Der Majestätsbrief Rudolfs II. von 1609 – ein Meilenstein in der Geschichte Europas?

Der Majestätsbrief Rudolfs II. von 1609 – ein Meilenstein in der Geschichte Europas?

Organisatoren
Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO), Leipzig; Institut für Geschichte der Tschechischen Akademie der Wissenschaften, Prag
Ort
Leipzig
Land
Deutschland
Vom - Bis
24.09.2009 - 26.09.2009
Url der Konferenzwebsite
Von
Christian Preusse, Oriel College, Oxford

Vom 24. bis 26. September 2009 fand zum vierhundertsten Jahrestag der Erlassung des Majestätsbriefs in Prag die Tagung „Der Majestätsbrief Rudolfs II. von 1609 – ein Meilenstein in der Geschichte Europas?“ statt. Tschechische und deutsche Wissenschaftler waren zusammengekommen, um die Bedeutung der im Majestätsbrief kodifizierten friedlichen Koexistenzordnung verschiedener Konfessionen zu diskutieren und in den europäischen Kontext anderer frühneuzeitlicher Religionsfrieden einzuordnen. So lieferte die gemeinsam vom Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) in Leipzig und dem Institut für Geschichte der Tschechischen Akademie der Wissenschaften organisierte Tagung wichtige Anregungen für eine breitere Einordnung in den europäischen Zusammenhang von entstehenden konfessionellen Koexistenzlösungen.

Den Auftakt bildete ein Abendvortrag von WINFRIED EBERHARD (Leipzig), der den Majestätsbrief, der in Böhmen die volle korporative und individuelle Religionsfreiheit brachte, in einem strukturgeschichtlichen Überblick in die langfristige Entwicklung des Verhältnisses der Konfessionen in Böhmen einordnete. Eberhard stellte die polarisierenden Konfliktkonstellationen auf dem Weg zum Majestätsbrief und die Auseinandersetzung um konfessionelle Hegemonie als einen dynamischen Prozess dar, in dem Integration und Koexistenz im Rahmen der Ständeverfassung immer wieder neu ausgehandelt und gestaltet werden mussten. Aus dieser Entwicklung haben sich Ideen und Modelle konfessioneller Koexistenzordnungen sowie eine überkonfessionelle pragmatische Toleranz gespeist. Ein Mechanismus, den Eberhard, im Anschluss an Robert Kalidova, als „konkrete Dialektik“ charakterisierte. Der Majestätsbrief sei jedoch erzwungen worden und nicht Ergebnis des ständischen Konsenssystems gewesen. Dies war gelungen, weil Rudolf II. in einer doppelten Frontstellung gegen seinen Bruder Matthias und die protestantischen Stände gestanden habe. Eberhard deutete den Majestätsbrief daher als Ergebnis von Gewalt bzw. Gewaltandrohung und nicht als Resignation von Gewalt, wie sie noch 1435 und 1485 zu finden gewesen war. Daher – so sein Ergebnis – war diese Lösung auch nur für kurze Zeit tragfähig.

Die erste Sektion „Der Majestätsbrief in der Historiographie und Erinnerungskultur“ wurde von JAROSLAV PÁNEK (Prag) mit einem Vortrag zu den historiographischen Konjunkturen des Majestätsbriefs eröffnet. Er stellte heraus, dass sich an den aus dem 19. Jahrhundert stammenden drei großen Interpretationslinien nationalistisch, liberal und konservativ bis zur Nachkriegszeit wenig geändert habe. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte dann vor allem Kamil Krofta, komplementär zu Antonín Gindelys liberaler Interpretation, zu einer positiven Würdigung und Popularisierung in demokratischem Geist und Begriffsrahmen gefunden. Die marxistische Historiographie habe aufgrund ihrer divergierenden Erkenntnisinteressen vor allem den konfessionellen Faktor marginalisiert. Wichtige Impulse für die Sicht auf die Epoche vor der Schlacht am Weißen Berg sind in dieser Zeit und bis in die 1990er-Jahre hinein von ausländischen Historikern gekommen (zum Beispiel Olivier Chaline, Winfried Eberhard, Joachim Bahlcke und Robert J. W. Evans). Neuerscheinungen zum 400jährigen Jubiläum des Majestätsbriefs haben der historiographischen Sicht auf den Gegenstand neue Impulse verliehen und einer breiteren gebildeten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Dazu haben auch die Aufnahme neuerer methodischer Zugänge sowie eine deutliche Entpolitisierung der Geschichtswissenschaft beigetragen. Die jüngsten Synthesen zur frühneuzeitlichen böhmischen Geschichte deuten den Majestätsbriefs als Meilenstein auf dem Weg zur friedlichen konfessionellen Koexistenz in Europa und kontextualisieren ihn über die tschechische Nationalgeschichte hinaus.

Den zweiten Teil des Panels bestritt MARTINA THOMSEN (Leipzig), die ausgehend von der Definition von Erinnerungsorten des französischen Historikers Pierre Nora den Gründen für die unterschiedliche Gewichtung des Augsburger Religionsfriedens und des Böhmischen Majestätsbriefs in der deutschen bzw. tschechischen Erinnerungskultur nachging. Während der Augsburger Religionsfrieden, traditionell als Teil der „Memorial-Trias“ der Protestanten (Thesenanschlag 1517, Confessio Augustana 1530, Augsburger Religionsfrieden 1555 und später auch der Westfälische Frieden von 1648), bis heute in Gedenkveranstaltungen erinnert wird, so gelte dies für den Majestätsbrief nicht. Als Gründe machte Thomsen hierfür aus, dass der Kuttenberger Religionsfrieden von 1485 bereits ein Religionsfrieden und damit ein Meilenstein zum Ausgleich war. Der Majestätsbrief sei gewissermaßen eingeklemmt gewesen zwischen zwei wichtigen Erinnerungsorten der böhmischen Geschichte, dem Märtyrertod von Jan Hus 1415 und der Niederlage in der Schlacht am Weißen Berg 1620. Ferner hätten die kurze Lebensdauer des Majestätsbriefs und eine fehlende protestantische Traditionslinie in Böhmen aufgrund der massiven Rekatholisierung nach 1620 zur divergierenden Erinnerungskultur beigetragen. Dazu kam der Vorrang von dynastischen Feiern während der österreichischen Herrschaft und der Herausbildung einer bürgerlichen Festkultur im 19. Jahrhundert. Aufgehoben scheint der Erinnerungsort „Majestätsbrief“ zudem im Gesamtkomplex der Glorifizierung der kulturellen Blüte unter Rudolf II., der sogenannten „Goldenen Ära“.

TOMÁŠ ČERNUŠÁK (Brünn) machte in seinem Vortrag zur päpstlichen Politik in Mitteleuropa deutlich, dass der Heilige Stuhl die politische Situation nie nur im rein böhmischen Rahmen, sondern immer im ganzen mitteleuropäischen Gefüge beurteilt hat, das heißt vor allem die reichspolitische Dimension mit in seine Beurteilung einbezogen hatte. Er zeigte, dass der Papst kritisch gegenüber Rudolf II. eingestellt gewesen sei, weil dieser sich nicht entschlossen genug für den Katholizismus eingesetzt habe. Im Ergebnis wurde deutlich, dass Rudolf II. von der päpstlichen Diplomatie sehr kritisch beurteilt worden ist.

JAROSLAVA HAUSENBLASOVÁ (Leipzig) beschäftigte sich in ihrem Vortrag mit der Rolle Sachsens und seiner Gesandten in Prag im Vorfeld der Aushandlung des Majestätsbriefs. Aufgrund des traditionellen reichspolitischen Patriotismus des lutherischen Sachsen, der schon die Augsburger Friedenslösung möglich gemacht hatte, versuchte die sächsische Diplomatie – in einer zwischen 1606 und 1609 auch reichspolitisch sehr angespannten Situation – zu vermitteln und konnte so zum Teil die Schwäche Rudolfs kompensieren. Ein Hauptziel der sächsischen Politik sei es gewesen, den Einfluss katholischer Cliquen am Prager Hof zurückzudrängen und den Kaiser im Sinne der gemäßigten protestantischen Stände zu beeinflussen. Diese Sektion wurde geschlossen mit einem Beitrag von INES RÖßLER (Leipzig), die in ihrem Vortrag der Frage nachging, ob und inwieweit der Majestätsbrief eine Fortführung bzw. Kodifizierung der Glaubensgrundsätze und Regelungen zur religiösen Praxis aus der Confessio Bohemica gewesen ist. Sie kam zu dem Ergebnis, dass in Böhmen bereits eine unumkehrbare Konsolidierung der reformierten Kirchenpraxis stattgefunden habe. Die an der Abfassung der Confessio Bohemica beteiligten protestantischen Stände hätten also keine Notwendigkeit mehr gesehen, bereits ausgehandelte und praktizierte Glaubensgrundsätze ihrem Forderungskatalog anzugliedern. Sowohl die Confessio Bohemica als auch der Majestätsbrief könnten daher als Etappen der nachfolgenden Kodifizierung von bereits bestehender religiöser Praxis gesehen werden.

Die Folgesektion „Der Majestätsbrief in der Ständepolitik“ wurde eröffnet von VÁCLAV BŮŽEK (České Budějovice), der herausstellte, wie Petr Vok von Rosenberg rhetorisch eine enge Verbindung zwischen freier Religionsausübung und Gemeinwohlvorstellungen hergestellt hat, wobei die Gemeinwohlträger durch König und Stände verkörpert worden seien. Seine Zielvorstellung sei eine allgemeine Religionsfreiheit gewesen, die sich nicht nur auf Lutheraner (wie im Augsburger Religionsfrieden) beschränken sollte. Bůžek charakterisierte Rosenbergs Einstellung als durchaus getragen von überkonfessionellen und allgemein christlichen sowie patriotischen Motiven, deren Ziel die Erhaltung von Frieden und Eintracht als frühneuzeitliche Grundwerte gewesen sei.

Im Anschluss sprach TOMÁŠ KNOZ (Brünn) über das mährische konfessionelle Koexistenzkonzept. Dort habe der Majestätsbrief keine Geltung gehabt, weil ein anderes Ausgleichsarrangement zwischen den Konfessionen gültig gewesen sei, das vor allem auf einer mündlichen Absprache mit Matthias beruht habe. Die mährischen Stände hätten die böhmischen Stände als unzuverlässig und häufig von Eigeninteresse geleitet gesehen, das jedoch mit mährischen Interessen nicht identisch gewesen sei. Aufgrund des Verhältnisses zu Matthias und der abweichenden Rechtsstellung Mährens mit eigenem Landrecht, auf das sich die Stände immer wieder berufen haben, wurde nach der Niederschlagung der Ständeopposition 1620 der mährische Teil des Aufstandes anders beurteilt als der böhmische.

PAVEL MAREK (České Budějovice) referierte im Anschluss zur Rezeption des Majestätsbriefs durch den böhmischen katholischen Adel. Die Katholiken zerfielen im Wesentlichen in zwei Fraktionen: Eine gemäßigte und eine „spanische“ radikal anti-utraquistische. Rudolf II. sei in der schwierigen Situation gewesen, dass ihm auf der einen Seite eine Blamage in der katholischen Welt gedroht habe, wenn er den Ständen Zugeständnisse machte; aber falls er es nicht tat, so hätte ihm auf der anderen Seite ein Ständeaufstand im Verbund mit Matthias gedroht, der ihn aller Voraussicht nach den Thron gekostet hätte. Viele katholische Adelige, darunter einflussreiche wie Zdenko Adalbert Popel von Lobkowitz, haben den Majestätsbrief nicht anerkennen wollen, weil er – so ihre Interpretation – von den protestantischen Ständen erzwungen worden war. Darin wurden sie von den katholischen Mächten Europas und der Prager Nuntiatur bestärkt. Eine Ausnahme war Adam von Sternberg als Vertreter des gemäßigten Teils der Katholiken, der den Majestätsbrief schließlich unterzeichnete und für ein Zugehen auf die Protestanten geworben hat.

Diese Sektion wurde geschlossen durch PETR VOREL (Pardubice), der in einem der interessantesten Referate der Tagung zeigte, wie sich die Steuerpolitik unter Matthias geändert hatte, um das Problem der Verschuldung in den Griff zu bekommen. 1615 genehmigten die Stände Matthias das Steuererhebungsrecht für fünf Jahre. Unterzieht man diesen Beschluss jedoch einer genaueren Analyse, so zeige sich laut Vorel, dass damit de facto der Staatsbankrott erklärt worden war und die Steuerverwaltung weitgehend in ständische Hand überging. Es ist in diesem Zuge zu einem Verbot gekommen, für eine Neuverschuldung mit dem Kammervermögen zu bürgen, und ebenso zur Einschränkung, mit neu erhobenen Steuern in erster Linie Schulden in Böhmen zu tilgen und nicht ausländische Schulden. Der Landtag hat zudem die Reihenfolge der zu bedienenden Gläubiger festgelegt, und als Zielvorgabe wurde Schuldenfreiheit im Jahr 1620 formuliert.

Das letzte Panel des Tages schließlich widmete sich dem Thema „Ideal, Norm und Realität: Der Majestätsbrief in der Alltagspraxis“. Hier machte JIŘÍ JUST (Prag) zum Auftakt deutlich, dass aufgrund der religiösen Traditionen, die schon zur Confessio Bohemica geführt hatten, ein Ausgleich der böhmischen Protestanten möglich war, was im gesamteuropäischen Rahmen betrachtet als Ausnahme zu werten sei. Allerdings machte er auch darauf aufmerksam, dass dieser Ausgleich eher von Ständepolitikern getroffen wurde als von Theologen.

PAVEL KŮRKA (Prag) konstatierte in seinem Vortrag, dass der Majestätsbrief zunächst keinen allzu großen Einfluss auf Prager Gemeinden gehabt habe. Korrespondenzen von Predigern mit dem Konsistorium zeigten, dass dieselben Probleme auf der Tagesordnung standen. Die Position des Neuutraquismus im Machtgefüge der Stadt verbesserte sich langsam, aber kontinuierlich, und der Altutraquismus verschwand nahezu völlig aus dem politischen Raum.

WULF WÄNTIG (Hamburg) ging in seinem Vortrag der Frage nach, inwiefern der Majestätsbrief den Deutungshorizont der Menschen an der Peripherie der Böhmischen Länder vereinnahmte und ihrer lokal geprägten Weltsicht eine von außen diktierte Komponente hinzufügte. Wäntig kam zu dem Ergebnis, dass der Majestätsbrief seine Bedeutung vor Ort nicht aus seinem Charakter als juristische Konstruktion erhalten habe sondern aus der spezifischen Aneignung durch die Menschen. Diese zeige eine Welt, in der Konfession weit weniger dominant und scharf umrissen war, als es die Vorstellung vom Konfessionellen Zeitalter nahe lege. Es gebe Brüche zwischen politischer Rhetorik, der religiösen Praxis und konfessioneller Identität, ohne deren Verständnis die Vorstellung von der Bedeutung des Majestätsbriefs unzureichend bleiben müsse.

Den ersten Tag beschloss der Beitrag „Vergebliche Hoffnungen? Der Rudolfinische Majestätsbrief und das nichtkatholische höhere Schulwesen in Böhmen“ von MARTIN HOLÝ (Prag). Nachdem es, durch den Majestätsbrief induziert, zunächst zu einer Reihe von Schulneugründungen gekommensei, erlahmte dieser Prozess im Laufe der Zeit. Der Majestätsbrief vermochte offenbar keinen Rahmen für die langfristige Etablierung und qualitative Verbesserung des nichtkatholischen Schulwesens zu setzen. Als limitierende Faktoren für die Entwicklung eines nichtkatholischen Schulwesens identifizierte Holý vor allem fehlende finanzielle Mittel, zu wenig qualifiziertes Personal, starke Abhängigkeit von den jeweiligen Trägern bzw. Mäzenen und schließlich die geringe grenzüberschreitende Anziehungskraft der Schulen.

Die Sektion des dritten und abschließenden Konferenztages, „Auswirkungen des Majestätsbriefs auf Denkweisen und Propaganda“, wurde von JANA HUBKOVÁ (Ústí nad Labem) mit ihrem Vortrag zur Flugschriftenpropaganda in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts eröffnet. Hubková unterschied zunächst drei Hauptphasen der Flugblattpublizistik um den Majestätsbrief: Die Jahre 1609-1610, 1618-1621 und schließlich 1622-1632. In ihrem Vortrag konzentrierte sie sich auf die zweite Phase von 1618-1621. Der Majestätsbrief wurde darin zum Argument für eine Ordnung, die den Bestand des Protestantismus sichern sollte. Jesuiten und Kardinal Melchior Khlesl wurden als prominente Feindbilder aufgenommen. Insgesamt stellte Hubková eine große Kontinuität der Motive auf protestantischen Flugblättern fest, ältere Motive seien fortgeführt und in den neuen Kontext eingepasst worden. Friedrich von der Pfalz sei nach seiner Wahl durch Flugschriften erinnert worden, die im Majestätsbrief kodifizierte Koexistenzordnung zu befolgen. Im Gegenzug sei es das Ziel der kaiserlichen Propaganda gewesen, die Stände als bloß von Machtinteressen und nicht von religiösen Motiven getrieben darzustellen. Abschließend wies sie auf die zentrale Rolle von Freiheitsargumenten (Freiheit der Religion, freies exertitium religionis) in der Flugblattpublizistik hin.

Im Anschluss untersuchte JIŘÍ MIKULEC (Prag) barocke historische Schriften und betrachtete diese als eine Form von Propaganda. Barocke Historiographen haben die Kontinuität des Katholizismus in Böhmen betont und versuchten, durch Rekurs auf eine idealisierte Zeit unter den Przemysliden und Karl IV. eine Zeit der Eintracht zu beschwören, die für die Zukunft allein der Katholizismus garantieren könne. Die Zerrüttung während der Zeit der Hussiten sei als Folge von Häresie dargestellt worden. Auch hier spielte das Motiv der Eintracht als frühneuzeitlicher Grundwert und politikleitendes Konzept eine wesentliche Rolle. Die katholische Barockhistoriographie marginalisierte den Majestätsbrief und interpretierte ihn negativ, weil er als Niederlage katholischen Einheitsdenkens gewertet wurde. Hingegen wurde versucht, Rudolf II. nicht nur negativ und als schwachen Herrscher darzustellen, sondern ihn dennoch in positiverem Licht erscheinen zu lassen.

ANTONÍN KOSTLÁN (Prag) traf zu Beginn seines Vortrages zum Calvinismus in Böhmen die Unterscheidung zwischen dem Calvinismus als politischer Ideologie und dem Calvinismus als religiöser und intellektueller Bewegung. Der böhmische Calvinismus sei maßgeblich beeinflusst vom pfälzischen Calvinismus und seinen Bildungseinrichtungen. Er spielte eine Rolle auch schon vor dem Ständeaufstand in Böhmen, verlor aufgrund der forcierten Rekatholisierung nach der Niederlage am Weißen Berg aber zunehmend an Bedeutung. Durch den calvinistischen Internationalismus inspiriert, öffneten sich aber weitere Spielarten des böhmischen Protestantismus für eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit anderen protestantischen Strömungen.

PETR HLAVÁČEK (Prag) referierte dann über die Bedeutung messianischen Denkens in Böhmen. Er beschrieb nationale Messianismen als Teil europäischer Identität, insofern diese dazu dienten, den eigenen Platz im Rahmen der europäischen Christenheit zu definieren. Ein wichtiger Referenzpunkt war, dass in Böhmen die erste europäische Reformation stattfand, woraus man ein gewisses Selbstbewusstsein und seinen heilsgeschichtlichen Auftrag bezog. Die Zeit unter Karl IV. werde als goldenes Zeitalter beschworen und die Zeit unter Rudolf II. nach dem Majestätsbrief als ein neues goldenes Zeitalter. Böhmen sei als Zentrum des europäischen Protestantismus und als aktiver Teil der Heilsgeschichte im Kampf gegen den Antichrist gesehen worden. Diese Sicht änderte sich nach der Niederlage am Weißen Berg, seitdem wurde diese Zeit als goldene Vergangenheit glorifiziert, die dem habsburgischen Absolutismus weichen musste. Comenius schließlich legte im Rahmen dieser Ideen den Akzent auf die Rolle Europas als Hauptkontinent des Christentums, das wegen seiner Sünden durch die Krisen des 17. Jahrhunderts geprüft werde.

Die Beiträge der Tagung sowie die Diskussionen verdeutlichten, dass vor allem eine Einordnung in die europäische Entwicklung von Religionsfriedens- bzw. Koexistenzlösungen neue, erhellende Einsichten und Interpretationen liefern kann und dass auf diesem Feld noch am meisten zu tun bleibt. Ferner sollte neben dem politischen Kontext auch stärker der theologische Ideenkontext und seine Rückwirkung auf und seine Verzahnung mit politischen Programmen stärker berücksichtigt werden. Die Schlussbewertung des Majestätsbriefs im Rahmen der durch den Tagungstitel vorgegeben Frage blieb ambivalent: Zum einen kann er sicherlich als Meilenstein gesehen werden, wenn man ihn auf sein Potential für die Regelung friedlicher Koexistenz zwischen den Konfessionen hin befragt. Zum anderen ist dies aber skeptisch zu sehen, da er nur sehr kurze Zeit in Kraft war und deshalb nicht abzusehen ist, wie er sich in weiteren Krisen und Angriffen bewährt hätte. Die Beiträge der Tagung werden in einem Sammelband erscheinen.
§Konferenzübersicht:

Abendvortrag
Winfried Eberhard, Konfessionelle Polarisierung, Konfrontation und Koexistenz in Böhmen im 15. und 16. Jahrhundert

Sektion I: Der Majestätsbrief in der Historiographie und Erinnerungskultur

Jaroslav Pánek, Majestát 1609 jako historiografické téma [Der Majestätsbrief von 1609 als historiographisches Thema]

Martina Thomsen, Der Majestätsbrief von 1609 – (k)ein Erinnerungsort?
Das Jahr 1609 und die europäische Politik

Tomáš Černušák, Papežská politika ve střední Evropě v době před Majestátem a po něm - proměna nebo kontinuita? [Die päpstliche Politik in Mitteleuropa vor und nach dem Majestätsbrief – Veränderung oder Kontinuität?]

Jaroslava Hausenblasová, Diplomatické aktivity saského kurfiřta Kristiána II. v Praze 1609 [Diplomatische Aktivitäten des sächsischen Kurfürsten Christian II. in Prag 1609]

Ines Rößler, Der Majestätsbrief Rudolfs II. – Konstituiertes Recht oder „neue Toleranz“?

Sektion II: Der Majestätsbrief in der Ständepolitik

Václav Bůžek, Svoboda víry v myšlení a každodenním životě Petra Voka z Rožmberka [Religionsfreiheit im Denken und Alltagsleben Petr Voks von Rosenberg]

Tomáš Knoz, Žerotínská Morava – jiný koncept Majestátu [Žerotíns Mähren – ein anderes Konzept des Majestätsbriefs]

Pavel Marek, Recepce Majestátu Rudolfa II. v prostředí české katolické šlechty [Die Rezeption des Majestätsbriefs Rudolfs II. durch den böhmischen katholischen Adel]

Petr Vorel, Fiskální a měnová strategie českých stavů v letech 1609–1618 [Fiskalische Interessen und Währungsstrategien der böhmischen Stände 1609–1618]

Sektion III: Ideal, Norm und Realität: Der Majestätsbrief in der Alltagspraxis

Jiří Just, Nové uspořádání nekatolické církevní správy na základě Majestátu a jeho problémy [Die Neuorganisation der nichtkatholischen Kirchenverwaltung durch den Majestätsbrief und entstehende Probleme]

Pavel Kůrka, Rudolfův Majestát a pražské farnosti [Der Majestätsbrief und die Prager Kirchengemeinden]

Wulf Wäntig, Politische Rhetorik, religiöse Praxis, konfessionelle Identität – der Majestätsbrief in seinen Wirkungen an der Peripherie des Königreichs Böhmen

Martin Holý, Zmařené naděje. Rudolfův Majestát a nekatolické vyšší školství v Čechách [Vergebliche Hoffnungen. Der Rudolfinische Majestätsbrief und das nichtkatholische höhere Schulwesen in Böhmen]

Sektion IV: Auswirkungen des Majestätsbriefs auf Denkweisen und Propaganda

Jana Hubková, Majestát Rudolfa II. a jeho role v tištěné propagandě první třetiny 17. století [Der Majestätsbrief Rudolfs II. und seine Rolle in der Propaganda der Druckschriften im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts]

Jiří Mikulec, Majestát v myšlení barokní katolické společnosti [Der Majestätsbrief im Denken der barocken katholischen Gesellschaft]

Antonín Kostlán, Český kalvinismus mezi Majestátem a Bílou horou [Böhmischer Calvinismus zwischen dem Majestätsbrief und der Schlacht am Weißen Berg]

Petr Hlaváček, Komenský, Rudolfův Majestát a exkluzivita české církve v dějinách spásy [Comenius, Rudolfs Majestätsbrief und die Exklusivität der böhmischen Kirche in der Heilsgeschichte]


Redaktion
Veröffentlicht am