Gesellschaftliche Randgruppen in Ost- und Mitteleuropa seit dem Mittelalter. Wissenschaftliche Nachwuchstagung des Instituts für Germanistik und des Historischen Instituts der Adam-Mickiewicz Universität Poznań und des Herder-Institutes Marburg

Gesellschaftliche Randgruppen in Ost- und Mitteleuropa seit dem Mittelalter. Wissenschaftliche Nachwuchstagung des Instituts für Germanistik und des Historischen Instituts der Adam-Mickiewicz Universität Poznań und des Herder-Institutes Marburg

Organisatoren
Historisches Institut / Institut für Germanistik, Adam-Mickiewicz Universität Poznań; Herder-Institut e.V. Marburg;
Ort
Poznań
Land
Poland
Vom - Bis
04.11.2009 - 06.11.2009
Url der Konferenzwebsite
Von
Katarzyna Woniak, Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte, Universität Augsburg / Historisches Seminar, Adam Mickiewicz Universität, Poznań

Mit dem Begriff Randgruppen werden meistens Gruppen definiert, die aufgrund von sozialen, religiösen, ethnischen oder politischen Bestimmungen am Rande einer Gesellschaft leben müssen.1 Ihr gemeinsames Merkmal ist die eingeschränkte bzw. ganz fehlende reale Teilname am Leben der Mehrheit. Darüber hinaus wird die Identität ihrer Angehörigen meistens infolge einer Ausgrenzung ‚wir‘ und ‚sie‘ sowie im Vollzug der Inklusions- und Exklusionsprozesse bestimmt. Diese unterschiedlichen Ausgangspositionen lassen Schwierigkeiten im Zusammenleben der ‚benachteiligten Gruppen‘ und der Mehrheitsbevölkerung innerhalb einer Gesellschaft vermuten. Doch wie gehen diese Gruppen miteinander um? Wie wirkt sich das Verhältnis zwischen der Randgruppe, die auch als eine Minderheit verstanden werden kann, und der quantitativen Mehrheit auf die bilateralen Beziehungen aus? Was bringt schließlich die Erforschung des Randes und der Mitte für die longue durée? Mit diesen und anderen Leitfragen beschäftigten sich die Teilnehmer/innen der Internationalen Nachwuchstagung in Poznań. Es wurden insgesamt 15 Dissertationsprojekte zu Ostmitteleuropa vorgestellt. Die Interdisziplinarität der Beiträge sowie die Vielfalt an Ansätzen ermöglichten nicht nur eine fruchtbare und facettenreiche Diskussion, sondern schufen auch eine breite Basis zum wissenschaftlichen Austausch.

Die Tagung eröffnete HEIDI HEIN-KIRCHER (Herder Institut Marburg) mit dem Vortrag „Historische Parallelgesellschaften. Überlegungen zur Praktikabilität eines soziologischen Begriffes in der Historiographie“. Der Begriff werde von Medien ohne spezielle Konzeptualisierung geprägt. Die Voraussetzung für die Parallelgesellschaft seien die kulturellen Differenzen und dadurch werde der Terminus immer häufiger in der kulturhistorischen Forschung angewandt. Die Referentin erläuterte auch, worauf die Kritik an dem Begriff basiert und nannte abschließend einige Beispiele für die Anwendung des Begriffes „Parallelgesellschaft“ in der Historiographie. Die an den Vortrag anschließende rege Diskussion konzentrierte sich auf die mediale Seite des Begriffes sowie auf seine negative Konnotation. Zum Schluss stellten Diskutanten fest, man könne oft nicht von einer Gruppe als Parallelgesellschaft sprechen, sondern von parallelgesellschaftlichen Erscheinungen.

Die erste Sektion – moderiert von Krzysztof Makowski (Adam-Mickiewicz Universität Poznań) – beschäftigte sich mit der Zuschreibung zu einer Randgruppe über die ‚Sprache und Religion‘. SAMUEL FEINNAUER (Universität Stuttgart) verdeutlichte am Beispiel des Thorner Blutgerichts und der Protestanten und Katholiken in Thorn die Komplexität des Verhältnisses zwischen Mehrheit und Minderheit. Diese Problematik werde noch vielschichtiger, weil es sich in Thorn um 1724 nicht um eine quantitative, sondern um eine ‚qualitative Minderheit’ gehandelt habe. Dabei ging es Feinnauer um die abwechselnde Verteilung der Macht und des Einflusses in Bereichen der Stadtpolitik und Religion. Denn die Minderheit an sich, genauso wie die Zugehörigkeit zu ihr, sei nicht konstant. „Das Empfinden, Mehrheit oder Minderheit zu sein, kann sich – wie in Thorn – sehr schnell wandeln durch innere oder massive äußere Faktoren“, so Feinnauer.

Der Rolle der Sprache und Religion für die Konstituierung einer Randgruppe widmete sich PATRICK BLUM (National University of Ireland Maynooth). Im Zentrum der Studie Blums stand die „unbemerkte Minderheit“, also die deutschen Katholiken im Kreis Złotów (deutsch: Flatow) in der Zeit bis und nach 1945. Die Problematik der ethnischen Identifikation in einer Grenzregion behandelte SANDRA KREISSLOVÁ (Prag). Das heutige tschechische Gebiet Chomutov/Komotau sei durch die deutsche Bevölkerung geprägt worden. Nicht alle von ihnen verließen es im Zuge der Bevölkerungsverschiebungen nach 1945. Kreisslová untersucht mit Hilfe von biographischen Interviews die dort noch heute lebenden deutschsprachigen Einwohner, die zur Randgruppe wurden. Zum Problem werde nicht nur ihre Identität und deren Konstruktion, sondern auch die Übertragung des ethnischen Bewusstseins zwischen den drei Generationen. Daran anschließend sucht Kreisslová den Zusammenhang zwischen kollektivem Gedächtnis und kollektiver Identität. Ethnizität könne als möglicher Ausdruck der kollektiven Identität definiert werden.

Die Sektion ‚Inklusion und Exklusion als Mittel zur Identitätsbildung‘ unter Leitung von Heidi Hein-Kircher eröffnete DIRK SUCKOW (Universität Tier) mit einer Analyse der ‚Zigeunerbilder’ im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit. Anhand von künstlerischen Zigeunerdarstellungen schilderte Suckow den Prozess der Entstehung eines negativen Bildes von Zigeunern im kollektiven Gedächtnis der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen europäischen Gesellschaften. Die häufigen Motive der Bilder, wie das Handlesen oder etwa der Zigeunerzug, ließen Aufschlüsse sowohl über die soziale Wirklichkeit der Zigeuner als auch über die Stellung der Frauen in dieser Gruppe zu. Dem Prozess der Imagination von Weiblichkeit im Orient und in Osteuropa widmete sich anschließend KATRIN FREESE (Carl von Ossietzky Universität Oldenburg). Am Beispiel von Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts versuchte Freese durch die Analyse der Wahrnehmung von ‚fremden’ Frauen den Identitätsbildungsprozess in deutscher Gesellschaft des 19. Jahrhunderts nachzugehen.

Mit Praktiken von Inklusion und Exklusion beschäftigte sich auch der Beitrag von CHRISTHARDT HENSCHEL (Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur, Universität Leipzig), der aufgrund der Erkrankung des Referenten in Textform vorgelegt wurde. Im Mittelpunkt seines Referates standen einerseits die Stellung der Minderheiten in der polnischen Nationalarmee und anderseits die Frage nach den Loyalitäten zu den fremden Streitkräften in der Zwischenkriegszeit. Die Problematik der Identitätsbestimmung in einer ethnischen Randgruppe zeigte sich als Anliegen des Projekts von AGATA KOCHANOWSKA (Adam-Mickiewicz Universität Poznań). Am Beispiel von zwei Filmen präsentierte sie das ‚Kanakenleben’, also die Integrationsschwierigkeiten der türkischen Bevölkerung in zeitgenössischen Deutschland. In einer Identitätsperspektive verdeutlichte KATHARINA TYRAN (Humboldt Universität zu Berlin) die Schwierigkeiten der burgenländischen Kroaten bei der Selbstwahrnehmung einer Minderheit, die im Zuge der häufigen Grenzziehungen in Teilen Österreichs, Ungarns und der Slowakei lebt.

Den ‚Mechanismen von Inklusion und Exklusion‘ der Randgruppe wurde die dritte Sektion gewidmet, moderiert von Anna Kochanowska-Nieborak (Adam-Mickiewicz Universität Poznań). Die ersten zwei Beiträge von MACIEJ MOSZYŃSKI (Zentrum für Antisemitismus Forschung Berlin / Adam-Mickiewicz Universität Poznań) und AGNIESZKA WIERZCHOLSKA (Berlin) konzentrierten sich auf das Verhältnis zwischen Juden und Polen. Während Moszyński seine Aufmerksamkeit dem Beginn und der Entwicklung antisemitischer Denkweisen in Kongresspolen schenkte, verwies Wierzcholska auf die Komplexität der polnisch-jüdischen Beziehung in der Stadt Tarnów im Zeitraum 1918-1965.

Mit ihrem erinnerungskulturellen Ansatz schilderte KATARZYNA WONIAK (Universität Augsburg / Adam-Mickiewicz Universität Poznań) die vielschichtigen und politisch motivierten Praktiken Polens beim Umgang mit der nichtpolnischen Vergangenheit der ethnischen Minderheiten in polnischen Kleinstädten im Zeitraum 1945 - 2007. MARIUSZ FILIPs (Adam-Mickiewicz Universität in Poznań) Vortrag über die slowinzische Minderheit beschloss den zweiten Tag des Symposiums. Filip ging der Frage nach, welche Faktoren für den Randstatus der Slowinzen, einer Gruppe mit slawischer Herkunft unter deutscher und nach 1945 polnischer Mehrheit, von Bedeutung waren.

Der Direktor des Historischen Institutes der Universität Poznań Kazimierz Ilski (Adam-Mickiewicz Universität Poznań) moderierte die vierte Sektion: ‚Soziale und politische Exklusion von Randgruppen‘. In einem gemeinsamen Referat beschäftigten JULIA DÜCKER (Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg) und JULIA ITIN (Karl Jaspers Centre for Advanced Transcultural Studies Heidelberg) sich mit der Erinnerung an das ‚einträchtige’ Verhältnis zwischen der jüdischen Minderheit und dem König in Polen und Ungarn. Im Mittelpunkt ihrer Analyse stand die Tradition der „besonderen rechtlichen Verbundenheit“ im ausgehenden Mittelalter. STEPHAN STACH (Universität Leipzig) konzentrierte sich in seiner Studie auf die Staatsbürgerschaftskonzeptionen von Ukrainern und Juden in der Zweiten Polnischen Republik. Am Beispiel zweier wissenschaftlicher Einrichtungen der beiden Minderheiten analysierte Stach die Relation zwischen Ethnizität und Religion in einem modernen Nationalstaat.

Dass der Rand der Gesellschaft immer vom Zentrum bestimmt wird, zeigte JOACHIM KRAUSS (Berlin) in seiner Fallstudie zur Stellung der Roma in Rumänien im Zeitraum von 1944/45 - 1995. Kern seines Forschungsvorhabens war die Frage nach den prägenden Kräften der negativ konnotierten ‚Zigeunerbilder’ in einer Mehrheitsbevölkerung.

Die Tagung schloss die Diskussion zum rechtlichen Status einer Minderheit bzw. Randgruppe ab. Die Diskutanten konzentrierten sich auf das Verhältnis zwischen Mehrheit und Minderheit in einer Gesellschaft sowie zwischen Zentrum und Peripherie. Daraus ergaben sich zahlreiche offene Fragen, die auch im die Tagung abschließenden Spaziergang durch die schöne Stadt Poznań nicht vollständig ausdiskutiert werden konnten. Doch die Teilnehmer/innen konnten auf jeden Fall um theoretische und methodische Zugänge bereichert werden. Ein wichtiger Punkt der Tagung war letztendlich die Möglichkeit zur Präsentation und Diskussion eigener Forschungsvorhaben im internationalen und interdisziplinären Kreis.

Konferenzübersicht:

Eröffnungsvortrag
Heidi Hein-Kircher (Marburg): Historische Parallelgesellschaften. Überlegungen zur Praktikabilität eines soziologischen Begriffes in der Historiographie.

Sektion I: Sprache und Religion als Ausgrenzungsmerkmal

Samuel Feinnauer (Stuttgart): „Qualitative Randgruppen“: Protestanten und Katholiken in Thorn im Kontext des „Thorner Blutgerichts“ von 1724

Patrick Blum (Maynooth): Language and Religion in Powiat Złotów: German Catholics as a New Marginal Group

Sandra Kreisslová (Prag): Zur Problematik der ethnischen Identifikation der deutschen Minderheit im Gebiet Chomutov/Komotau

Sektion II: Inklusion und Exklusion als Mittel zur Identitätsbildung

Dirk Suckow (Tier): Repräsentation – Inklusion – Exklusion ,Zigeunerbilder’ in Spätmittelalter und Früher Neuzeit

Katrin Freese (Oldenburg): Zur Imagination von Weiblichkeit im Orient und in Osteuropa in ausgesuchter deutschsprachiger Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts

Christhardt Henschel (Leipzig): Zwischen Staat und Nation. Minderheiten in den polnischen Streitkräften 1918-1939

Agata Kochanowska (Poznań): Das Kanakenleben am Rande der Gesellschaft. Feridun Zaimoglu und Fatih Akin über die größte Minderheit auf deutschem Boden

Katharina Tyran (Berlin): Gewünschte Homogenität versus gelebte Heterogenität – zum Selbstverständnis der burgenländischen Kroaten jenseits der Grenzen

Sektion 3: Mechanismen von Inklusion und Exklusion

Maciej Moszyński (Berlin/Poznań), Antisemitismus in Kongresspolen. Genese und Formierung einer modernen antijüdischen Ideologie (1864-1914)

Agnieszka Wierzcholska (Berlin): Die Beziehungen zwischen Juden und Nicht-Juden in Polen von den 1930er bis in die 1950er Jahre – eine Mikrogeschichte im Raum Lublin

Katarzyna Woniak (Augsburg/Poznań): Verdrängen und Wiederentdecken. Die Erinnerungskultur in den polnischen Kleinstädten Labes, Flatow und Czarnikau 1945-2008

Mariusz Filip (Poznań): Kontinuität durch Wandel? Sozialpolitischer Status der sogenannten Slowinzen (Lebakaschuben) in der Geschichte

Sektion 4: Soziale und politische Exklusion von Randgruppen

Julia Dücker (Heidelberg), Julia Itin (Heidelberg): Po-lin (Hier sollst Du ausruhen) – Zum „einträchtigen Verhältnis“ von König und Juden im ausgehenden Mittelalter

Stephan Stach (Leipzig): Staatsbürgerschaftskonzepte ethnoreligiöser Minderheiten in der Zweiten Polnischen Republik

Joachim Krauss (Berlin): Roma als osteuropäische „Underclass“? Sozialer Wandel in Romagemeinschaften in Nordsiebenbürgen/Rumänien im Umbruch von der staatsozialistischen zur postsozialistischen Periode.

Anmerkung:
1 Rainer Geißler / Sonja Weber-Menges, Minderheiten/Randgruppen, in: Sina Farzin / Stefan Jordan (Hrsg.), Lexikon Soziologie und Sozialtheorie. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart 2008, S. 192-194.