Zwischen Widerstand und Umsturz. Zur Bedeutung von Gewalt für die politische Kultur des späten Mittelalters

Zwischen Widerstand und Umsturz. Zur Bedeutung von Gewalt für die politische Kultur des späten Mittelalters

Organisatoren
Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte e.V.; Martin Kintzinger, Universität Münster; Frank Rexroth, Universität Göttingen; Jörg Rogge, Universität Mainz
Ort
Reichenau
Land
Deutschland
Vom - Bis
29.09.2009 - 02.10.2009
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Von
Andreas Bihrer, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Die ,Kulturgeschichte des Politischen‘ oder kurz die ,neue Politikgeschichte‘ ist eine aktuell allerorts diskutierte Forschungsrichtung, die wegen ihrer Beliebtheit auch zu einer Renaissance der eigentlich schon ad acta gelegten traditionellen Politikgeschichte geführt hat. Damit die ,Kulturgeschichte des Politischen‘ nicht als beliebig verwendbares Label für Ansätze jeglicher Art verwendet werden kann, bedarf es einer schärferen Profilierung des Konzepts, um die Perspektiven dieses Ansatzes zu verdeutlichen. Hierbei ist der Beitrag aller historischen Fachrichtungen gefordert, ganz gleich ob diese epochal, räumlich oder thematisch definiert sind.

Somit ist ebenfalls die Mediävistik gefordert, zur Schärfung des Profils dieser Forschungsperspektive beizutragen. Auch der Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte nahm sich dieser Aufgabe an, so in der von Martin Kintzinger und Bernd Schneidmüller veranstalteten Herbsttagung des Jahres 2008 zum Thema ,Politische Öffentlichkeit im Spätmittelalter‘. Ein Jahr später, vom 29. September bis zum 2. Oktober 2009, fand eine von Martin Kintzinger (Münster), Frank Rexroth (Göttingen) und Jörg Rogge (Mainz) konzipierte Reichenau-Tagung mit dem Titel ,Zwischen Widerstand und Umsturz. Zur Bedeutung von Gewalt für die politische Kultur des späten Mittelalters‘ statt.

In ihrer Einführung arbeiteten MARTIN KINTZINGER (Münster) und JÖRG ROGGE (Mainz) die älteren Ansätze auf, anhand derer sich die Forschung der physischen Gewalt im Rahmen der Politik angenähert hatte. Im Mittelpunkt der älteren Untersuchungen stand neben rechtsgeschichtlichen Betrachtungen der gelehrte Diskurs der politischen Theorie zur Legitimation von Gewalt, der unter ideengeschichtlicher Perspektive analysiert wurde. Die neuere Forschung nahm Impulse der historischen Kriminalitätsforschung, einer anthropologisch geprägten Körpergeschichte und der Forschungen zur Konfliktführung und -lösung in der Vormoderne auf. Die Reichenau-Tagung sollte einen Beitrag dazu leisten, den diffusen und zwischen violentia und potestas changierenden Gewaltbegriff schärfer zu fassen und eine Typologie unterschiedlicher Gewaltphänomene zur Durchsetzung politischer Interessen zu erarbeiten, ohne dabei zeittypische, regionale oder kulturelle Spezifika zu verwischen. Weiterhin sollten Bedingungen, Felder, Formen und Praktiken von Gewalt beschrieben und die Funktionen und Bedeutungszuschreibungen von Gewalt in der politischen Kultur des Mittelalters untersucht werden.

Im Eröffnungsvortrag betrachtete STEFAN LEDER (Halle/Beirut) kulturspezifische Positionierungen zum Problem der Gewalt zwischen Christentum und Islam, wobei er seinen Fokus auf die islamische Mittelzeit vom 7. bis 15. Jahrhundert richtete. Um den Zusammenhang von Gewalt und Ordnungsvorstellungen darstellen zu können, analysierte Leder die Argumentationsstrategien zur Rechtfertigung von Gewalt im politischen Raum im Koran und in den Auslegungen im religiösen Recht. Während sich hierin eine Entwicklung hin zum Gewaltmonopol des Herrschers gezeigt habe, habe in den Stammesgesellschaften die Gewaltanwendung bei Rache- und Ehrkonflikten sowie im Wettbewerb um Macht einen geringen Grad an Regulierung erfahren, ohne dabei aber außerhalb von gesellschaftlichen Ordnungssystemen zu stehen. In seiner Schlussbetrachtung wies Leder darauf hin, dass zwischen Islam und Christentum kaum Unterschiede bei der Ausübung von Gewalt im politischen Kontext zu beobachten seien, trotz des Liebesgebots des Christentums, das nur scheinbar der islamischen Gründungsgewalt gegenüber gestanden habe.

Der Gewaltlegitimation und Gewaltkritik in der politischen Theorie des späten Mittelalters galt der Vortrag von KARL UBL (Tübingen). Am Beispiel von Fürstenspiegeln, Mahnschreiben und polemischen Gedichten der Zeit Philipps des Schönen befasste er sich mit der Herrscherkritik und der Figur des Tyrannen. Ubl konnte zeigen, dass der Tyrannendiskurs nicht nur subversiv, sondern auch für einzelne Herrscher legitimierend und damit machtstabilisierend verwendet werden konnte. So wurde Philipp vielfach als Tyrann dargestellt, um die Aufmerksamkeit des Königs zu erreichen und um mit ihm in Kontakt treten zu können. Als Fazit gab Ubl zu bedenken, dass bislang die Ambivalenz des Tyrannendiskurses, der subversiv oder legitimierend sein konnte und somit offen nutzbar war, zu wenig beachtet wurde.

JÖRG ROGGE (Mainz) analysierte unter der Frage 'Rebellion oder legitimer Widerstand?' Formen und Funktionen der Gewaltanwendung gegen englische und schottische Könige sowie gegen deren Ratgeber und Günstlinge. Sein Ziel dabei war, anhand einer systematisierenden Bestandsaufnahme Formen der politischen Gewalt zu kategorisieren. Auch Rogge ging es um die Begründung von Gewaltanwendung, wobei er vor allem zeitgenössische Klagen gegen die Könige untersuchte, die den Herrschern den Bruch des Krönungseids, eine schlechte Regierung, die Auswahl falscher Berater oder militärischen Misserfolg vorwarfen. Rogge kam zu dem Schluss, dass der Einsatz physischer Gewalt gegen den König zwar eine Handlungsoption war, aber erst als letztes Mittel eingesetzt wurde, wenn zum Beispiel Versuche der correctio, die Ausschaltung von Ratgebern oder die Gefangennahme des Königs nicht erfolgreich gewesen waren.

Mit dem Vortrag von JENNY OESTERLE (Bochum) wurde die Reihe der Beiträge zur politischen Theorie abgeschlossen. Unter dem Titel 'Darf man Herrscher bekämpfen?' untersuchte sie die gelehrte Legitimation oder Delegitimation von Gewaltanwendung gegen Herrscher anhand der Positionen islamischer Rechtsschulen. Oesterle kam zu dem Ergebnis, dass eine hohe Differenziertheit bei Rechtssätzen zu Formen gerechter Herrschaft zu erkennen ist. Dabei wurden auch Richtlinien für den Herrscher erstellt, wie dieser mit Rebellen umzugehen habe, jedoch arbeiteten die islamischen Rechtsgelehrten kein Widerstandsrecht aus. Somit ist es im transkulturellen Vergleich mit dem Christentum auffällig, dass im Islam die Rebellenbekämpfung und nicht der Tyrannendiskurs im Mittelpunkt des gelehrten Diskurses stand.

Die verschiedenen Praktiken der Gewaltanwendung bildeten das Thema der weiteren Vorträge. NICOLAS OFFENSTADT (Paris) untersuchte die Gewalt gegen Ausrufer von Königen, Fürsten, Stadträten oder Grundherren. Die öffentliche Bekanntmachung diente weniger der Informationsvermittlung, da die Inhalte oftmals schon vor der Proklamationen bekannt waren. Die Verkündigungen waren vielmehr ein politischer Akt, um Entscheidungen zu legitimieren und in Kraft zu setzen. Bei diesen routineerprobten Handlungen kam es auch zu Zwischenfällen wie Behinderungen, Gefangennahmen oder Gewaltausbrüchen. Dieser Widerstand gegen die Ausrufer als Repräsentanten der Herrschaft konnte Offenstadt zufolge auch als Weigerung verstanden werden, die Autorität oder Zuständigkeit des Herrscher oder die Legitimität seiner Entscheidungen anzuerkennen.

DAVID NIRENBERG (Chicago) beschäftigte sich unter dem Titel 'The Sovereign’s Dilemma: Genocide and Justice in Valencia, 1391' mit einem der größten Judenpogrome des europäischen Mittelalters, dem Massaker von Valencia. Da der König den Judenschutz garantierte, bedeutete ein Vorgehen gegen Juden zugleich einen Angriff auf den König. Nirenberg interpretierte vor diesem Hintergrund das Massaker von Valencia als einen Angriff auf den König und als Krise von Souveränität. Dies zeigte er am Handeln des Stadtrats auf, der Wundererzählungen an den König geschickt hatte, um das Massaker als gottgewollt darzustellen. Durch die Propagierung eines ,Ausnahmezustands‘ sah der Stadtrat Nirenberg zufolge die Möglichkeit, sich dem königlichen Strafgericht und dem Herrschaftsanspruch des Königs zu entziehen und die eigene Gewaltausübung zu legitimieren.

Mit seinem Vortrag 'Der grausame König – Gewalt und Königtum in der ersten Hälfte des 14. Jhs. (England, Frankreich, Reich)' richtete JEAN-MARIE MOEGLIN (Paris) den Blick wieder stärker auf die diskursive Aushandlung der Legitimität von Gewaltanwendung im politischen Raum. Anhand von Fürstenspiegeln und Chroniken zeigte er auf, wie Bilder eines rex iustus oder eines rex crudelis genutzt wurden, um einerseits Normen königlichen Handelns aufzustellen und um andererseits einen normativen Rahmen festzulegen, innerhalb dessen die Ausübung von Gewalt als notwendig und legitim verstanden wurde. Moeglin erkannte um 1300 eine Wende hin zu einer neuen Politik der Strenge bzw. einer neuen Grausamkeitspolitik der europäischen Könige, die aber eine starke Kritik der Zeitgenossen erfahren habe.

Der Semantik einer Gewalt durch Gift in der politischen Kultur des Spätmittelalters galt der Vortrag von FRANCK COLLARD (Paris). Die Nachrichten über Giftmorde wurden im Spätmittelalter zahlreicher, was Collard als eine Zunahme von Gewalt interpretierte. Die Anwendung von Gift als unsichtbare und versteckte Gewalt galt als besonders unmoralisch, weshalb sie nicht als legitimes Mittel in der politischen Auseinandersetzung gebilligt wurde. Wegen der unterstellten Heimtücke und der schwierigen Nachweisbarkeit wurden Anschläge mit Gift in der politischen Auseinandersetzung häufig als Vorwurf genutzt. Da Giftmorde somit nicht bei Ehrkonflikten eingesetzt werden konnten, wertete Collard deren Zunahme als eine Verstärkung eines politischen Kampfs neuen Typs, im dem durch partikulare Interessen definierte Ziele durchgesetzt werden sollten.

Im abschließenden Vortrag zu Gewaltkonzepten in alternativen sozialen Ordnungen wandte TORSTEN HILTMANN (Münster/Paris) den Blick weg von der physischen Gewalt hin zur Amts- und Verfügungsgewalt. Er untersuchte am Beispiel der 'Amtskönige' im Frankreich des Spätmittelalters, wie der Königstitel in anderen Kontexten verwendet wurde, so im Milieu der Prostituierten, der Spielleute und der Händler. Der Titel besaß hier keinen parodistischen oder subversiven Unterton, sondern sollte die herausgehobene Stellung der Amtsinhaber bezeichnen, denen vom König verliehene Aufsichts- und Strafrechte zukamen. Hiltmann sah in der Verwendung des Königstitels einen Ausdruck zentralisierter Herrschergewalt im spätmittelalterlichen Frankreich.

In seiner Zusammenfassung ordnete HERMANN KAMP (Paderborn) die Ergebnisse der Tagung in aktuelle und zukünftige Forschungsfelder ein. Gelehrte Diskurse im Spätmittelalter über politische Gewalt verfolgten das Ziel, einen normativen Rahmen der herrscherlichen Strafgewalt zu etablieren oder in der Diskussion über den Tyrannenbegriff Herrschaft zu stabilisieren oder zu destabilisieren. Gewalt gegen den Herrscher richtete sich aber nicht gegen das Königtum an sich, sondern gegen die aus Sicht der Gegner unfähige Person, oftmals auch nur gegen dessen Räte, Günstlinge oder Ausrufer. Von besonderem Interesse für die zukünftige Forschung könnte der Einfluss des Gewaltdiskurses und der Wahrnehmung ostentativer Gewalt auf das Verhalten der politischen Akteure sein. Die Ergebnisse der Tagung würden Kamp zufolge nahelegen, dass um 1300 die Gewaltintensität zunahm, jedoch seien die Gründe für diese neue Grausamkeit noch unklar.

FRANK REXROTH (Göttingen) skizzierte in seinem Abschlussstatement drei mögliche Erklärungen für die Beobachtungen der Vortragenden und Diskutanden: Für den Wandel um 1300 machte er eine neue politische Öffentlichkeit verantwortlich, die eine bis ins 19. Jahrhundert wirkende politische Kultur hervorgebracht habe. Weiterhin betonte Rexroth die grenzverschiebende Wirkung von Präzedenzfällen bei der Anwendung neuer Formen politischer Gewalt, die Nachahmungstaten und eine Aufnahme in das Arsenal der als legitim angesehenen Handlungsoptionen ermöglichten. Schließlich sah Rexroth eine enge Verknüpfung von politischer Theorie und Praxis, die er mit der neuen politischen Öffentlichkeit des Spätmittelalters erklärte.

Aus den Voten der Schlussdiskussion wurde deutlich, dass das Verhältnis von gelehrtem Diskurs, zeitgenössischer Wahrnehmung und Praktiken der Gewaltanwendung im Spätmittelalter nur durch einige Schlaglichter erhellt werden konnte, denn noch fehlen eine Aufarbeitung der Quellen und grundlegende Studien. Vor diesem Forschungsstand verwundert somit nicht die gegenwärtige Konzentration auf den gelehrten Diskurs und die Entwicklung eines normativen Rahmens. Zukünftige Fallstudien zur Ausübung politischer Gewalt werden die These einer Zunahme um 1300 entweder weiter erhärten oder durch quellenkritische und statistische Zugänge relativieren. Besonders gewinnbringend dürften Untersuchungen sein, welche die medialen Darstellungen, narrativen Repräsentationen und die Sprache der Gewalt in den Blick nehmen und nach Veränderungen in der Wahrnehmung um 1300 fragen. Erst die gleichgewichtige Beachtung aller drei Perspektiven kann die Frage beanworten, ob die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts als Umbruchszeit zu verstehen ist und welche Rolle der Gewalt im Handlungsrepertoire der politischen Kultur des Spätmittelalters zukam. Die sich an die Vorträge anschließenden Statements und die Schlussdikussion werden in den Tagungsprotokollen des Konstanzer Arbeitskreises dokumentiert und die Aufsätze der Vortragenden in der Reihe „Vorträge und Forschungen“ publiziert.

Konferenzübersicht:

Martin Kintzinger (Münster) und Jörg Rogge (Mainz)
Einführung

Stefan Leder (Halle/Beirut)
Kulturspezifische Positionierungen zum Problem der Gewalt zwischen Christentum und Islam

Karl Ubl (Tübingen)
Gewaltlegitimation und Gewaltkritik in der politischen Theorie des späten Mittelalters

Jörg Rogge (Mainz)
Rebellion oder legitimer Widerstand? Formen und Funktionen der Gewaltanwendung gegen englische und schottische Könige (und ihre Ratgeber/Günstlinge)

Jenny Oesterle (Bochum)
Darf man Herrscher bekämpfen? Christentum und Islam im Vergleich

Nicolas Offenstadt (Paris)
Gewalt und spätmittelalterliche Friedensdiplomatie: Gewalt gegen Ausrufer

David Nirenberg (Chicago)
The Sovereign’s Dilemma: Genocide and Justice in Valencia, 1391

Jean-Marie Moeglin (Paris)
Der grausame König – Gewalt und Königtum in der ersten Hälfte des 14. Jhs. (England, Frankreich, Reich)

Franck Collard (Paris)
Benutzungen von Gift und politische Gewalt

Torsten Hiltmann (Münster/Paris)
Gewaltkonzepte in alternativen sozialen Ordnungen

Hermann Kamp (Paderborn)
Zusammenfassung

Schlussdiskussion


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Englisch, Deutsch
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