Polen und seine Nachbarn, 1919 bis 2009. Interdisziplinäre Sommerschule des Deutschen Polen-Instituts

Polen und seine Nachbarn, 1919 bis 2009. Interdisziplinäre Sommerschule des Deutschen Polen-Instituts

Organisatoren
Deutsches Polen-Institut
Ort
Darmstadt
Land
Deutschland
Vom - Bis
04.09.2009 - 13.09.2009
Url der Konferenzwebsite
Von
Yaman Kouli, Graduiertenkolleg "Archiv-Macht-Wissen" / Bielefeld Graduate School of History and Sociology, Universität Bielefeld

Es gehört zu den wichtigsten Zielen des „Deutschen Polen-Instituts“ in Darmstadt, junge Wissenschaftler zusammen zu bringen, die sich mit polnischen oder deutsch-polnischen Themen beschäftigen. Aus diesem Grund wurde auch dieses Jahr wieder eine „Interdisziplinäre Sommerschule“ des DPI abgehalten. Vom 4. bis zum 13. September 2009 beschäftigten sich junge Wissenschaftler in diesem Rahmen mit dem Thema „Polen und seine Nachbarn, 1919 bis 2009“. Organisiert wurde die Veranstaltung durch Dieter Bingen, Peter Oliver Loew und Manfred Mack.

Die Sommerschule begann mit dem Thementag „Geschichte bis 1989“, den Claudia Kraft (Erfurt) moderierte. Vor dem Hintergrund des Themas „Grenze“ wurde das schwierige Verhältnis Polens zu seinen Nachbarn besprochen. Hier wurde nicht nur Deutschland thematisiert, sondern auch Weißrussland, die Ukraine und die Tschechische Republik. Ausgangspunkt war die scheinbar banale Frage, was „Nachbarschaft“ bedeutet. In der Debatte wurde der Ansatz Max Webers, der Nachbarschaft stark auf die lokale Nähe beschränkt, überwunden zugunsten des Ansatzes von Arjun Appadurai, der Nachbarschaft vor allem als „virtuell“ qualifiziert und das Potential zur sozialen Reproduktion voraussetzt. Dies spiegelte sich auch in den vorgestellten Projekten wieder. So möchte die Politologin ANNA KOSTRZEWA (Olsztyn/Allenstein) die Vertreibung der Deutschen aus dem Ermland und den Masuren neu untersuchen. Für den Laien vielleicht überraschend, zeichnen sich die bisherigen Publikationen zu diesem Thema in zahlreichen Fällen durch eine dünne Quellenbasis aus, was Kostrzewa in ihrer Publikation überwinden will. CHRISTOPH TREDER (Regensburg) möchte sich hingegen mit dem Vertreibungsdiskurs in Deutschland und Polen auseinandersetzen. Seine bisherigen Ergebnisse lassen darauf schließen, dass dieser Teil der deutsch-polnischen Geschichte auf beiden Seiten weiterhin als „handfestes Argument“ genutzt wird und sich so Argumentationsmuster aus der Zeit des Kalten Krieges wieder finden. JONAS GRYGIER (Greifswald) verfolgt in seinem Magisterarbeitsprojekt das Ziel, anhand von Verwaltungsakten in einer Fallstudie die Politik der Polnischen Republik der Zwischenkriegszeit gegenüber der deutschen Minderheit genauer zu analysieren. Auf dieser Ebene lasse sich das gegenseitige Misstrauen beider Nationen gut herausarbeiten. Genau jenes Misstrauen will MAŁGORZATA ZAJONZ (Heidelberg), am Beispiel des Kniefalls Willy Brandts vor dem Ehrendenkmal zum Aufstand im Warschauer Ghetto untersuchen. So habe diese Geste zwar international zum positiven Ansehen Brandts beigetragen, in Polen selbst jedoch blieb ein latentes Misstrauen bestehen, welches diese Geste mindern, aber nicht tilgen konnte.

Die unter dem Titel „Geographie“ stehende Session wurde vom Wirtschaftsgeographen TOMASZ KOMORNICKI (Warschau) geleitet. In einem fundierten Vortrag stellte er zahlreiche empirische Regionalstudien zu Polen vor und vermittelte so einen Eindruck zur Arbeitsweise von Wirtschaftsgeographen. So war er mit seinem statistischen Material in der Lage, den Grad der Vernetzung, den Entwicklungsgrad der Infrastruktur, sowie den Ausbildungsgrad der Bevölkerung in verschiedenen Regionen und zahlreiche Informationen mehr aus diesen Daten abzuleiten – Informationen, die sich nachhaltig auf die Wirtschaftspolitik auswirken. Das Vortragsquartett eröffnete YAMAN KOULI (Bielefeld) mit einem Vortrag zur wirtschaftlichen Entwicklung Niederschlesiens 1936 bis 1956, jenem Zeitraum, in dem Niederschlesien durch die Westverschiebung Polens gewissermaßen die „Nationalität“ gewechselt hatte. Ziel ist es, die in der Rückschau wenig zufrieden stellende wirtschaftliche Entwicklung Niederschlesiens aus einer neuen Perspektive zu beleuchten. Anschließend stellte ERIK SCHILLER (Frankfurt am Main) sein Projekt vor, in welchem er die unter Gerhard Schröder und Wladimir Putin initiierte Ostsee-Pipeline untersucht, wobei er gleichzeitig die deutsch-polnischen Beziehungen ins Zentrum seiner Analyse stellt. Er möchte mit seiner Arbeit die heftigen Reaktionen von polnischer Seite auf dieses deutsch-russische Projekt erklären und deutlich machen, dass das Vorhaben jenseits der pointierten Rhetorik der Kaczyński-Zwillinge tief verwurzelte Ängste auf polnischer Seite wieder wachruft. OLEKSANDR SVYETLOV (Kiew) bereicherte anschließend die Session um die polnisch-ukrainische Perspektive. Die in Polen verbreitete Darstellung als Opfer des Zweiten Weltkrieges verstelle laut seinem Vortrag einen ungetrübten Blick auf das schwierige polnisch-ukrainische Verhältnis, in dem die Ukraine sich selbst als Opfer polnischer Aggressionen der Zeit zwischen 1943 und 1947 sehe. KLAUS TRAUNSPURGER (Bad Birnach) widmete sich in seinem Referat der aktuellen europäischen Bildungspolitik. Die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Binnenarbeitsmarktes bringe mit sich, dass die nationalen Bildungs- und Qualifizierungssysteme vergleichbar würden. Dieser gemeinsame Qualifizierungsrahmen (EQR) stelle, wie sich zeigte, auch Polen vor zahlreiche Herausforderungen, welche eine reibungslose Realisierung dieses Vorhabens unwahrscheinlich erscheinen lassen.

Der Mittwoch war der Erkundung der Grenzstadt Görlitz/Zgorzelec gewidmet. Zunächst führte Andreas Bednarski vom Planungsatelier Architektur + Denkmalpflege durch das mittelalterliche Görlitz. Ausgehend von der Neiße habe sich hier sukzessive eine Stadt entwickelt. Einen „Glücksfall“ stelle Görlitz dadurch dar, dass es im 19. und 20. Jahrhundert unter latentem Kapitalmangel litt, welcher „unter Architekturhistorikern als hervorragender Konservator“ gelte. Anschließend wurden die Sommerschüler durch das 2006 eröffnete „Schlesische Museum zu Görlitz“ geführt. Der Kulturreferent der Einrichtung, Maximilian Eiden zeigte sehr anschaulich wie das Thema Nachbarschaft im Schlesischen Museum präsentiert wird. Diesem Museumsbesuch schloss sich ein Besuch im polnischen Pendant des schlesischen Museums an. Der Direktor des Muzeum Łużyckie, Piotr Arcimowicz, stellte das Konzept seines Museums vor. Während das Schlesische Museum im Jahr 1945 eine Schlusslinie zieht, beschäftigt sich das Lausitzer Museum mit der Epoche nach 1945. Er unterstrich, dass er sich mehr Unterstützung von öffentlicher Seite wünsche, damit sein Museum besser wahrgenommen werde.

WOLFGANG SCHLOTT (Bremen) leitete im Diskussionsraum des Görlitzer Instituts für kulturelle Infrastruktur Sachsen das Seminar mit dem Titel „Kultur“. Ziel war, herauszuarbeiten, wie Kulturschaffende das Verhältnis Polens zu seinen Nachbarn thematisieren. Im Laufe der kontroversen Debatte wurden verschiedene Punkte infrage gestellt; dabei spiegelte sich in den Vorträgen abermals das Unbehagen bei der Analyse des Standes der deutsch-polnischen Alltagsbeziehungen wider. So beschäftigt sich die Philosophin MAŁGORZATA BOGACZYK-VORMAYR (Salzburg) in ihrem Vortrag zur Dialog-Theorie mit dem Zusammenhang von Dialog und Nachbarschaft. SEBASTIAN BORCHERS (Bochum) unternahm in seinem musikhistorischen Vortrag den ambitionierten Versuch, die Austauschbeziehungen zwischen der polnischen und der deutschen Musikszene vor, während und insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg zu untersuchen. Dem schwierigen Thema des interkulturellen Dialogs näherte sich auch GEORG BRABANDT (Leipzig/Krakau) von einer anderen Seite. Am Beispiel des Buchs "Die Fremde" von Magdalena Felixa untersuchte der Referent das soziokulturelle Phänomen der Heimatlosigkeit am Beispiel der in Deutschland lebenden Gruppe der Polnischsprachigen. Laut Georg Brabandt stellt Heimatlosigkeit in diesem Zusammenhang ein zentrales Motiv in den Werken deutschsprachiger Autoren mit polnischem Migrationshintergrund dar. Abschließend hielt EWA PODSIEDLIK (Katowice) ein Referat zum Polenbild in der deutschen Literatur. Anhand des Romans „Die Haushälterin“ von Jens Petersen arbeitete sie die typischen Stereotypen heraus, welche der Autor in seine Protagonisten hineinlegt, um ihren Charakter zu übersteigern und so ad absurdum zu führen. Außerhalb der Konferenzräume erläuterte KERSTIN HINRICHSEN (Berlin), dass die niederschlesische Großstadt Breslau mit ihrer deutschen Vergangenheit überraschend entspannt umgeht.

STEFAN GARSZTECKI (Chemnitz) leitete das letztes Seminar der Sommerschule zum Thema "Politik" und widmete sich in seinem Vortrag ebenso wie die Referentin ANNA GÓRSKA-GUESMI (Tunis) dem Verhältnis Polens zu Russland, wobei Anna Górska-Guesmi zusätzlich das Verhältnis Polens zur Ukraine untersuchte. Hier wurde deutlich, dass das Verhältnis Polens zu Russland – stärker als von Deutschland wahrgenommen – von zahlreichen Ängsten geprägt ist. Anschließend stellte KAROLINE PIETRZIK (Mainz) ihr Promotionsvorhaben, eine Diskursanalyse zur polnischen und ukrainischen Erzählgemeinschaft, vor. Hierbei problematisiert sie insbesondere die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg sowie die die Zeit zwischen 1943-1947, ohne jedoch andere relevante historische Phasen gänzlich aus dem Blick zu lassen. MAGDALENA GEBALA (Oldenburg) stellte in ihrem Vortrag die Arbeitsgrundlagen vieler internationaler Begegnungsstätten und -vereine infrage. So schlug sie vor, die Teilnehmer aus verschiedenen Ländern nicht mehr als Teil jener Nation zu konstruieren, sondern alle Teilnehmer als Element vergleichbarer Milieus zu begreifen. So müssten sich dann nicht mehr alle deutsch-polnischen Begegnungen zwangsweise mit Vertreibung oder den Weltkriegen auseinandersetzen, sondern könnten kulturelle Unterschiede und Gemeinsamkeiten auch bei der Beschäftigung mit gemeinsamen Themen wie z. B. Sexualität, Minderheitenpolitik oder Presse herausarbeiten. PETER RÖMER (Münster) stellte in seinem Referat die Frage, „wie […] durch die Geschichtspolitik der PiS ein Opfermythos instrumentalisiert“ werde. Er unterstrich in seiner Untersuchung, dass Geschichte in Polen eine ungleich höhere gesellschaftliche Bedeutung habe und sich die PiS so – zusammen mit dem Opfermythos – intensiv dieses Instruments der Mobilisierung der Bevölkerung bediene. Als Abschluss untersuchte AGNIESZKA POLOŃCZYK (Krakau) das gegenseitige Bild der Deutschen und Polen in der satirischen Presse. Hierbei wurde deutlich, dass sich die Grenzen des Sag- und Schreibbaren trotz im Einzelfall heftiger politischer Reaktionen – wie z. B. bei der sogenannten „Kartoffelaffäre“ – während der letzten 100 Jahre in eine Richtung verschoben hätten, welche als Indikator einer deutlichen Entspannung Pate steht.

An den neun sehr intensiven gemeinsamen Tagen konnten die jungen Wissenschaftler ihre Projekte vorstellen und unter der Anleitung erfahrener Dozenten aus den unterschiedlichen Disziplinen diskutieren. Dank der Organisatoren konnte so erneut ein wichtiger Beitrag zur Vernetzung der Wissenschaft geleistet, der zukünftig weitere Fortsetzungen erfahren sollte.

Konferenzübersicht:

Jonas Grygier
Deutsche Minderheiten in der 2. Rzeczpospolita Polska – ihre Beziehung zum Staat und ihr Alltag

Anna Kostrzewa
Vertreibung der Deutschen aus Ermland und Masuren in den Jahren 1945-1948

Małgorzata Zajonz
Die Beziehungen zwischen Polen und der Bundesrepublik Deutschland in den 70-er Jahren. Die Ostpolitik von Willy Brandt

Christoph Treder
Flucht und Vertreibung der deutschen Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg aus den ehemaligen ostdeutschen Gebieten im polnischen Diskurs in den 1990er Jahren

Yaman Kouli
Der Wert des Wissens. Zur wirtschaftlichen Entwicklung Niederschlesiens 1936-1956

Erik Schiller
Der Bau der Nord Stream Pipeline und die Auswirkungen auf Polen und das deutsch-polnische Verhältnis

Oleksandr Svyetlov
Europe - solving conflicts of the past. Polish-Ukrainian relations and the »war in the war«

Klaus Traunspurger
EQR. Der Europäische Qualifikationsrahmen am Beispiel Polens

Małgorzata Bogaczyk-Vormayr
Der Dialog und das Grenzland

Sebastian Borchers
Polnische Klangästhetik. Zu den transnationalen Wechselbeziehungen zwischen Polen und Deutschland in der Neuen Musik seit Mitte der 1950er Jahre

Georg Brabandt
Das Motiv der Heimatlosigkeit in der Literatur deutschschreibender Autoren mit polnischen Migrationshintergrund

Ewa Podsiedlik
Polen in der literarischen Widerspiegelung seines Nachbarn Deutschland. 1919 bis 2009

Kerstin Hinrichsen
Geschichtspolitik und lokale Identität in Breslau nach 1989

Anna Górska-Guesmi
Polen angesichts der Entwicklungen bei seinen westlichen und östlichen Nachbarn- Deutschland, Russland und Ukraine

Karoline Pietrzik
Auf der Suche nach Heimat? Generationsspezifische Identitätsmuster im ostmitteleuropäischen Raum der Gegenwart am Beispiel der polnisch-ukrainischen Beziehungen

Magdalena Gebala
Gefangen im eigenen Mythos? Zur Konstruktion kollektiver Identität in Mittel- und Osteuropa am Beispiel Polens. Grundlagen für eine neue Praxis der internationalen Austauschpädagogik

Agnieszka Polonczyk
Der Werdegang und der Einfluss von Stereotypen in den deutsch-polnischen Beziehungen und das wechselseitige Bild in der satirischen Presse

Peter Römer
Wie wird durch die Geschichtspolitik der PiS ein Opfermythos instrumentalisiert? Der von der PiS propagierte »Patriotismus der Niederlage« als Waffe gegen Gegner

Kontakt

Yaman Kouli, Graduiertenkolleg 1049 ("Archiv-Macht-Wissen") sowie "Bielefeld Graduate School of History and Sociology", Universität Bielefeld
E-Mail: <Ykouli@uni-bielefeld.de>