Geschichtspolitik und Antiziganismus

Geschichtspolitik und Antiziganismus

Organisatoren
Studienzentrum der KZ-Gedenkstätte Neuengamme; Seminarleitung: Kathrin Herold, Freie Gedenkstättenpädagogin der KZ-Gedenkstätte Neuengamme; Yvonne Robel, Kulturwissenschaftliches Institut, Universität Bremen
Ort
Neuengamme
Land
Deutschland
Vom - Bis
12.12.2009 -
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Von
Astrid Homann / Julia Brandt, Berlin

In einem Tagesseminar wurden antiziganistische Stereotype und Praxen in der deutschen Gedenkkultur und Geschichtspolitik sowie Kontinuitäten in der Verfolgungsgeschichte von Sinti und Roma kritisch hinterfragt. Dem ehemaligen Konzentrationslager Neuengamme als Tagungsort kam dabei eine doppelte Bedeutung zu: als historischem Ort der Verfolgung und Ermordung von Sinti und Roma, und zugleich als Austragungsort erinnerungspolitischer Auseinandersetzungen um die Anerkennung als Opfergruppe.

In einem einführenden Vortrag benannte KATHRIN HEROLD die Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft und die Formung eines bürgerlichen Subjekts als Hintergrund für die Entstehung des Antiziganismus, der mit einem spezifischen „Stereotypenpaket“ einherging. So werde ein dialektisches Verhältnis von „Arbeit und Fleiß“ und „Faulheit und Natur“ konstruiert und letzteres von der Gesellschaft externalisiert. Das bereits existente Bild des umherziehenden, nicht-sesshaften und unproduktiven „Zigeuners“ wurde im Nationalsozialismus durch die Biologisierung als Krankheitsüberträger/Erreger, vor dem der Volkskörper geschützt werden müsse, weiter radikalisiert bis hin zur systematischen Vernichtung, die vier Stufen beinhaltete: Erfassung (Gutachten durch die „Rassenhygienische Forschungsstelle“ in Berlin), Stigmatisierung und Ausgrenzung durch Gesetze („Gesetz zur Verhütung Erbkranken Nachwuchses“ 1934, „Erlaß über die Vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ 1937), Konzentration („Zigeuner-Gemeinschaftslager“, Ghetto) und Vernichtung (Zwangsarbeit im KZ, Deportation in die Vernichtungslager ab 1940), doppelte Markierung als „Asoziale“ (Dreieck versehen mit einem „Z“ für „Zigeuner“). Die Konstruktion als „fremde Rasse“ und die Unterstellung von Kriminalität und (negativ konnotiertem) Nomadentum als unveränderliche Eigenschaften seien Spezifika in der Verfolgungsgeschichte von Sinti und Roma. Lohnenswert wäre es hier gewesen, die Verschränkungen von Antiziganismus, Antisemitismus und Rassismus bei der Durchsetzung von Ideologie in der Gesellschaft vertiefend zu beleuchten.

Die Debatten der 1980er- und 1990er-Jahre um Entschädigung und alltägliche Ausgrenzungserfahrungen seien nur dann richtig einzuordnen, so lautete die Einschätzung von YVONNE ROBEL, wenn man sich mit der Auseinandersetzung mit dem Völkermord an Sinti und Roma nach 1945 beschäftige. Robel verwies auf die Parallelität bzw. Verwobenheit von Geschichtspolitik und Antiziganismus und dessen Stereotype, sowohl gesellschaftlich als auch institutionell. So sei die offizielle hegemoniale Erinnerung an die Geschichte der Nach- und Weiterverfolgung, das heißt rassistischer Praxen und Übergriffe nach 1945 gebunden.1 Der mittlerweile vielzitierte Begriff der „vergessenen Opfer“ in Bezug auf Sinti und Roma sei insofern falsch, als Sinti und Roma bis in die 1980er-Jahre so gut wie gar nicht als NS-Opfer wahrgenommen wurden. Auch die Lücken in der Aufarbeitung des Genozids an Sinti und Roma seien als Ausdruck von Antiziganismus zu bewerten – eine wissenschaftliche Auseinandersetzung in der Bundesrepublik begann erst in den 1990er-Jahren.2

Im weiteren Verlauf des Seminars entwickelte sich im Plenum eine Diskussion um die Rezeption erinnerungspolitischer Proteste von Sinti und Roma sowie um die gedenkpolitische Fortschreibung von Antiziganismen. Seit Anfang der 1980er-Jahre erhielten Proteste der Sinti und Roma eine gesteigerte öffentliche Aufmerksamkeit, die sich mit der Tendenz erklären lässt, sich im Rahmen der Bürgerrechtsbewegung und in den entstehenden Geschichtswerkstätten mit „vergessenen Opfergruppen“ zu beschäftigen. Die Selbstorganisation der Sinti und Roma hatte ihren ersten öffentlichkeitswirksamen Auftritt 1979 an der Gedenkstätte Bergen-Belsen. Wesentliche Anliegen der verschiedenen Gruppierungen waren der Abbau von Diskriminierung und die Wiedererlangung der deutschen Staatsbürgerschaft, die Anerkennung des Völkermords durch die Bundesrepublik Deutschland sowie Forderungen nach Entschädigung und Verfolgung der Täter/innen. Die Erinnerung an Gedenkorten wurde mit politischen Forderungen und Kämpfen um Bleiberecht verknüpft. So in der Bleiberechtskampagne der Rom und Cinti Union Hamburg von 1989, in der ein direkter Zusammenhang zwischen der Verfolgung im Nationalsozialismus und ihrer Bleiberechtssituation in Deutschland beziehungsweise der drohenden Abschiebung hergestellt wurde. Bis heute wirft der Umgang mit der polizeilichen Sondererfassung in so genannten Landfahrerzentralen, die erst in den 1970er-Jahren aufgelöst wurden, Fragen auf. In der Analyse verschiedener medialer Verarbeitungen ließ sich eine folkloristische Darstellung von Sinti und Roma feststellen, die das romantisierende Bild des „fahrenden Volkes“ bedient. Antiziganistische Projektionen waren auch in der Auseinandersetzung um die Inschrift des im Bau befindlichen zentralen Mahnmals für die ermordeten Sinti und Roma in Berlin von 1999 bis 2008 erkennbar. So wurde und wird in der öffentlichen Diskussion vor allem dem Zentralrat Deutscher Sinti und Roma bzw. sogenannten „Opferkonkurrenzen“ zugeschrieben, dass der Mahnmalbau über Jahre verzögert wurde und auch heute nur schleppend voranschreitet.

Die Abschlussdiskussion kreiste um die Frage der geschichtspolitischen Wirksamkeit von im Nationalsozialismus verfestigten Gruppendefinitionen und wie man diese Zuschreibungen heute aufbrechen könne. Auch wenn die Debatte um alternative Begrifflichkeiten hier immer wieder in eine Auseinandersetzung um die Legitimität verschiedener Gruppenvertretungen abglitt, wäre eine Diskussion, die sowohl die Rezipienten als auch die Definitionsmacht im Blick behält, zukunftsweisend, da ein Grundmerkmal von historischen Begriffen die Reproduktion von Identifizierungen bzw. Ausschlüssen ist.

Konferenzübersicht:

Zum NS-Völkermord an Roma, Sinti und anderen als „Zigeuner" verfolgten Menschen. Darüber Sprechen an einem ehemaligen Ort nationalsozialistischer Massenverbrechen, dem KZ Neuengamme.
Geführter Besuch der Hauptausstellung von Kathrin Herold

Auseinandersetzungen mit dem Völkermord an Sinti und Roma nach 1945: Kleingruppenarbeit: Themen, Fragen, Eckdaten und -fakten

Vortrag von Yvonne Robel: Kontinuitäten, Lücken der Täter/innenverfolgung und „vergessene Opfer“

Foto-Präsentation von Kathrin Herold: Erinnerungspolitische Praxen und deren Rezeption

Film: Protest und Engagement. Auseinandersetzungen um die KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Darstellung der Bleiberechtskämpfe der Rom&Cinti Union Hamburg innerhalb der Dauerausstellung)

Diskussion: Zur Verschränkung mit antiziganistischen Stereotypen

Impulsreferat von Yvonne Robel und gemeinsame Textarbeit: Antiziganistische Stereotype in der Diskussion um ein Roma-Mahnmal in Berlin

Abschlussdiskussion und Ausblick

Anmerkungen:
1 Von den Alliierten nach 1945 zunächst ausgesetzt, wurde das Bayerische Landfahrergesetz 1953 wieder eingeführt. Sinti und Roma erhielten dadurch spezielle Ausweise und Meldeauflagen. Dies ging zudem oftmals mit der Nichtanerkennung als deutsche Staatsbürger/innen einher. Dies steht exemplarisch für zahlreiche Ausgrenzungs- und Kriminalisierungskontinuitäten.
2 Vgl. Michael Zimmermann, Verfolgt, vertrieben, vernichtet – die nationalsozialistische Vernichtungspolitik gegen Sinti und Roma, Essen 1989; Wolfgang Wippermann, Geschichte der Sinti und Roma in Deutschland. Darstellung und Dokumente, Berlin 1993.


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