Verwissenschaftlichung von Politik im 20. Jahrhundert

Verwissenschaftlichung von Politik im 20. Jahrhundert

Organisatoren
Friedrich-Ebert-Stiftung; Archiv für Sozialgeschichte
Ort
Bonn
Land
Deutschland
Vom - Bis
24.09.2009 - 25.09.2009
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Von
Nicole Kramer, Ludwig-Maximilians-Universität München

Die Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts lässt sich nicht mehr allein als spezialisierte Ideen- und Disziplinengeschichte schreiben. Vielmehr bietet sie einen Zugang zur Erforschung von Politik und Gesellschaft, für die wissenschaftliches Wissen im Lauf der Zeit stetig an Bedeutung gewann.1 Der Band 50 des Archivs für Sozialgeschichte, der im Oktober 2010 erscheinen wird, widmet sich dem Thema „Verwissenschaftlichung von Politik im 20. Jahrhundert“. Am 24. und 25. September 2009 lud die Friedrich-Ebert-Stiftung zur vorbereitenden Autorentagung nach Bonn ein, um Konzeption und Ergebnisse der einzelnen Beiträge zu diskutieren.

Den zeitlichen Schwerpunkt bildeten die Jahrzehnte nach 1945 als einer Boomphase der Verwissenschaftlichung von Politik, wie MEIK WOYKE (Bonn) in seiner Einführung betonte. Der Blick reichte über die Zäsur der 1970er- und 1980er-Jahre hinaus, als der Glaube an die wissenschaftlich fundierte Gestaltbarkeit von Politik zwar schwand, die Position von Experten im politische Entscheidungsfindungsprozess aber dennoch nicht in Frage stand. Die meisten Beiträge konzentrierten sich auf die Bundesrepublik Deutschland, allerdings wurden auch Entwicklungen außerhalb der deutschen Grenzen, hinter dem „Eisernen Vorhang“ und an der Peripherie Europas, miteinbezogen. Die Referate beleuchteten die Generierung sowie die Verwendung von Wissen und zeigten, dass nicht mehr nur der Staat wissenschaftliche Expertise nachfragte, sondern ebenso Gewerkschaften, Parteien oder Bürgerinitiativen. Sie spürten auch den Pluralisierungstendenzen auf der Anbieterseite nach und untersuchten Experten unterschiedlicher Fächer aus Universitäten und außeruniversitären Forschungsinstituten, die zunehmend als professionelle Wissensdienstleister auftraten.

Zwei Längsschnittvorträge rahmten die Veranstaltung und stellten die Vorträge in den weiteren Kontext des gesamten 20. Jahrhunderts, denn die Ausbreitung wissenschaftlichen Wissens begann nicht erst nach 1945. Vielmehr stellte diese Phase – wie auch die Zwischenkriegszeit – eine Konjunktur dar. MARTIN LENGWILER (Basel) zeichnete nach, wie der Ausbau der europäischen Sozialstaaten wissenschaftlicher Expertise bedurfte und selbst wiederum solche generierte, nicht nur durch die Förderung universitärer Forschung, sondern auch innerhalb der staatlichen Bürokratien. Die in vielen europäischen Ländern herrschende Leitvorstellung, Risiken der Arbeitslosigkeit, Krankheit und Invalidität berechenbar zu machen, habe bereits seit Ende des 19. Jahrhundert die Voraussetzungen für ein „Verwissenschaftlichungs-Laboratorium“ geschaffen. Allerdings, so Lengwiler, handele es sich, anders als der Begriff der Verwissenschaftlichung von Politik nahe legt, nicht um eine Einbahnstraße, sondern vielmehr um gegenseitige Einflussnahme. MITCHELL G. ASH (Wien) griff diesen Aspekt in seinem Abendvortrag auf und beleuchtete das Verhältnis von Politik und Wissenschaft als Beziehungsgeschichte. Beide seien Ressourcen füreinander und eine Kollaboration zwischen ihnen der Normalfall, nicht die Ausnahme. Ash betonte, dass die umfangreiche Forschung über Wissenschaft im ,Dritten Reich’ sichtbar gemacht habe, wie wissenschaftliche Kontroversen mit politischen Mitteln geführt wurden und Politik sich mit wissenschaftlicher Expertise legitimierte, und damit Fragen aufgeworfen habe, die sich auch in demokratisch-pluralistischen Systemen stellten.

Wie lässt sich also das Verhältnis von Wissenschaft und Politik nach 1945 charakterisieren? Eines zeigten die Vorträge deutlich: Eine eindeutige und einfache Antwort fällt schwer – dies umso mehr, als die beiden Bereiche Politik und Wissenschaft in Zeiten der Neuen Politikgeschichte immer weniger als klar abgrenzbare Bereiche betrachtet werden können.2 Es geht längst nicht mehr nur um das Handeln des Staates und seiner Institutionen einerseits oder um akademisch generiertes Wissen, insbesondere die Sozialwissenschaften, andererseits. Trotz des weiten Panoramas, das die Beiträge aufspannten, verdichtete sich die Diskussion an einigen Stellen und ließ Hauptachsen des Forschungsfeldes erkennen.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nutzten nicht nur staatliche Institutionen, sondern auch nichtstaatliche Akteure die Ressource Wissenschaft in wachsendem Maße. JOHANNES PLATZ (Trier) stellte die Gewerkschaften als Akteure in den Mittelpunkt seines Vortrags, konkret die Deutsche Angestellten Gewerkschaft und den Deutschen Gewerkschaftsbund, die sich um das Schwinden von Standesunterscheiden stritten und damit die Auseinandersetzung mit dem sozialwissenschaftlichen Theorem der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ anregten. Er zeigte, wie die politisch-gesellschaftliche Diskussion zu einer gewerkschaftlich geförderten Forschungstätigkeit führte, die das wissenschaftliche Interesse an der Angestelltensoziologie erneut entfachte.

Die gestiegene Nachfrage nach wissenschaftlicher Expertise schuf die Grundlage für neue außeruniversitäre Forschungseinrichtungen, von denen einige sogar privatwirtschaftlich organisiert waren. ELKE SEEFRIED (Augsburg) stellte neben dem Zentrum Berlin für Zukunftsforschung die Prognos AG vor, die für Wirtschaft wie Politik „Zukunftsforschung“ anbot. Sie untersuchte, wie die Bundesministerien der Großen und der sozial-liberalen Koalition im Zeichen der Planungseuphorie Beratungsleistungen der beiden Anbieter nutzten, von denen sie sich mehr Entscheidungs- und Planungssicherheiterhofften. Wissenschaftler stellten ihre Dienste jedoch nicht nur zur Verfügung, sondern profilierten sich auch als politische Akteure. Das wechselseitige Interaktionsverhältnis beleuchtete vor allem der Beitrag von WILFRIED RUDLOFF (Kassel) am Beispiel der bundesdeutschen Psychiatriereform. In den 1970er-Jahren habe eine günstige Ausgangssituation für die Initiative der Experten geherrscht, wie er betonte. Das Politikfeld war nur wenig administrativ verankert und kaum von parteipolitischen Kämpfen vereinnahmt, was das Gewicht der spezialisierten und etablierten Wissenschaft der Psychiatrie verstärkt habe. Der Vortrag diskutierte die Frage, wie verschiedene Funktionen von Wissenschaft im Verhältnis zur Politik mit Hilfe des Modells der policy-cycles kategorisiert werden können: Problemwahrnehmung, agenda-setting, Programmformulierung, Evaluation.

Einfacher als die Beziehungsgeschichte zwischen Politik und Wissenschaft in Begriffe zu fassen, erwies sich die Frage nach Phasen und Zäsuren. Die 1970er-Jahre, darin war sich das Plenum einig, markierten einen Umbruch. TIM SCHNATZEKY (Jena) rückte den veränderten Umgang der Politik mit wissenschaftlicher Expertise in den Mittelpunkt. Mit Blick auf den 1963 in der Bundesrepublik eingerichteten Sachverständigenrat und seiner Bearbeitung des Strukturwandels wies er auf eine scheinbare Paradoxie hin: In der Zeit „nach dem Boom“ schwand das Vertrauen in die wissenschaftlich fundierte Entscheidungs- und Planungssicherheit, dennoch wuchs die Bedeutung der institutionalisierten Politikberatung. Im weiteren Verlauf der Tagung zeigte sich, dass zwei Merkmale die erneute Ausweitung wissenschaftlichen Wissens bestimmten. Erstens ergab sich die Ausweitung von Politikberatung durch das Auftreten von Gegenexperten. Dies beleuchtete vor allem CARSTEN DEDERT (Berlin) am Beispiel der Umweltpolitik. Er machte deutlich, dass ein Prozess der „Entmonopolisierung des Expertentums weg vom Staat“ stattfand. Bürgerinitiativen machten der Bundesregierung und den von ihr beauftragten Wissenschaftlern die alleinige Entscheidungskompetenz streitig. Zweitens betraf die Verwissenschaftlichung immer mehr Politikfelder. Wissenschaftliche Expertise war nicht mehr nur in der Sozialpolitik, sondern wurde nun ebenso in der Bildungs-, Rechts- oder Umweltpolitik eine selbstverständliche Größe politischer Entscheidungsfindung. In der Diskussion wurde immer wieder angemahnt, die Meistererzählung, wonach auf die Phase der Ausweitung die Ernüchterung und anschließend der Niedergang erfolge, zu hinterfragen, denn die Wissenschaften hatte sich im politischen Diskussions- und Entscheidungsfindungsprozess fest etabliert.

Welchem Zweck diente aber die Einbindung der Wissenschaften in die Politik, nachdem sich herausgestellt hatte, dass ihre Erkenntnisse keine Entscheidungssicherheit garantieren? Warum hielt die Nachfrage nach wissenschaftlichem Wissen in den Jahrzehnten „nach dem Boom“ an? 3 Mögliche Antworten zeichneten sich in den Diskussionen ab. Mit der Heranziehung wissenschaftlicher Expertise verbreiterte sich die Basis der gehörten Interessen. Zudem dienten wissenschaftlich besetzte Beratungsgremien dazu, parteipolitischen Blockaden in den öffentlich präsenten Staatsgremien auszuweichen. Wissenschaft erfüllte also zunehmend genuin politische Funktionen. Welche Rückkopplungseffekte sich daraus für die Wissenschaft ergab, ist bisher eine wenige beachtete Frage. Auch die Tagung blickte vornehmlich auf die Politikseite der Beziehungsgeschichte. Eine Ausnahme bildete allerdings der Beitrag RODERICH VON DETTENs (Freiburg), der die Binnenperspektive der Forstwissenschaft während der Waldsterbens-Debatte beleuchtete.

Die nationalstaatlichen Grenzen wurden – wie so oft – erst in der letzten Sektion überschritten, obwohl Martin Lengwiler bereits in seinem Eröffnungsvortrag die transnationale Dimension von Verwissenschaftlichungsprozessen ins Zentrum gerückt hatte. HEINRICH HARTMANN (Berlin) umriss seine Forschungen über die Tätigkeit europäischer Entwicklungsexperten, die in der Türkei bevölkerungspolitische Projekte durchführten. Dabei wurde klar, dass Zäsuren und Begriffe, die sich für die Erforschung der Bundesrepublik bzw. westlicher Industriestaaten eignen, in diesen gänzlich anderen Kontexten nur bedingt verwendet werden können, zumal der Blick auf Transferprozesse eigene Fragen aufwirft.

Die Konzentration auf die Bundesrepublik Deutschland erwies sich als sinnvoll, da sich die Tagung auf diese Weise nicht darauf beschränkte, ein Panorama der bisherigen Forschungen aufzuzeigen, sondern vielmehr auch generalisierende Überlegungen in Form von Periodisierungen und Typologisierungen vornahm. Internationale oder transnationale Fragestellungen, die der Untersuchungsgegenstand nahe legt, wurden zwar angeschnitten, allerdings ließe sich diese Perspektive noch systematischer verfolgen. Die Vorträge und Diskussionen machten hingegen besonders deutlich, dass die Verwissenschaftlichung von Politik eine zentrale Signatur des 20. Jahrhunderts darstellte. Auch für die Zeitgeschichtsschreibung der 1970er- und 1980er-Jahre verspricht diese Forschungsperspektive wichtige Einsichten.

Konferenzübersicht:

Begrüßung und Einführung
Meik Woyke, Bonn

Konjunkturen und Krisen der Verwissenschaftlichung der Sozialpolitik im europäischen 20. Jahrhundert - Martin Lengwiler (Basel)

"Die white collars in den Griff bekommen“: Angestellte im Spannungsfeld sozialwissenschaftlicher Expertise, gesellschaftlicher Politik und gewerkschaftlicher Organisation 1950–1968 - Johannes Platz (Trier)

Moderation: Friedhelm Boll (Bonn)

Wissenschaftliche Expertise in der Wirtschaftspolitik: der
Sachverständigenrat und der Strukturwandel (1975–1985) - Tim Schanetzky (Jena)

Prognostik und Politik: die Prognos AG als Beraterin bundesdeutscher Ministerien 1966–1973 - Elke Seefried (Augsburg)

Moderation: Beatrix Bouvier (Bonn)

Öffentlicher Abendvortrag
Wissenschaft und Politik: eine Beziehungsgeschichte im 20. Jahrhundert
Mitchell G. Ash (Wien)

Anschliessend im Gespräch mit Klaus Liepelt, dem Gründer des „Instituts für angewandte Sozialwissenschaft“ (infas)
Moderiert von Anja Kruke (Bonn)

Politikberatung in Deutschland 1955–1975: Expertensteuerung der Umweltpolitik? - Carsten Dedert (Berlin)

Phantasma und Verantwortung – zum Verhältnis von Wissenschaft, Öffentlichkeit und Umweltpolitik in der Debatte um das Waldsterben - Roderich von Detten, Freiburg

Moderation: Dieter Dowe (Bonn)

Expertenkommissionen, Masterpläne und Modellprogramme: Die bundesdeutsche Psychiatriereform und die Probleme einer ,verwissenschaftlichten’ Politik - Wilfried Rudloff (Kassel)

Interessiertes Wissen – Interessenvereinigungen als Wissenslieferanten im Gesetzgebungsverfahren - Alexander Klose (Berlin)

Moderation: Michael Schneider (Kalenborn)

Soviet cybernetics: The politics of scientific governance in an authoritarian regime - Egle Rindzeviciute (Göteburg)

Wissensräume und ihre Grenzen. Entwicklungspolitische Expertise europäischer Demografen in der Türkei nach dem Zweiten Weltkrieg - Heinrich Hartmann (Berlin)

Moderation: Patrik Von Zur Mühlen (Bonn)

Anmerkungen:

1 Zur Forschungsperspektive der Verwissenschaftlichung von Politik Lutz Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 165-193; Stefan Fisch / Wilfried Rudloff (Hrsg.), Experten und Politik. Wissenschaftliche
Politikberatung in geschichtlicher Perspektive, Berlin 2004.
2 Vgl. vor allem Ute Frevert, Neue Politikgeschichte: Konzepte und Herausforderungen, in: dies. / Heinz-Gerhard Haupt (Hrsg.), Neue Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung, Frankfurt a. M. 2005, S. 9-26.
3 Zum letzten Drittel des 20. Jahrhunderts als Zeit „nach dem Boom“ Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008.

Kontakt

Nicole Kramer, LMU München und Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

E-Mail: <kramer@lrz.uni-muenchen.de>


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