Gegenstände und Perspektiven der Landesgeschichte

Gegenstände und Perspektiven der Landesgeschichte

Organisatoren
Braunschweigischer Geschichtsverein; Historische Kommission für Sachsen-Anhalt; Institut für Braunschweigische Regionalgeschichte, Technische Universität Braunschweig
Ort
Braunschweig
Land
Deutschland
Vom - Bis
26.11.2009 - 27.11.2009
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Von
Brage Bei der Wieden, Staatsarchiv Wolfenbüttel

Eine Tagung zum Thema „Gegenstände und Perspektiven der Landesgeschichte“ veranstalteten vom 26. bis zum 27. November 2009 der Braunschweigische Geschichtsverein, die Historische Kommission für Sachsen-Anhalt und das Institut für Braunschweigische Regionalgeschichte an der Technischen Universität Braunschweig.

In die neuere Diskussion einführend, legte ENNO BÜNZ (Leipzig) die Genese der Landesgeschichte und die Entwicklung der landesgeschichtlichen Institutionen – Vereine, Kommissionen, Institute - dar. Anders als zuweilen vorgeschlagen, betrachtete er Landesgeschichte nicht als Methode, sondern als Disziplin der Geschichtswissenschaft. Landes- und Regionalgeschichte scheinen sich für ihn – nach Überwindung der Kontroversen des 20. Jahrhunderts – nur nach der Größe der behandelten Räume zu unterscheiden. Im Falle des Landes Braunschweig kommen Land und Region zur Deckung. Die aktuelle landeshistorische Forschungslandschaft sei lebendig und bunt, was er am Beispiel Sachsens, nämlich seines Lehrstuhls für Sächsische Geschichte sowie des Instituts für Sächsische Geschichte und Volkskunde, verdeutlichte. Die institutionelle Zukunft der Landesgeschichte könnte in der Gründung außeruniversitärer Institute liegen.

Am andern Tag begrüßte GERD BIEGEL (Braunschweig) die Gäste im 2009 neu errichteten Institut für Braunschweigische Regionalgeschichte. Diese Gründung verdankte sich besonderen Konstellationen im Braunschweigischen, deren Hintergründe er andeutete, nicht zuletzt der öffentlichen Auseinandersetzung um die inhaltliche Ausrichtung des Braunschweigischen Landesmuseums. BRAGE BEI DER WIEDEN (Wolfenbüttel) erläuterte dann den Ansatz der Tagung. Es gehe nicht um das seit Jahrzehnten hinreichend diskutierte Verhältnis von Landes- und Regionalgeschichte, sondern um das konkrete Agieren landeshistorisch arbeitender Institutionen: die Gegenstände ihres Handelns und ihre Perspektiven. Von ihren Vertretern sei zu hören und von ihnen zu lernen, wie Landesgeschichte heute verstanden wird und welche Inhalte dieses Etikett bezeichnet.

Zu Beginn der Sektion „Universitätseinrichtungen“ stellte ARND REITEMEIER (Göttingen) das Institut für Historische Landesforschung der Universität Göttingen vor, das seit 1958 der Aufgabe dient, auf Niedersachsen bezogene Forschungsvorhaben zu koordinieren. Auch wenn „Niedersachsen“ als Konstrukt im Wandel zu begreifen ist, behält der Auftrag seine Aktualität. Das Institut betreibt Grundlagenforschung wie die Neubearbeitung des Atlasses zur Geschichte Niedersachsens, die Historisch-landeskundliche Regionalkarte (früher Exkursionskarte) – beides georeferenziert und auf digitaler Basis –, das Niedersächsische Wörterbuch und das Niedersächsische Ortsnamenbuch. Mittelfristig angelegte Projekte sind das Niedersächsische Klosterbuch, Forschungen zur Reformation als Fundamentalprozess, zur hannoversch-britischen Personalunion 1714-1837 sowie das Repertorium der umweltgeschichtlichen Quellen. Reitemeier ging es dabei nicht um Besonderheiten eines Raumes, sondern um übergreifende Themenbildung im europäischen Kontext.

WERNER FREITAG (Münster) beschrieb seine landeshistorische Lehr- und Forschungstätigkeit als Wissenschaftsmanagement. Nach seiner Einschätzung müssten aber aus den Universitäten die wissenschaftlichen Innovationen kommen, die von Einrichtungen wie den Historischen Vereinen aufzunehmen seien, wenn sie nicht der Heimattümelei verfallen wollten. In Halle, wo er bis 2004 Landesgeschichte gelehrt hatte, ist dieses Fach seit seinem Weggang nicht mehr vertreten; im historischen Seminar der Universität Münster hingegen bildet sein Lehrstuhl eine voll eingerichtete Eckinstitution. Überhaupt existiert in Westfalen eine differenzierte Landschaft landeshistorischer Einrichtungen: das Institut für Regionalgeschichte mit seiner Ausrichtung auf die Geschichte der Neuzeit, das freilich keine Schnittstelle zwischen Universität und Land sein kann, die Historische Kommission, die die ehrenamtliche wissenschaftliche Tätigkeit koordiniert, schließlich die Historischen Vereine. Die Arbeit an den Universitäten sei durch die Zwänge der gegenwärtigen Rahmenbedingungen bestimmt. Die Jagd nach Drittmitteln richte Freitag auf Forschungsverbände aus: auf Sonderforschungsbereiche und Exzellenzcluster. Das Projekt „Kirchhöfe als Orte und Räume symbolischer Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft Westfalens“ beschäftigt 1,5 Personen, das Projekt „Politische Herrschaft in spätmittelalterlichen und neuzeitlichen Stadtprozessionen“ bietet vier Stellen für Nachwuchswissenschaftler. Durch diese Einbindung und die neuen Studiengänge gehe andererseits den Studierenden die Freiheit, Themen und Veranstaltungen nach eigenem Interesse zu wählen, verloren. Die Lehrenden, die sich den aktuellen Trends der Wissenschaftsförderung geschmeidig anpassten, um Ressourcen einzuwerben, zahlten dafür den Preis, die eigene wissenschaftlicher Produktion einschränken zu müssen. Die sich an diesen Vortrag entzündende Diskussion kreiste um die Themen Historische Geografie, Lehramtsstudium, Zeitgeschichte und die Konstitution von Räumen.

In der zweiten Sektion, der der Historischen Kommissionen, charakterisierte ULRIKE HÖROLDT (Magdeburg) diese Organisationsform landesgeschichtlicher Arbeit und beschrieb sie als wissenschaftlich arbeitend, out-put-orientiert und auf Netzwerkbildung angelegt. Anhand dieser Merkmale behandelte sie die Frage, ob Historische Kommissionen als Schöpfungen der Zeit um 1900 heute noch zeitgemäß seien. Einen Schwerpunkt der Arbeit heute wie früher erblickte sie in der Quellenpublikation, der sie angesichts der dezentralen Quellenlandschaft in Deutschland erhebliche Bedeutung beimaß. Diese Tätigkeit müsse unbedingt fortgesetzt werden, allerdings unter Ausnutzung der Möglichkeiten, die die neuen Medien bieten, und um die dadurch gestiegenen Erwartungen zu bedienen. Ferner hätten Historische Kommissionen nach wie vor die Aufgabe, historische Aspekte von übergeordneter Bedeutung in landeshistorischer Perspektive zu untersuchen. Und schließlich sollen sie dem Austausch zwischen den Forschern und der Verknüpfung der Forschungen dienen, wozu etwa das Jahrbuch „Sachsen und Anhalt“ mit seinen Berichten wieder vermehrt eine Plattform bieten soll. Die Historische Kommission für Sachsen-Anhalt, als Gründung des Jahres 1876 die älteste Historische Kommission in Deutschland, muss versuchen, diese Anforderungen zu bewältigen, obwohl sie seit 2004 vom Land Sachsen-Anhalt (das im selben Jahr auch den einzigen landesgeschichtlichen Lehrstuhl in Halle gestrichen hatte) nicht mehr institutionell gefördert wird. Aktuelle Projekte, wie die Herausgabe des Bandes 5 des Halberstädter Urkundenbuchs, werden über Projektmittel finanziert.

THOMAS VOGTHERR (Osnabrück) kontrastierte die Verhältnisse in Sachsen-Anhalt mit denen in Niedersachsen. Die Arbeit der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen, 1910 gegründet, wurde deutlich von ihren langjährig wirkenden Vorsitzenden geprägt. Auch wenn, wie für Kommissionen charakteristisch, das Kooptationsprinzip gilt, handelt es sich doch um eine Mitgliederkommission, der 280 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler angehören. Die Arbeitsvorhaben beschließt der gewählte Ausschuss; die Leitung des Vereins liegt bei einem dreiköpfigen Vorstand. Da die Kommission staatliche Aufgaben der Wissenschaftskoordination und -förderung wahrnimmt, wird sie von den Ländern Niedersachsen und Bremen institutionell gefördert. 80 Prozent der Einnahmen verwendet sie auf Publikationen, nur 20 Prozent auf Tagungen, Verwaltung und Personal (eine halbe Stelle), so dass im Schnitt der letzten Jahre sechs bis sieben Bücher erscheinen konnten. Die Veröffentlichungen lassen sich in Quellenpublikationen und Monografien teilen. Langfristige Vorhaben sind das Handbuch der Geschichte Niedersachsens, das Handbuch der niedersächsischen Landtags- und Ständegeschichte, die Publikation der mittelalterlichen Urkundenfonds. Aktuell beschäftigen die Kommission Projekte zur Biografie der niedersächsischen Landtagsabgeordneten in der NS-Zeit (ein Auftrag des Landtages), das eigene Jubiläumsjahr 2010 und die Erforschung der hannoversch-britischen Personalunion 1714-1837. Ein Forschungsplan darüber hinaus existiert nicht, da die Kommission auf ehrenamtliches Engagement rechnen muss und die Vorhaben so durch das Angebot bestimmt werden. Die durch den Vortrag ausgelöste Diskussion thematisierte besonders den Umgang mit Jubiläen gegenwärtiger und historischer Länder.

Die dritte Sektion galt den historischen Vereinen. Als Vorsitzender des Historischen Vereins für Niedersachsen erklärte MANFRED VON BOETTICHER (Hannover) die Grundlagen, auf der dieser Verein seine Aktivitäten entfaltet. Zunächst zwar auf das Königreich Hannover und das Herzogtum Braunschweig bezogen, wählte man bei der Gründung 1835 zur Beschreibung des Bezugsraums doch den Begriff „Niedersachsen“, der in den Phasen der weiteren Entwicklung unterschiedlich konzeptionalisiert wurde. Der Verein verfolgte nicht das Ziel einer Identitätsstiftung für das Fürstentum Calenberg, die Provinz Hannover oder das Land Niedersachsen. Er will weitesten Kreisen geschichtliche Kenntnisse vermitteln, hält sich aus politischen Streitfragen heraus und bietet in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung den Protagonisten sämtlicher Positionen Platz. Wenn die Veröffentlichungen sich auch auf niedersächsische Themen beschränken, so ist der Inhalt der öffentlichen Vorträge weit bunter und reicht bis zur regelmäßigen Vorstellung der Geschichte von Musikinstrumenten. Die Exkursionen führten schon früher mit bis zu drei Bussen auf das Gebiet der DDR; im vergangenen Jahr war Sankt Petersburg das Ziel, im kommenden Jahr geht die Reise nach Siebenbürgen. Von Boetticher betonte die gesellschaftlichen Aspekte dieses mitgliederstarken Vereins (800 Mitglieder), der, wie dargelegt, auf allgemeines historisches Interesse rekurriere.

Das Beispiel eines länderübergreifenden Vereins stellte der Vorsitzende des Harzvereins für Geschichte und Altertumskunde, CHRISTOF RÖMER (Braunschweig), vor. Das Arbeitsgebiet des 1868 gegründeten Harzvereins verteilt sich auf die Bundesländer Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Die Mitglieder engagieren sich in den Arbeitskreisen Archäologie, Montangeschichte, Landesgeschichte (unter Einbeziehung der Stadtgeschichte und Numismatik), Rechtsgeschichte, Kirchen- und Klostergeschichte. Neben 200 persönlichen Mitgliedern zählt der Harzverein 46 fördernde Mitglieder wie Kommunen und Institutionen. Der Verein unterhält eine gut eingeführte Zeitschrift und eine Monografienreihe, die Harzforschungen, in der zuletzt Sammelbände zur Abtei Ilsenburg, zu Rolanden und Stadtgeschichte, zum Kloster Drübeck und – gerade eben – eine Geschichte des Post- und Fernmeldewesens in Wernigerode erschienen sind. Die Ziele des Vereins siedelt Römer im Spannungsfeld zwischen Forschung und Vermittlung an.

Der Vorläufer des Vereins für Anhaltische Landeskunde, den dessen Vorsitzender HERMANN SEEBER (Dessau) dem Publikum näher brachte, war der Verein für anhaltische Geschichte und Altertumskunde von 1875. Als Zweck des Vereins betrachtete man damals, Denkmäler askanischer Herrschaft zu sichern und wissenschaftlich zu bearbeiten. Der VAGA und verschiedene Lokalvereine wurden 1890 im Verein für anhaltische Landeskunde zusammengeführt. Der 1990 nach der DDR-Zeit wieder begründete Verein mit heute 260 Mitgliedern will den Gedanken des Landes Anhalt als historischer und kultureller Einheit bewahren. Die Tradition der Lokalvereine lebt in Regionalgruppen mit je eigenem Vorstand – in Bernburg, Dessau und Köthen – fort. Der Öffentlichkeit präsentiert sich der Verein durch Publikationen wie Sonderbänden zur anhaltischen Geschichte, Kolloquien und Ausstellungen. Er bezieht auch in politischen Auseinandersetzungen, die seinen Tätigkeitsbereich berühren, fachlich begründet Stellung, so in der Diskussion um den Erhalt des Regierungsbezirks Dessau und die Kreisreform in Sachsen-Anhalt. Derzeit bereiteten Vorstand und Mitglieder Veranstaltungen zum 800. Jubiläum der Ersterwähnung des Landes Anhalt im Jahre 2012 vor. Von den Heimatvereinen im Land hebt der Verein für Anhaltische Landeskunde sich durch die wissenschaftlicher Fundierung seiner Aktivitäten ab. Seeber beklagte, dass der Verein trotz vielfältiger Tätigkeit auf dem platten Land wenig bekannt sei.

Der abschließende Vortrag von STEEN BO FRANDSEN (Sönderborg/Hannover) sollte dazu anleiten, die deutsche Landesgeschichte aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Frandsen bemerkte, dass in anderen, eher zentralistischen Staaten der Regionalgeschichte eine subversive Kraft zugemessen werde. Er führte im Folgenden die Situationen in Italien und in Dänemark vor Augen. Italien wurde nach dem Zweiten Weltkrieg in 20 Verwaltungseinheiten gegliedert. Historisch kannte das Land keine Regionen, sondern nur Städte und ihre Rivalitäten (Land der 100 Städte). Regionalgeschichte, die sich auf die genannten Verwaltungseinheiten bezieht, müsse die Geschichte der Städte überwinden. Einen solchen Versuch unternahm die Reihe der Regionalgeschichten aus dem Turiner Verlag Einaudi, die sich, ganz unterschiedlich in Aufbau und Erkenntnisinteresse, um Konstruktion der Regionen bemüht. Im seit dem 17. Jahrhundert zentralistisch regierten Königreich Dänemark gibt es ebenfalls keine Provinzen, an denen sich regionale Identitäten festmachen könnten. Eine Ausnahme bilde allein Sønderjylland (Nordschleswig), wo sich durch die nationalen Auseinandersetzungen seit Mitte des 19. Jahrhunderts besondere Traditionen eines geschichtlichen Bewusstseins herausgebildet haben. Seit 2008 stellt Sønderjylland allerdings keine Verwaltungseinheit im Königreich mehr dar. Frandsen warf auch einen Blick auf das mit Schleswig seit dem Spätmittelalter verbundene Herzogtum Holstein, das in der Schnittmenge zwischen dänischer Monarchie und Römischem Reich lag. Den dortigen Verhältnissen werde man am ehesten im Vergleich mit anderen Regionen, in denen sich unterschiedliche Einflüsse überschnitten, wie zum Beispiel dem Elsass gerecht. Eine wichtige Aufgabe zukünftiger Forschungen sei es, Positionen und Auffassungen, die durch die Nationalisierung des 19. Jahrhunderts geprägt worden seien, zu überwinden.

Die Vorträge fanden in der Aula des Hauses der Wissenschaft bzw. – am Freitag – im Institut für Braunschweigische Regionalgeschichte vor einem interessierten Publikum von 50 bis 60 Zuhörern statt. Die Beiträge sollen publiziert werden. Eine Fortsetzung im kommenden Jahr, die sich mit Archiven, Museen und Denkmalpflegebehörden beschäftigen könnte, erscheint sinnvoll.

Konferenzübersicht:

Abendvortrag
Enno Bünz, Dresden: Landesgeschichte heute. Stand und Perspektiven

Begrüßung
Gerd Biegel

Einführung
Brage Bei der Wieden

1. Sektion: Universitäten
Moderation: Henning Steinführer

Arnd Reitemeier (Universität Göttingen)
Werner Freitag (Universität Münster)

2. Sektion: Historische Kommissionen
Moderation: Horst-Rüdiger Jarck

Ulrike Höroldt (Historische Kommission für Sachsen-Anhalt)
Thomas Vogtherr (Historische Kommission für Niedersachsen und Bremen)

3. Sektion: Historische Vereine
Moderation: Matthias Steinbach

Manfred von Boetticher (Historischer Verein für Niedersachsen)
Christof Römer (Harzverein)
Hermann Seeber (Verein für Anhaltische Landeskunde)

4. Sektion: Blick von außen

Steen Bo Frandsen (Syddansk Universitet i Sønderborg)


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