Mythen und Legenden in der Wissenschaftsgeschichte

Mythen und Legenden in der Wissenschaftsgeschichte

Organisatoren
Dr. Tanja Pommerening; PD Dr. Volker Remmert, Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Ort
Mainz
Land
Deutschland
Vom - Bis
08.10.2009 - 09.10.2009
Url der Konferenzwebsite
Von
Martin Reihl, Institut für Kunstgeschichte, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Gefördert vom Forschungsschwerpunkt Historische Kulturwissenschaften, der seit 2008 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz besteht, fand am 8. und 9. Oktober 2009 im dortigen Institut für Mathematik die von Tanja Pommerening (Institut für Ägyptologie und Altorientalistik) und Volker Remmert (Arbeitsgruppe Geschichte der Mathematik und der Naturwissenschaften) organisierte Tagung „Mythen und Legenden in der Wissenschaftsgeschichte“ statt. Wie die beiden Veranstalter in ihrer Einführung vermittelten, haben sich unter dem Dach des Forschungsschwerpunkts Wissenschaftler unterschiedlichster geistes- und kulturwissenschaftlicher Disziplinen zusammengefunden, um unter anderem das übergeordnete Thema „Sinnkonstruktionen als Kulturelle Praxis: Historische Perspektiven“ zu erforschen. Bewusst war die Tagung als Arbeitsgespräch deklariert und konzipiert, um zunächst in einem kleinen Rahmen, der viel Diskussionsspielraum bot, die Themen für ein langfristig angelegtes Forschungsprojekt zu „Sinnbildungsstrategien und -mechanismen als globale und unverzichtbare Paratexte der Naturwissenschaften in der Frühen Neuzeit“ ausloten zu können. Die Tagung widmete sich vor allem den Geltungsgeschichten und Gründungsmythen der sich in der Frühen Neuzeit etablierenden Naturwissenschaften, der Generierung und Entwicklung der herangezogenen Mythen und Legenden seit der Antike und nicht zuletzt der traditionsverhafteten Argumentationsweise naturwissenschaftlicher Fächer.

Auf der Medizin- und Pharmaziegeschichte von der Antike bis zur Frühen Neuzeit lag das Hauptaugenmerk der Tagung, was besonders geeignet war, denn durch die großen Gestalten des Hippokrates und Galen lassen sich verschiedene Phänomene beispielhaft untersuchen. Die eingeladenen Referenten aus den Gebieten der Geschichte, Altphilologie, Medizin- und Pharmaziehistorie und Germanistik ergänzten sich in den jeweiligen Diskussionen hervorragend.

Gerade der griechische sowie der römische Arzt sollten immer wieder in Vorträgen und Diskussionsrunden zu Vergleichen und Bezugspunkten werden. JOCHEN ALTHOFF (Mainz) widmete sich dem Corpus Hippokraticum, welches ein Konvolut aus 24 Briefen, zwei Reden und einem Dekret darstellt. Anhand eines Briefwechsels zwischen Demokrit und Hippokrates könne der Leser den Wandel des Arztes nachvollziehen: dieser lernt die „neue Therapie“ des Geistes (Psychotherapie) von dem Philosophen, der hier nicht als Atomist, sondern als Mahner erscheint. Bewusst würden die beiden Personen instrumentalisiert. Demokrit benutze eine „neue psychosomatische“ Sprache in seiner Überzeugungsrede, um die Seelenheilung zu vermitteln, und Hippokrates nehme die Anregungen in die somatische Therapie auf. Es werde deutlich, dass Hippokrates nur aufgrund dieser „Weiterbildung“ philosophische Weihen erhält und damit zu einem „vollkommenen Arzt“ avanciert. Reflexionen des Corpus sind sowohl in den Kommentaren Galens als auch bei Soran wahrnehmbar. Die Anthropologie Ernst Platners beschäftige sich wieder stärker mit der Polarität Soma und Psyche und greife dabei den Arzt als Philosophen erneut auf. Die letzte Frage der Diskussionsrunde nach dem Genre und nach dem Publikum dieser Schrift ist, so Althoff, nicht eindeutig geklärt. Die vielen Moral- und Tugendlehren, allerdings wenig pharmakologische Ratschläge oder konkrete Ansichten zu Epikureismus oder Stoizismus lassen die Briefsammlung als populärphilosophische Schrift erscheinen.

Diesen Impuls nahm KARL-HEINZ LEVEN (Erlangen) in seinem Vortrag über Galen als philosophierenden Arzt vertiefend auf. Anders als bei Hippokrates existiere von Galen viel Schriftgut, welches über lange Zeit hinweg immer wieder rezipiert wurde. Daraufhin charakterisierte der Referent den Galenismus und setzte diesen mit der Medizingeschichte bis in die Neuzeit gleich. Auch wenn Galen immer wieder die Priorisierung des griechischen Arztes unter Umgehung der hellenistischen Nachfolger herausstellte und durch sich die „Vollendung der hippokratischen Medizin“ erreicht sah, so nannte er sich, wie Leven auf die Nachfrage von Wolkenhauer erklärte, nie „alter Hippokrates“. Diokles von Karystos habe nämlich diesen Titel bereits eingenommen gehabt. Nachdem die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den beiden Größen der antiken Medizin herausgearbeitet wurden, konnte festgestellt werden, dass das Idealbild des Hippokrates durch Galen gefestigt wurde. Während es in der Zeit vor der Renaissance kaum Kritik gab, verbreitete sich im 16. Jahrhundert unter anderem durch Paracelsus eine Gegenbewegung zum Galenismus, die aber nicht Hippokrates erfasste. Während der Grieche nicht zuletzt durch seinen Eid als Ideal bestehen konnte, brach das medizinische System Galens durch die Entdeckung des Blutkreislaufs zusammen. Am Ende der Betrachtung des Mythos Galen fiel der Diskussionsrunde wieder die Verbindung zwischen Arzt und Philosoph auf: Welche Motivation für diese Synthese kann es geben? Der Philosoph vereinte sowohl die Naturphilosophie als auch die Ethik (daher verwundere es nicht, so die Anmerkung Althoffs, dass Hippokrates mit Demokrit sprach) in sich. Komme zu dieser Kombination auch noch das medizinische Wissen hinzu, könne der Mensch fast einen „gottgleichen Zug“ annehmen. Die Vereinigung von Philosoph und Arzt bedeute also eine „Adelung“ der Person und ein enormes Wachstum an eigener Autorität. Hier finden sich Spuren einer motivischen Kontinuität, die sich bis zu Galileo Galilei zieht.

Eine ähnliche Struktur in der geistigen Entwicklung des Menschen demonstrierte PETER DILG (Marburg) bei seiner Betrachtung der Titelkupfer und einleitenden Texte von Herbarien. Bemerkenswert war in diesem Zusammenhang die Darstellung von vier mythologischen Königen, deren Namen alle auf Pflanzen übergegangen sind. Sie zeigten die Pflanzenkunde als eine der ältesten und angesehensten Wissenschaften. Eine Beschäftigung mit den Gewächsen und der daraus entstandenen Pharmakologie sei nützlich, da man andere und sich so vor Unheil schützen könne. Ein König, so Dilg, sollte nach frühneuzeitlichem Verständnis auch ein guter Botaniker sein. Hier wiederum, so bestätigten die anderen Referenten, ließe sich eine Parallele sehen bei der Entwicklung des Arztes zum Philosophen. Der Mensch müsse sich stetig mit nicht primären Bereichen seiner Tätigkeit auseinandersetzen, um die Hauptaufgabe dann noch besser ausführen zukönnen.

Einen Blick auf die griechischen Gründerfiguren der Medizin in der islamischen Welt warf RAINER BRÖMER (Mainz). Während im Westen durch diese Gestalten Kontinuität und Gemeinsamkeiten demonstriert würden, komme die nahöstliche Welt nahezu ohne diese Legenden aus. So ergebe sich aus der Quellenarbeit nach Brömer „leider“ ein negativer Befund, da bei nahezu allen Transcriptionen von arabischen Schriften die religiösen Formeln oder nicht eindeutig zum Thema passenden Umschreibungen getilgt worden seien. Eine generelle Verbannung der Philosophie aus diesen Schriften sei aber nicht nachweisbar. Gründerfiguren im weiteren Sinne waren Aristoteles als Erzieher Alexanders des Großen und Dioskurides wegen seines pharmakologischen Werkes. Gerade in der Medizin, so merkte Leven an, sei es interessant zu sehen, dass die anatomischen Zeichnungen Bezug auf Galen nahmen, die Texte aber nicht auf ihn zurückgriffen.

Am Beispiel der Medizingeschichte und der Erforschung des menschlichen Körpers stellte SIMONE DE ANGELIS (Bern) die Frage nach dem Mythos der „Autoritätenkritik“ und den Strategien zur Wissenslegitimation. Während in vergangenen Jahrhunderten die Mediziner ihre Autorität vor allem durch Selbstinszenierung erreichten, ging man ab dem 16. Jahrhundert immer mehr dazu über auch selbst zu sezieren, statt lediglich Bücher zu lesen. Durch eigene Experimente wollten die Ärzte die Erkenntnisse der früheren Mediziner bestätigt wissen, so de Angelis. Die frühneuzeitliche Interpretation des Gelesenen gestaltete sich als ein lebendiger und aktiver Prozess, der eine Übertragung vom Gerichtswesen auf die Wissenschaften beinhaltete: die eigene Autopsie und die Beglaubigung von Tatsachen durch Zeugen. Die Autoritäten stellten die Meinung eines Gelehrten auf seinem Forschungsgebiet dar, welches sie durch ihre Aufrichtigkeit und Kompetenz als Zeugen vertreten konnten. Das Vertrauen der Umwelt stand einer Kritik dennoch nicht im Weg. Dieses System führte sich auf das antike Verständnis von Forschung beziehungsweise Wissensgenerierung, welches als Synthese aus Visus und Tactus gedacht wurde, zurück. Zeugenaussagen seien also durchaus als Kriterium der Evidenz neben Empirismus oder Sensualismus zu werten. Dies sei auch noch in der Bezeichnung „Historia“ zu erkennen, auf deren etymologische Wurzel „vis“ sich auch „visus, vedere“ zurückführen lässt. Die Altphilologen merkten an, dass bereits Aristoteles, der den Titel „Historia“ einführte, die doxographische Methode anwendete, indem er nicht nur Fakten, sondern auch Meinungen der Weisen des Gebietes über ein Thema sammelte und vorstellte. Plinius begründete die Traditionslinie von „Historia“ als Textgattung oder Gattungsmarker.

Zwar nicht verwunderlich, aber dennoch bemerkenswert war die „Zweigleisigkeit“ der Traditionsherleitung, deren sich manche Disziplinen bedienen. Auf der einen Seite gebe es aus der Bibel entlehnte Modelle und Figuren, auf der anderen Seite stünden antike Gestalten und Vorstellungen. Beide Gedankenkonstruktionen nähmen in der Legitimation gleichberechtigt ihren Platz ein. Gleich in der Einleitung führte VOLKER REMMERT (Mainz) diese beiden Möglichkeiten dem Publikum am Beispiel der Astronomie vor Augen. Die Bibel habe der Astronomie die Verse, dass Abrahams Nachkommen so zahlreich sein werden, wie die Sterne am Himmelszelt, als Gründungsformel geliefert. Die Griechen hingegen gaben mit der Fabel um den gewitzten Helden Herkules und den Riesen Atlas, der das Himmelsgewölbe auf seinen Schultern trägt, eine Vorlage zur gelehrsamen Erforschung und Tradierung der Sternenkunde. Als ein weiteres Wissensgebiet, welches sich beider Traditionsstränge bedient, stellte Peter Dilg die Pharmakologie vor. Bei den jeweiligen Frontispices liefen zwei Bildprogramme zeitlich und inhaltlich konform: Einerseits beinhalte das Programm die christlichen Gestalten, wie beispielsweise Adam mit der Schaufel als erster Gärtner oder der weise König Salomon als Botaniker, andererseits die antiken Mythologien, die von den Götter Apollo, Aeskulap und Hermes Trismegistos handeln. Dieses „Personal“ wurde gebraucht, um den Ursprung der Kräuter als göttlich zu kennzeichnen.

Auch in der Sprache, so machte ANJA WOLKENHAUER (Hamburg) deutlich, äußerte sich der Übergang von der paganen antiken Zeit zur frühchristlichen Spätantike. Sie nahm die Metapher als kleinste Form des Mythos wahr und untersuchte diese Thematik unter altphilologischen Aspekten. Die Auszeichnung durch zusätzliche namentliche Benennung einer weiteren Person stelle eine genealogische Verbindung her, die vor allem auf der magischen Kraft des Namens im Abendland beruhe. Hierbei unterschied sie zwei „Arten“ dieser Namensverhältnisse. Die erste Methode sei die sakral geprägte Typologie, die beinhalte, dass das erste Element sein muss, aber durch das darauffolgende ausgefüllt oder vervollkommnet wird. Eine Hierarchie entsteht. Die zweite Methode einer Metapher sei die römische „alter“-Formel, die profan sei und eine explizite Historizität konstatiere. Den Römern sei bewusst gewesen, dass es innerhalb der Wissenschaftsgeschichte immer einen Gründer und einen Vollender des Faches gebe. Daher, so die Referentin, fand hier die Entwicklung der Metapher als „alter“-Formel statt. Während das lateinische „alter“ immer den anderen bei genau zwei Akteuren bezeichne und somit einen bestimmten meine, sei „alius“ verwendet worden, wenn es um zwei oder mehr Personen innerhalb der umfassten Gruppe ging. Diese Formel markiere die exklusive Stelle und die Beziehung zwischen zwei Akteuren innerhalb des gleichen Betätigungsfeldes explizit. Erst später führte der Kirchenvater Hieronymus die Vorstellung ein, dass ein Vater durch ideelle Verbindung mehrere Erben haben konnte.

Eher staatsphilosophische statt medizinhistorische Gründermythen beleuchtete CASPAR HIRSCHI (Cambridge) in seinem Vortrag, der die Verbindung zwischen dem antiken orator doctus und dem homme de lettres darlegte. Er untersuchte, wie Gelehrte der Académie Française versuchten, sich durch dieses definiert gelehrte Rollenideal politische Autorität zu konstruieren. Als Ideal schwebte dem aufgeklärten Redner Guillaume-Chrétien de Malesherbes bei seiner Rede 1775 Cicero vor, der als Erschaffer des Typus des orator doctus galt. Besonders die sprachliche Verbindung von Kenntnissen und Überzeugungskraft zeichneten Cicero aus und ließen ihn als Vorbild wirksam werden. Der römische Schriftsteller machte seinen Anhängern das Versprechen, dass Bildung sowohl Herrschaftswissen bedeute als auch zur individuellen Vervollkommnung beitrage. Erst die italienischen Humanisten in den Stadtrepubliken differenzierten sich hier in eine Funktionselite und in eine spirituelle Autorität weiter aus. Da sie aber im Renaissancestaat keine Entscheidungen trafen, sondern Funktionen erfüllten, verlegten sie ihren Wirkungsbereich in die Literatur, wo sie eine ideale Realität („res publica literaria“) konstruierten. Da es auch im ancient régime keinen wesentlichen Strukturwandel gab und staatliche Pensionen immer noch sicherer waren als private Mäzene, hielten sich die hommes de lettres als Repräsentanten der Öffentlichkeit mit Kritik am Staat bedeckt. Hirschi schloss daraus, dass sie das von Cicero erhaltene platonische Erbe der „Philosophenherrschaft“ nicht antreten konnten. Neben diesem berühmten Redner wurden auch weitere Personen in verschiedenen Situationen instrumentalisiert: so spielte Seneca eine bedeutende Rolle, wenn es darum ging, die Patronage durch Despoten zu rechtfertigen (wie dies Katharina II. mit Diderot pflegte). In Sokrates finden sich die moralischen Autoritäten wieder, die durch die Öffentlichkeit verfolgt wurden. Interessanterweise lebte dieser Verfolgungstopos nach der großen Zensurepoche auf und richtete sich vornehmlich gegen die gelehrten Gegner, wie Hirschi darlegte.

Gerade durch die kleine Gruppe war ein intensives und fruchtbringendes Gespräch möglich. Neben dem weiten Feld der Medizingeschichte wurden auch die Pfade anderer Disziplinen beschritten und deren Rückführung auf Gründerfiguren untersucht. Es zeigte sich, welche vielseitige Rolle solche Gestalten einnehmen und dass es sich durchaus lohnt hier weiter im Rahmen des Sinnbildungsstrategienprojekts zu forschen. Der Schwerpunkt in der Frühen Neuzeit erwies sich als sinntragend und vor allem einer Vertiefung wert, um so den Bruch, der sich im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts ereignete, herauszustellen. Besonders die Vorträge von de Angelis und Hirschi zeigten den Facettenreichtum der Frage nach traditionsbildenden Mythen und Gründerfiguren, die es sich in weiteren Projekten, die nicht unmittelbar naturwissenschaftshistorisch sein müssen, lohnt zu beleuchten.

Konferenzübersicht:

Tanja Pommerening/ Volker Remmert:
Begrüßung und Einführung in die Thematik

Jochen Althoff (Mainz):
Das Bild des Arztes Hippokrates im pseudohippokratischen Briefroman

Anja Wolkenhauer (Hamburg):
Ein zweiter Aristoteles, ein neuer Archimedes...: Über die typologische Benennung von Wissenschaftlern

Rainer Brömer (Mainz):
Griechische Gründerfiguren in der arabisch- islamischen Medizin: Last und Legitimation

Peter Dilg (Marburg):
Mythisches in und auf frühneuzeitlichen Arznei- und Kräuterbüchern

Caspar Hirschi (Cambridge):
Mythen gelehrter Machtausübung zwischen Humanismus und Aufklärung: vom orator doctus zum homme de lettres?

Karl- Heinz Leven (Erlangen):
Galen – „unter den Ärzten der erste, unter den philosophischen Ärzten einzig“

Simone de Angelis (Bern):
Der Mythos der „Autoritätenkritik“. Strategien der Wissenslegitimierung in medizinischen Texten des 16. und 17. Jahrhunderts