strukturbrüche und Kontinuitäten in der Hochzeit der Gewerkschaften. Arbeitsplätze als Orte sozialer Kommunikation am Beispiel Erfurts (1880-1914).

Sabine Rudischhauser: Tarifpraxis und Rechtkultur in Deutschland und Frankreich vor 1918. Vergleichende Überlegung zur Entwicklung des Tarifrechts.

Rainer Fattmann: „Die Neue Frau“ als Unternehmerin. Weibliche Angestellte und Gewerkschaftsbewegung in der Weimarer Republik.

Sektion II: Vergessene Eliten. Gewerkschaftliche Akteure in den 1950er- und 1960er-Jahren

Stefan Müller: Vertreter einer sozialistischen Brückengeneration in der IG Metall - Heinz Dürrbeck.

Christoph Jünke: Viktor Agartz und die gewerkschaftliche Schließung des DBG nach 1952/53.

Sektion III: Werte- und Formenwandel der Arbeit

Jörg Neuheiser: Verfall der Leistungsbereitschaft oder postmaterialistisches Arbeiten. „Überlegungen zur Diskussion zum `Wertewandel` in der Arbeitswelt seit den 1970er-Jahren.

Jan-Otmar Hesse: Die „Krise der Selbständigkeit“ in Westdeutschland in den 1970er-Jahren.

Enno Stahl: Wirtschaft und Arbeitswelt in der deutschen Gegenwartliteratur.

Sektion IV: Arbeitsumwelt und Arbeitsbeziehungen

Christine Bobzien: Rostfrei: Die Überlieferung der IG-Metall im AdsD. Chancen für die Forschung heute.

Rüdiger Gerlach: Betriebliche Sozialpolitik im Wandel – von der klassischen paternalistischen Sozialpolitik zur „mitbestimmten“ betrieblichen Sozialpolitik am Beispiel Volkswagens in den 1960er-Jahren.

Anne Seibring: Menschengerechte Arbeitsgestaltung in den 1970er-Jahren. Annäherung an die Bewegung zur Humanisierung des Arbeitslebens.


Redaktion
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