Europäische Großstädte zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Ende des Kalten Krieges (1945-1989)

Europäische Großstädte zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Ende des Kalten Krieges (1945-1989)

Organisatoren
Archiv der Hauptstadt Prag; Institut für internationale Studien, Karls-Universität Prag
Ort
Prag
Land
Czech Republic
Vom - Bis
06.10.2009 - 07.10.2009
Url der Konferenzwebsite
Von
Olga Fejtova, Archiv der Hauptstadt Prag

Am 6. und 7. Oktober 2009 fand bereits die 28. internationale Tagung des Archivs der Hauptstadt Prag und des Instituts für internationale Studien der Karls-Universität Prag statt, diesmal war sie der Urbanentwicklung der europäischen Großstädte nach dem Zweiten Weltkrieg gewidmet. Die Organisatoren gruppierten die Tagung in einigen Hauptthemenkreisen, die interdisziplinäre Ansichten auf die Entwicklung der Metropolen auf beiden Seiten des eisernen Vorhangs anboten. Die Beiträge der Historiker, Ethnologen, Kunst- und Architekturhistoriker zielten zwar auf den Gesamtkomplex der europäischen Städte, thematisierten aber vor allem Prag und die mitteleuropäischen Metropolen (Warschau, Krakau, Budapest).

Der erste Tagungstag brachte hauptsächlich die makrohistorische Perspektive auf den Nachkriegsaufbau der europäischen Städte und seine Konzeptionen zur Sprache, in denen moderne Visionen mit den Konzepten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Konflikt gerieten, indem sie auf das begrenzte ökonomische Potenzial und die Möglichkeiten der Kommunalpolitik stießen. Die Beiträge zur Großstadtproblematik nach dem Zweiten Weltkrieg, ihrem Umbau, der Modernisierung, aber auch ihrer Rekonstruktion, war von einer architekturhistorischen Perspektive dominiert. Nur in den Einführungsbeiträgen kamen die spezifische Problematik der multikulturellen Städte zur Sprache sowie die Auswirkungen der intensiven Kriegs- und Nachkriegsmigration auf die Gestaltung der neuen Stadtidentität (MAREK KREJČÍ). Angesprochen wurde ferner die demographische Entwicklung der westeuropäischen Metropolen, die sowohl die Außenfaktoren der strukturellen Änderungen als auch die Wirkung der Kommunalpolitik der einzelnen Städte widerspiegelte (LARS NILSSON). Die Diskussion betonte die Faktoren der Industrialisierung und Globalisierung, die beide entscheidend in die demographische Entwicklung der europäischen Metropolen eingegriffen haben; gleichzeitig stellte sich die Frage nach ihrer Vergleichbarkeit aus dem Gesichtspunkt der langfristigen Entwicklung. In diesem Zusammenhang stand auch der Beitrag zur Paradigmenanwendung der amerikanischen modernen Architektur und ihrer Urbankonzepte bei der Rekonstruktion der europäischen Städte (MARIA PRIETO). Deren Transfer wurde nicht nur durch die ökonomische Nachkriegsentwicklung, die eine Führungsposition des Finanzsektors nach sich zog, sondern auch durch die Eröffnung eines Raumes für moderne Architektur inmitten der ehemaligen Bebauung infolge der Kriegsereignisse begünstigt.

Spezifische Bedingungen des Umbaus und der Rekonstruktion der durch den Krieg oder als Folge von Naturkatastrophen bedeutend zerstörter Städte stellten das Thema eines weiteren Tagungsblocks. Angesprochen wurde einerseits die Renovierung deutscher Nachkriegsstädte (TOMÁŠ NIGRIN, GRUIA BADESCU), andererseits die Rekonstruktion der mazedonischen Metropole Skopje nach dem desaströsen Erdbeben im Jahr 1963 (INES TOLIC). Im ersteren Beitrag stand die unterschiedliche Ausführung der Nachkriegsrekonstruktion in der sowjetischen Besatzungszone und in anderen deutschen Gebieten im Vordergrund. Gleichzeitig wurden die Faktoren diskutiert, welche die Haltung der Stadtverwaltungen in Westdeutschland zur einfachen Rekonstruktion oder zur Modernisierung der zerstörten Städte beeinflussten. Im Fall von Skopje wurde die politische Konstellation als entscheidendes Element des Stadtwiederaufbaus betont. Die Stadtrekonstruktion wurde zum ersten Symptom der Globalisierung, nicht nur dank ihrer Realisierung, sondern auch dank der internationalen Mediatisierung, welche die Rekonstruktion zum Politikum auf Staats- und Kommunalebene machte.

Der folgende Themenkreis behandelte die Problematik des Nachkriegsumbaus und der Stadtmodernisierung – Berlin (ANTONELLO SCOPACASA), München (SIMONE EGGER), Istanbul (MURAT GÜL), Warschau (KRZYSZTOF MORDYŃSKI), Prag (KATEŘINA JÍŠOVÁ, VÁCLAV LEDVINKA) und Budapest (MÁRKUS KELLER). Das Leitmotiv dieser Referate war die Anknüpfung der Baukonzepte an politische Entwicklungen. Es interessierte insbesondere die Manifestation totalitärer Ideologien beim Entwurf urbaner Modernisierungs- und Entwicklungsstrategien und ihre faktische Realisierung in den ehemaligen Ostblockstaaten. Diese Urbanentwicklung, so ein Tagungsergebnis, muss allerdings nicht nur mit der internationalen Entwicklung in Verbindung gebracht werden, sondern ebenso sehr mit der lokalen politischen Elite. Als aufschlussreiches Vergleichsmoment erwies sich diesbezüglich die Nachkriegsentwicklung in Istanbul, wo die traditionelle und europaferne Urbankonzeption durch die großzügigen Vorhaben des Stadtausbaus und durch die Integration der Türkei in die europäischen militärischen und teilweise auch politischen Strukturen beeinflusst wurde. Die Pläne entstanden im unmittelbaren Bezug auf die persönlichen Ziele des Premiers Menderes, der autokratische Elemente des politischen Systems beim Stadtumbau zum Tragen brachte. Die Projekte der kommunistischen Systeme, ob es sich nun um die Rekonstruktion der Warschauer Zentralallee handelt, oder um das nicht realisierte Prager Stadtviertel Etarea, das den anspruchsvollen aktuellen Anforderungen an das Wohnen und dem Stand der modernen ausländischen Architektur Rechnung trug, oder aber um das ausgeführte Musterwohngebiet Óbuda in Budapest, zeigen einerseits die Tendenz, sich der Qualität der modernen westeuropäischen, aber auch sowjetischen Architektur anzunähern und parallel deren ideologische Anforderungen zu erfüllen, andererseits den „Verstoß“ dieser Vorhaben gegen die ökonomischen Möglichkeiten der jeweiligen Länder, der die Qualität des Aufbaus dramatisch beschränkte. Die Urbanentwicklung der „sozialistischen“ Stadt in den breiteren Rahmen der Entwicklung des 20. Jahrhunderts einzuordnen versuchte VÁCLAV LEDVINKA, dessen Beitrag den ganzen Themenblock zum Stadtumbau abschloss. Er stellte das Konzept der Urbanentwicklung Prags ab dem Anfang des 20. Jahrhunderts dar, als die Stadtverwaltung als Ausdruck ihres Selbstverständnisses noch erfolgreich nach einer planmäßigen Gestaltung der Stadtform strebte, über die Etappe der nazistischen und kommunistischen Deformierung der Urbankonzepte, die dem Bedarf der totalitären Ideologien unterlagen, bis hin zum gegenwärtigen Zeitraum, geprägt von einem vermeintlichen Verzicht auf die Planung der Stadtentwicklung, der zur spontanen Verbreitung der Bebauung in den Randteilen Prags und zur Devastation (der ungeregelten Rekonstruktion) des historischen Stadtzentrums geführt hat.

Der zweite Tagungstag fokussierte den Fragenkomplex eher auf der mikrohistorischen Ebene. Die mit dem Thema „Kulturpolitik, Ideologie und Tradition“ überschriebene Sektion befasste sich mit der Kommunalpolitik, der Beziehung zwischen „Bürger – Stadt – Staat“ und der damit verbundenen Problematik der Identität, das heißt Bürgeridentität aber auch Stadtidentität und deren Zusammenhänge. Die Stadt wurde dabei als lebender Organismus betrachtet, in dem die tertiäre Sphäre, die durch eigene Ansprüche bedeutend auch die Stadtgestalt in der Nachkriegszeit geprägt hat, an Bedeutung gewann. Der erste Themenkreis betraf die Benennung der Straßen und der Ortsnamen, die Kunstausstattung des öffentlichen Raumes (Denkmäler) und ihre Verbindung mit dem Zugehörigkeitsgefühl der Bevölkerung in den Städten (RAINER PÖPPINGHEGE, BARBORA LAŠŤOVKOVÁ, MAREK LAŠŤOVKA, TOMASZ WĘCŁAWOWICZ). Die Metamorphosen der Straßennamen in den deutschen, polnischen und tschechischen Städten spiegelten direkt proportional die Änderungen des politischen Systems wider, die Tendenz, sich unter den neuen Bedingungen vom alten System zu distanzieren und zugleich eine eigene Ideologie und deren politische Repräsentation vorzuführen. Diese Aneignung des Stadtraumes von Seiten der politischen Macht beeinträchtigte allerdings die Selbstidentifizierung der Bevölkerung mit dem Stadtraum. Deswegen blieb sie oft konservativ bei den älteren, ideologisch neutralen Namen, die in der informellen Kommunikation genutzt wurden und praktisch die neue „Amtstoponymik“ im Alltagsleben überlagerten. Noch deutlicher hat sich dieser Faktor bei den Verwaltungsreformen in der Bundesrepublik Deutschland an der Wende der 1960er- und 1970er-Jahre durchgesetzt (SABINE MECKING). Die Reduktion der Gemeindezahl und ihre Verbindung mit neuen oder modifizierten Gemeindenamen sind auf emotionalen Widerstand gestoßen, das heißt auf den Protest der Bevölkerung. Die Namen der Gemeinden oder von Teilen davon wurden in diesen Konflikten nicht nur zum Bekenntnis der Kommunalverwaltung, sondern standen auch für die Lokalgeschichte sowie Regionalidentität und wurden zum zentralen Identifikationsfaktor.

Referate, die sich der Stadtidentität hauptsächlich unter dem Gesichtspunkt der Kulturpolitik widmeten, beschlossen die Tagung. Es ging ihnen etwa um die Wirkung des Kulturtransfers bei der Organisation des Studentenlebens in tschechischen, slowakischen und polnischen Städten in den 1960er-Jahren (ZDENĚK NEBŘENSKÝ), um den Vergleich des Einflusses der Staats- und Kommunalpolitik in Frankreich und in der DDR, der auch bestimmte Parallelen bezüglich der Staatseingriffe in die Organisationssphäre der kommunalen Kulturaktivitäten auf beiden Seiten des getrennten Europas in der Nachkriegszeit andeutete (THOMAS HÖPEL), aber auch um die Gestaltung des neuen Kulturbildes der Stadt Leipzig nach dem Zweiten Weltkrieg, das gezielt seine neu erzwungene Kulturidentität auf das Buch- und Musikgebiet reduzierte (HELEN BLUEMEL). Das Bild Prags und seine Identität wurden dann mittels der Aktivitäten der Stadtverwaltung in den ersten Nachkriegsjahren gezeichnet, als die Verbindung mit der Geschichte, die Vision der Zukunft und die Kontinuität der Vorkriegsentwicklung sich vor allem im Kulturbereich in konkreten politischen Schritten manifestierten (BLANKA SOUKUPOVÁ).

Die Tagung bestätigte in erster Linie die Vergleichbarkeit der Nachkriegsentwicklung der europäischen Städte des Ost- und Westblocks, weil sie mehrere Parallelen in den Prozessen der Urbankonstruktion aufzeigte. Eindeutig wurde nachgewiesen, dass die moderne Geschichte Prags, auf der ein wichtiger Fokus lag, aber auch der anderen europäischen Städte, nicht nur im Rahmen der üblichen Quellenforschung erfasst werden kann, sondern ihr spezifisches Profil erst aus einem Forschungsvergleich gewinnt, der die geo-politische Teilung Europas in seinen Nachkriegsgrenzen berücksichtigt und zugleich über diese Grenzen hinwegblickt.

Konferenzübersicht:

Plenary Session: Changes of the Cities

Václav Ledvinka, Archiv der Hauptstadt Prag
Opening of the Conference

Jiří Pešek (Fakulta sociálních věd, Univerzita Karlova v Praze)
European Cities within the Period of the Wold War II´s End up to the Cold War´s End (1945-1989)

Marek Krejčí (Ministerstvo kultury České republiky)
Ours and theirs. The Journey from the Multicultural Cities of the East-Central Europe to the National ones and back

Lars Nilsson (Stockholm University)
European Urban Development, 1950-2000

Maria Prieto (University of Camilo José Cela, Madrid)
Cold War Europe and the Imagining of a City-Continent of the Future

Plenary Session: Restoration and Reconstruction of Destroyed Cities

Tomáš Nigrin (Fakulta sociálních věd, Univerzita Karlova v Praze)
„Stunde null“ of the German Cities – Berlin and Düsseldorf in the years 1945-1947

Gruia Badescu (London School of Economics and Political Science)
Urban Elite and Postwar Reconstruction: Politics, Architecture and Identity in Rebuilding West Germany´s Cities after 1945

Ines Tolic (School for advanced students in Venice)
The reconstruction of Skopje (Yugoslavia) after the earthquake of 1963

Plenary Session: Redevelopment and Modernisation of Cities

Antonello Scopacasa (Studio Ideale, Berlin)
City space construction on border of the post-war Berlin centre: The case of Leipziger/Postdamer Strasse

Simone Egger (Ludwig Maximilians-Universität, München)
München wird Weltstadt. Väterchen Timofei und die Olympischen Spiele

Murat Gül (International University of Sarajevo)
Transformation of Istanbul after the Second World War

Krzysztof Mordyński (The Independence Museum, Warszawa)
The socialist realizm architecture in Warsaw as a new society creation tool (1949-1955). An example of „Marszalkowska“ Residence District

Kateřina Jíšová (Archiv hlavního města Prahy)
Etarea – A Dream of an Ideal Satellite City

Márkus Keller (1956-er Institut, Budapest)
Modernität in Osten? Die Errichtung der Óbudaer Versuchswohnsiedlung in Ungarn

Václav Ledvinka (Archiv hlavního města Prahy)
Prague – Periods of Development: Formation, Deformation and Non-formation of the City

Plenary Session: Culture Politics, Ideology, Tradition and Identity (I)

Rainer Pöppinghege (Universität Paderborn)
Remembering the Third Reich? Street Names in German Cities after 1945

Sabine Mecking (Heinrich-Heine Universität, Düsseldorf)
Mehr als Schall und Rauch: Stadtnamen und städtische Symbole vor dem Hintergrund der kommunalen Gebietsreform in Westdeutschland

Tomasz Węcławowicz (A. Frycz Modrzewski Krakow Academy)
Appropriation of the Space in the Historical Cities in the Communist Period. The Example of Cracow

Barbora Lašťovková, Marek Lašťovka (Archiv hlavního města Prahy)
Prague Street Names as Means of Orientation and a Tool of Ideology

Plenary Session: Culture Politics, Ideology, Tradition and Identity (II)

Zdeněk Nebřenský (Fakulta humanitních studií, Univerzita Karlova v Praze)
The Representation of Student Clubs in the Central European Cities: Warsaw, Cracow, Prague, Bratislava in the 1960s

Blanka Soukupová (Fakulta humanitních studií, Univerzita Karlova v Praze)
Prague Identity and the „Prague-Ship“ during the Transformation from Democracy to Totalitarianism

Thomas Höpel (Institut für Kulturswissenschaften, Universität Leipzig)
Städtische Kulturpolitik in zentralistischen Demokratien und Diktaturen: Frenkreich und die DDR im Vergliech

Helen Bluemel (Cardiff University)
Identity in Transition: Leipzig´s Cultural Downfall After 1945

Jiří Pešek
Conference close


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