Reading the Emigrant Letter: innovative approaches and interpretations

Reading the Emigrant Letter: innovative approaches and interpretations

Organisatoren
Bruce S. Elliott, Carleton Centre for the History of Migration, Carleton University, Ottawa, Ont.
Ort
Ottawa, Ont.
Land
Canada
Vom - Bis
07.08.2003 - 09.08.2003
Url der Konferenzwebsite
Von
Wolfgang Helbich, Schnepfenthal

1. Auswandererbriefe

Auch mancher Historiker mag fragen, ob man denn über so etwas Marginales wie Auswandererbriefe eine dreitägige Konferenz abhalten kann. Man kann, jedenfalls glaubten das die 52 Referenten aus 11 Ländern (etwa die Hälfte aus Nordamerika), die der Einladung folgten - und alle, oder jedenfalls fast alle, sind auch noch nach wie vor dieser Ansicht. Wesentliche Gründe für das Interesse - von der anhaltenden Konjunktur für Ego-Dokumente ganz abgesehen - sind die fließenden Grenzen, die entsprechend expansive Tendenz des Themas und vor allem die Tatsache, dass Auswandererbriefe so marginal gar nicht sind.

Tausende von Briefen aus Nordamerika erschienen in den europäischen Herkunftsländern im 19. Jahrhundert in Zeitungen und in Buchform: zur Unterhaltung, zur Befriedigung von Neugier und vor allem zur Warnung vor, oder zur Werbung für die Auswanderung. Als erste neutrale Edition, in der die Dokumente ausdrücklich den Namenlosen, den einfachen Menschen Gehör verschaffen sollten, erschien 1912 in Kopenhagen Karl Larsens "De, der tog hjemmefra" (deutsch bereits 1913 als "Die in die Fremde zogen"). Erst ein halbes Jahrhundert später wurden Auswandererbriefe im Zuge des Aufschwungs der Sozialgeschichte wieder entdeckt, aber erst 1972 erschien eine Edition, die nicht nur neue Maßstäbe einer vorlagegetreuen Wiedergabe setzte, sondern auch Larsens Anliegen wieder aufgriff. 1

Seitdem sind in vielen Ländern Auswandererbriefsammlungen entstanden und wissenschaftliche Dokumentationen erschienen, wobei bemerkenswert und vielleicht auch bedauerlich ist, dass jenseits der regen Editionstätigkeit die Forschung auf der Grundlage von Auswandererbriefen bisher eher zaghaft und punktuell geblieben ist. Vielleicht die wichtigste Ursache hierfür ist die Aufwändigkeit dieser Quellenart: das Auffinden, das Transkribieren und vor allem die biographischen Recherchen, ohne die die Briefe zumindest für den Historiker weitgehend wertlos bleiben, kosten erheblich mehr Zeit und nicht zuletzt Geld als meistens unter forschungsökonomischen Gesichtspunkten vertretbar scheint.

Die Briefe bleiben dennoch eine zwar kostspielige, aber zentrale und durch nichts ersetzbare Quelle, weil Auswandererbriefe den umfangreichsten Corpus von Schrifttum wenig gebildeter Schichten bilden, der erhalten geblieben ist. Deshalb sind auch Linguisten in Europa und Amerika an diesem Material stark interessiert. Es muss nicht näher begründet werden, warum sie Schlüsseldokumente für die Migrationsgeschichte sind und für die Sozialgeschichte der Herkunftsländer wie der Zielländer wichtige Informationen enthalten. Und angesichts der Tatsache, dass hier die subjektiven Eindrücke und die emotionalen Reaktionen der Auswanderer zum Ausdruck kommen, wird verständlich, warum sie aussagekräftig sind für Untersuchungen von Integration, Identität, Kulturtransfer, Transnationalität bzw. generell relevant für eine Geschichte von Mentalitäten und Emotionen.

2. Die Referate

Für Migrationshistoriker in Europa und Amerika sind 'Auswandererbriefe' zunächst solche, die von europäischen Einwanderern aus der Neuen Welt (und aus Australien) an Familienmitglieder, und in seltenen Fällen an nicht verwandte Freunde, in der Alten Welt geschickt wurden. Tatsächlich ging es in einer Mehrzahl der Referate um Dokumente dieses Typs, zumindest wenn man 7 der 9 einleitenden Podiums-Beiträge mitzählt.

Etwa ein Viertel der Vorträge behandelte hingegen Auswandererbriefe außerhalb dieses regionalen Rahmens: Frankokanadier, die aus USA und Rest-Kanada nach Québec schrieben (Jean Lamarre; John Willis), Briefwechsel zweier jüdischer Schwestern zwischen Sowjetunion und Deutschland in den Jahren 1927-39 (Ann Goldberg), die Briefe evakuierter britischer Kinder in Kanada im 2. Weltkrieg (Helen Brown), Petitionsbriefe böhmischer Emigranten an den Kurfürsten von Sachsen (Alexander Schunka), die Korrespondenz westwärts wandernder Sklavenhalter mit ihren im Osten verbleibenden Verwandten (James D. Miller) und die Briefe von nach Liberia emigrierten Afro-Amerikanern in die USA (Gerard Van Herk, Shana Poplack).

Beim letzten Viertel der Referate waren Verbindungen zum "klassischen" Auswandererbrief, auch in sehr lockerer Definition, nur noch undeutlich zu erkennen. Zu nennen wäre z. B. der Fall der Herstellung und Verbreitung von patriotischen Briefmarken durch die ukrainische Exilregierung zwischen den Weltkriegen (Karen Lemiski), die Untersuchung von 260 Einsendungen zu einem Preisausschreiben von Harvard-Professoren über das Leben vor und in Nazi-Deutschland aus dem Jahr 1939 (Detlef Garz, Sylke Bartmann, Hyo-Seon Lee), Leserbriefe an das polnisch-amerikanische "Ameryka-Echo" 1923-1971 (Anna D. Jaroszynska-Kirchmann), Einladungsbriefe portugiesischer Auswanderer zur Vorlage bei den Pass-Behörden, damit ihre Ehefrauen ausreisen durften (Marcelo Borges, Robert Reeves) oder der Bestand an nicht zugestellten Privatbriefen aus Europa an Angestellte der Hudson's Bay Company in deren Archiven (Judith Hudson Beattie).

David Fitzpatrick, Herausgeber der wohl bisher eindrucksvollsten Auswandererbrief-Edition (Oceans of Consolation, Cornell 1995), gab in seinem bestechenden Eingangsreferat über irische Auswandererbriefe einen an Vollständigkeit grenzenden Überblick zu Ergebnissen und Problemen der bisherigen Forschungen zu diesem Thema und zeigte darüber hinaus zahlreiche noch offene, und zum Teil noch nicht einmal gestellte Fragen auf. Das konnte begeistern, aber schon der zweite Referent, Eric Richards (Flinders U., Adelaide), sorgte bei den vielen auf die Quelle Brief eingeschworenen Zuhörern für etwas Ernüchterung. Er konstatierte, dass zwar so gut wie alle Auswandererbriefe die Familie und die Solidarität mit derselben zum Mittelpunkt haben, der Gesichtskreis der meisten Briefschreiber jedoch kaum darüber hinausgeht, so dass man feststellen muss, dass sie hinsichtlich des Einwanderungslandes wie auch der Heimat einen sehr begrenzten Horizont hatten. Offen bleibt die Frage, ob diese Erkenntnis am Aussagewert der Briefe etwas ändert.
Die Rolle der Familie war auch das Thema zweier anderer Referate. David Gerber befasste sich mit Beschönigungen und Auslassungen, die durch Rücksichtnahme auf die Gefühle von Adressaten verursacht werden: Im Zweifelsfall geht in den Briefen häufig der Zusammenhalt der Familie über die Wahrheit. Dirk Hoerder unterstrich nicht nur die Funktion der Briefe als emotionale Klammer für die voneinander getrennte Familie, sondern stellte auch die These auf, ungeachtet gegenteiliger Beispiele erleichtere eine intakte Verbindung zur Familie in Europa die Integration in die neue Gesellschaft.

Es ist bekannt, dass viele junge Einwanderer nach ein paar Jahren in die alte Heimat fuhren, um sich eine Frau zu suchen. Suzanne M. Sinke legte dar, wie andere sich die beschwerliche Reise sparten und eine "mail-order bride" besorgten, bzw. sich besorgen ließen, mit oder ohne Foto. Die Situationen, aus denen heraus ein solches Geschäft betrieben wurde, ebenso wie die Briefe, mit denen es bewerkstelligt wurde, sind sozialhistorisch höchst ergiebig.

Die Frage, welche Bedeutung die tatsächliche Repräsentativität der Briefe - oder deren Fehlen - für den Wert dieser Quellenart habe, wurde leider nicht ernsthaft gestellt. Immerhin gingen Wolfgang Helbich und Walter D. Kamphoefner, zum ersten Mal überhaupt, empirisch dem Problem nach, welche Art von Briefen erhalten geblieben sind und damit auch der Frage, wie repräsentativ sie sind. In diesem Bereich ist noch viel aufzuarbeiten. Das Zwischenergebnis: Besitz, Bildung und sesshafte Bauern sind deutlich überrepräsentiert, aber nicht in extremem Maße.

Es genügt leider nicht, wenn Briefe erhalten geblieben sind. Wer damit arbeiten will, und nicht genug in Archiven findet, muss sie sich zunächst aus Privatbesitz beschaffen. Ariane Bruneton-Governatori berichtete (in dem einzigen französischsprachigen Referat) eindringlich von den Schwierigkeiten und den erfolgreichen Methoden eines solchen Unterfangens.

Gleich drei Referenten widmeten sich den mit Recht gescholtenen, aber bisher zu Unrecht weitgehend ignorierten Auswandererbriefen, die in der Presse abgedruckt wurden. Keiner versuchte dabei den üblichen Vorwurf zu entkräften, der Grad der editorischen Verfälschung sei nicht feststellbar. Vielmehr schilderte Bill Jones die Emigrantenbriefe, die in Zeitungen beider Sprachen in Wales erschienen, als ein eigenes Genre, das vielfältigen Einflüssen unterlag und wichtige Funktionen erfüllte. Für den Süden Englands ging Terry McDonald den Fragen nach, warum Zeitungen die Briefe druckten und welches Echo sie bei Gentry und Politikern fanden. Was wie Proporzverteilung aussieht - Scott McLean befasste sich mit Chambers's Edinburgh Journal - hängt eher mit den Standorten der Referenten zusammen. Jedenfalls druckte diese Pro-Auswanderungs-Zeitschrift nicht nur Auswandererbriefe ab, die zum Teil direkt an Redakteure gerichtet waren, sondern letztere unterhielten auch eine lebhafte Korrespondenz, berieten Interessenten und sammelten Erfahrungsberichte von beratenen Auswanderern.

Obwohl niemand bestreiten würde, dass der Aussagewert von Auswandererbriefen durch Kontextualisierung steigt, wurde diese Quellenart bisher nur selten direkt einer einzigen anderen gegenübergestellt. Auf der Konferenz taten dies jedoch nicht weniger als drei Referenten. Judith Hill verglich "parishioner letters" 2 in Surrey mit den Auswandererbriefen in dieselbe Region und fand letztere hinsichtlich des englischen Landlebens realistischer und kritischer. Michael Vance tat praktisch das Gleiche für Handwerker aus Glasgow anhand von lokalen Petitionen und Briefen aus Amerika, aber er ging einen Schritt weiter und konstatierte sowohl ein sicheres Gespür der Schreiber für klassenbedingt unterschiedliche Kommunikationsformen als auch gewichtige Aussagen über Klassen- und Geschlechterverhältnisse in Schottland und Kanada. Und Angela McCarthy führte 2003 Interviews mit einer englischen Auswanderin nach Australien, deren zahlreiche Briefe aus den 1950er Jahren ihr vorlagen. Die Diskrepanzen waren deutlich, und häufig schien die Aussage der Briefe glaubhafter.

3. Erwartung und Resultate

Podiumsgespräche über das Edieren, über das Digitalisieren und über das Sammeln von Auswandererbriefen waren wenig kontrovers, wobei das Spannungsverhältnis zwischen wortgetreuer Wiedergabe einerseits, und leserfreundlicher Aufbereitung andererseits unterstrichen wurde. Das Digitalisieren in beiderlei Form (als Bild und als Text) fand ausschließlich Fürsprecher, die sich auch alle der enormen Kosten bewusst waren, u.a. weil für Text-Wiedergaben das Transkribieren ebenso unumgänglich wie teuer ist. Alle drei Panels brachten eine Menge nützlicher Hinweise, aber keine aufregenden neuen Erkenntnisse. Sie waren eher Bestandsaufnahme als zukunftweisende Agenden.

Zu kritisieren wären an der Konferenz vor allem einige generelle Aspekte. Angeregt durch eine Reihe von publizierten Aufsätzen, die man für die Spitze des Eisbergs halten konnte, wollte der Veranstalter verdienstvollerweise alle jene einschlägig Arbeitenden, die, so der Untertitel, "innovative approaches and interpretations" zu bieten hätten, in Ottawa versammeln, vorstellen und miteinander in Kontakt bringen. Es ist ein risikoreicher Anspruch, auch weil der Begriff "innovativ" sehr relativ ist und sein Gebrauch somit subjektiv. Viele neue Erkenntnisse wurden präsentiert, auch zahlreiche Fragestellungen, die es so noch nicht gegeben hatte und dementsprechend auch Ergebnisse, die erstmals veröffentlicht wurden, das Verständnis vertieften und den Horizont erweiterten. Aber Methoden und Interpretationen, die tatsächlich die Bezeichnung "innovativ" verdienen? Mit etwas Mühe könnte man in einem halben Dutzend Referaten Ansätze dazu entdecken, aber sie waren zu zaghaft, um hier nachvollziehbar dargestellt zu werden.

Massiv traten dagegen die Lücken zutage: Nicht ein konkretes Beispiel fand sich für das in den letzten Jahren theoretisch so hoch gepriesene, multidisziplinäre und in die Tiefe gehende Interpretieren oder gar "de-coding"; kein transnationaler Vergleich von Briefen oder Briefkultur wurde versucht; auch das Problem der Transnationalität bei den Briefschreibern, abstrakt im Kontext Auswandererbriefe gern erwähnt, fand nur en passant Beachtung; die Frage des Verhältnisses zwischen originär eigenen oder rezipierten, erfahrenen oder stereotypen Aussagen wurde nicht angegangen; zwar gab es ein Referat zur Repräsentativität, aber keins zur Relevanz derselben; niemand befasste sich mit Krankheit, Tod und Religiosität, die in den Briefen eine so große Rolle spielen; und niemand nutzte die Chance zu einer emotionsgeschichtlichen Untersuchung bei einem Material, das sich wie kaum ein anderes dazu anbietet; und keiner versuchte eine konkrete Beschäftigung mit der Entwicklung von Identität.

Das Aufzählen dieser Defizite enthält gegen niemanden einen Vorwurf, denn der Veranstalter kann nichts tun, als Netze auszuwerfen und einzuladen, und es wäre absurd, Teilnehmern übelzunehmen, dass sie ihr Thema gewählt haben und nicht eins aus den Bereichen, die dieser Berichterstatter als Desiderat betrachtet. Und weder Lücken noch Zweifel am Innovationsanspruch tun der Konferenz in ihrer Qualität als umfassende internationale Bestandsaufnahme Abbruch. Solche Bestandsaufnahmen waren in der Vergangenheit in mehreren Disziplinen das Startsignal für Koordinierung und Intensivierung der einschlägigen Arbeit, und so könnte es sehr wohl auch hier sein.

Mit Sicherheit hat jeder Teilnehmer, der sich ernsthaft mit Auswandererbriefen und verwandten Dokumenten befasst, einen Überblick darüber gewonnen, wer wo sonst an welchen Themen arbeitet. Er konnte eine Fülle von Anregungen und nicht zuletzt Kontakten mitnehmen. Mit etwas Optimismus lässt sich hoffen, dass manche die Lücken als so störend empfanden, dass sie sich zu eigener einschlägiger Forschung angeregt fühlen.

Insgesamt also war die Konferenz vielversprechend und ein Erfolg - und wie viele wissenschaftliche Tagungen gibt es, bei denen man nicht ein Mehr an Innovation oder weitere wichtige Themen vermisst? Und die angenehme Erinnerung an die Konferenz wird noch intensiviert durch eine Organisation, wie sie kaum ein Teilnehmer je zuvor erlebt hatte, weil sie in jeder Hinsicht perfekt zu nennen ist.

1 Erickson, Charlotte, Invisible Immigrants : the adaption of English and Scottish immigrants in nineteenth-century America, Coral Gables, Florida 1972

2 "parishioner letters" = Briefe der Bewohner eines parish (Verwaltungsebene unterhalb des county) an die Gemeindeverwaltung betr. Missstände, Wünsche, vor allem wohl Abhilfe in Notlagen.

http://www.carleton.ca/cchm
Redaktion
Veröffentlicht am