Geschichte - Demographie - Kartographie

Geschichte - Demographie - Kartographie

Organisatoren
Stefan Kroll / Michael Busch, Arbeitsbereich Multimedia und Datenverarbeitung in den Geisteswissenschaften, Universität Rostock; Rembrandt Scholz, Population History Lab des Max-Planck-Instituts für Demografische Forschung, Rostock
Ort
Rostock
Land
Deutschland
Vom - Bis
09.09.2009 - 11.09.2009
Url der Konferenzwebsite
Von
Peter Mantel, Arbeitsbereich Multimedia und Datenverarbeitung in den Geisteswissenschaften, Universität Rostock

Das "Population History Lab" des "Max-Planck-Instituts für Demografische Forschung" (MPIDF) und der "Arbeitsbereich Multimedia und Datenverarbeitung in den Geisteswissenschaften" der Universität Rostock richteten im September 2009 gemeinsam die Tagung "Geschichte - Demographie - Kartographie" aus. Diese hatte mehrere Ziele: Sie sollte eine Bestandsaufnahme der Historischen Demographie (HD) in Deutschland vornehmen und dieser mögliche künftige Richtungen aufzeigen. Insbesondere sollte sie auch zur weiteren Etablierung Rostocks als eines Zentrums der HD in Deutschland dienen. Zudem sollten neue Entwicklungen und Projekte auf dem Gebiet der Historischen Geographischen Informationssysteme (GIS) vorgestellt und auf ihre wissenschaftliche Tauglichkeit geprüft werden. Ein besonderer Schwerpunkt lag dabei auf der Analyse des Potentials des Einsatzes von GIS für historisch-demographische Fragestellungen. Und schließlich wurde sie zur Feier des 70. Geburtstag von Kersten Krüger veranstaltet, der wertvolle Beiträge zur skandinavischen Geschichte, zur Stadtgeschichte und zur Historischen Demographie geleistet hat und sich zudem stark für die Förderung (IT-gestützter) quantitativer Methoden in der Geschichtswissenschaft eingesetzt hat.

Roundtable-Gespräch
Ein Roundtable-Gespräch über die gegenwärtige Verfassung der Historischen Demographie in Deutschland, ihre Entwicklung der letzten Jahre und ihre Zukunftsaussichten eröffnete die Konferenz und steckte deren Rahmen ab. Teilnehmer waren unter der Moderation von BARBARA ZUBER GOLDSTEIN (Rostock) ROBERT LEE (Liverpool), GYULA PÁPAY (Rostock) und JÜRGEN WILKE (Berlin). Der Rückblick auf die Entwicklung der Historischen Demographie machte deren Defizite deutlich. Interessant war dabei insbesondere Robert Lees Blick von außen, aus England: Lee konstatierte eine "institutional marginality" der HD in Deutschland. Die vergleichsweise geringen Leistungen auf diesem Gebiet seien in bzw. über Deutschland zudem auch zu großen Teilen von Ausländern wie dem Schweizer Arthur E. Imhof, den Amerikanern John E. Knodel und David Warren Sabean sowie auch dem Österreicher Josef Ehmer erbracht worden. Die Defizite der deutschen HD fielen laut Lee besonders im Vergleich mit den Erfolgen der Disziplin in Frankreich und Großbritannien ins Auge - woran auch wenig ändere, dass die HD in Deutschland immerhin teilweise in der Landesgeschichte verankert sei.

Lee betonte daher die Notwendigkeit einer inhaltlichen Umorientierung der Disziplin: Stärker bei den Fragestellungen berücksichtigt werden müsse der "größere Kontext" - gerade auch durch neue Leitfragestellungen und Datenbasen. Insbesondere müsse eine stärkere Konzentration auf sektorübergreifende Daten erfolgen - und diese Daten dann stärker im Rahmen von Längsschnittsanalysen ausgewertet werden. Zudem müsse die gegenwärtige Tendenz der "übertrieben deskriptiven" Herangehensweise an historisch-demographische Fragestellungen zugunsten eines stärker analytischen Vorgehens verlassen werden. Lee hielt zudem eine Ausweitung der historisch-demographischen Datengrundlage durch eine verstärkte Nutzung von "problematischen" Quellen wie den nationalsozialistischen "Ortssippenbüchern" prinzipiell für sinnvoll; eine Auffassung, die allerdings Jürgen Wilke aus wissenschaftsethischen Gründen ablehnte.

In eine ähnliche Richtung wie Lees Ausführungen zielte Kersten Krügers Kommentar: Krüger betonte das enorme Potential, das in der Verbindung moderner Informationstechnologien und serieller Massendaten liege, das aber bei weitem noch nicht ausgeschöpft sei. Ein Hauptgrund dafür - und gleichzeitig ein gravierendes Forschungsdesiderat - sei, dass die entsprechenden Daten in Deutschland im Gegensatz zu anderen Ländern noch kaum erfasst seien und hier somit die entsprechende Grundlagenforschung fehle.

Gyula Pápay nannte schließlich mit der Nutzung von GIS ein Gebiet mit enormen Potential für eine sich weiterentwickelnde HD. Gleichzeitig wies er aber auch auf damit verbundene methodische Probleme hin, insbesondere auf das Problem der sich im Zeitablauf ändernden Grenzen von Verwaltungseinheiten, das eine Vergleichbarkeit historisch-demographischer Daten erschwere. Einen Lösungsansatz sah Pápay darin, nicht Verwaltungseinheiten als GIS-Grundlage zu nehmen, sondern "demographische Gebiete" - im Idealfall solche, die sich dynamisch änderten und so die Anschlussfähigkeit zu komplexeren historischen Fragestellungen gewährleisteten. Dies würde laut Pápay zudem eine vielversprechende Neuausrichtung der Verbindung von GIS und HD bedeuten.

Pápay schlug mit seinen Ausführungen schon den Bogen zum zweiten Konferenztag, der sich weitgehend den GIS widmete.

Potential, Einsatzmöglichkeiten und Implementierungen von GIS
MATS HÖGLUND (Stockholm) präsentierte einleitend die durch das Schwedische Reichsarchiv vorgenommene Georeferenzierung eines weltweit in dieser Form einmaligen Quellenbestands - der von Gustav Adolf initiierten Sammlung der ältesten geometrischen Karten Schwedens. Höglunds Ausführungen zeigten anschaulich die Komplexität der Materie und den mit der Erfassung verbundenen Organisations- und Arbeitsaufwand. ANKE MAIWALD, VERENA SCHMIDTKE und MICHAEL BUSCH (Rostock) stellten ein ähnlich konzipiertes Projekt der Georeferenzierung von Kartenmaterial vor. Ziel dieses (DFG-)Projekts ist ebenfalls die Georeferenzierung schwedischer Quellen, in diesem Fall aber solcher mit Deutschlandbezug - nämlich derjenigen Karten, die im Rahmen der schwedischen Landesaufnahme Pommerns von 1692 bis 1709 erstellt wurden. KATRIN MOELLER (Halle) präsentierte schließlich die Konzeption eines größer angelegten Haller Projekts zur Erforschung der konnubialen Verflechtung im Stadtraum, durch das sich die Initiatoren auch Antworten auf methodische Probleme quantitativen kulturwissenschaftlichen bzw. -historischen Arbeitens - insbesondere bei der Operationalisierung entsprechender Fragestellungen - erhoffen.

Hatten die genannten Vorträge eher den Charakter von Werkstattberichten, präsentierte SILKE MARBURG (Dresden) ein fertiges Projekt: Sie stellte das für das HGIS-Germany-Projekt1 entstandene Modul zur GIS-Modellierung der monarchischen und dynastischen Beziehungen im Europa des 19. Jahrhunderts vor. Ihr Vortrag machte anschaulich deutlich, wie geographische Informationssysteme dazu beitragen können, mit herkömmlichen historiographischen Mitteln nur schwer zu entdeckende räumliche oder sachliche Verbindungszusammenhänge zu entdecken und so zu neuen Fragestellungen, gerade auch im Bereich der Kulturtransferforschung, anzuregen.

Stärker auf methodische Probleme bei der Umsetzung von GIS gingen die Beiträge von BERND BOBERTZ (Greifswald), LUTZ KRESSNER (Rostock) und ANDREAS KUNZ (Mainz) ein: Bobertz und Kreßner stellten in eher technisch orientierten Vorträgen Probleme und Lösungen der Georeferenzierung von Landkarten vor - darunter auch die dazu erforderliche Software -, während Kunz die Konzeption, Entwicklung und Implementierung des - auch international weit beachteten - HGIS-Germany-Projekts sowie des geplanten "Atlas Europa"-Projekts vorstellte und so einen Einblick in ein schon weit fortgeschrittenes GIS-Projekt gab.

Entwicklungen der Historischen Demographie
Der Schlusstag der Konferenz widmete sich primär der Historischen Demographie - und hierbei insbesondere der demographischen Entwicklung Mecklenburgs. ROLF GEHRMANN (Berlin) berichtete in einem großen Überblicksvortrag über den Stand der historisch-demographischen Erforschung Mecklenburgs und machte die Desiderata auf diesem Gebiet deutlich. Schwerpunkte seiner Ausführungen waren Auswanderungsbewegungen, Heiratsverhalten und Sterblichkeitsentwicklung seit der Frühen Neuzeit. Gehrmanns Vortrag zeigte deutlich, in wie starkem Maße auch die "traditionelle" Geschichtswissenschaft von quantitativ orientierter HD profitieren kann bzw. - bei einer intensiver betriebenen Forschungstätigkeit auf diesem Gebiet - könnte. Als konkrete Beispiele hierfür führte er die mögliche Neueinschätzung der Folgen des Dreißigjährigen Krieges auf die Bevölkerungsentwicklung sowie der damit verbundenen regionalen Verschiebungen an, die mögliche Neueinschätzung der Fertilitätsentwicklungen sowie der Entwicklung der Unterschiede zwischen Stadt und Land bezüglich des Säuglingspflegeverhaltens.

Der Vortrag des Demographens REMBRANDT SCHOLZ (Rostock) bot einen Einblick in die demographische Herangehensweise an historisch-demographische Fragestellungen - und zeigte so eine weitere Möglichkeit der Fokuserweiterung für die HD auf: die der intensiveren Kooperation mit Demographen. Scholz stellte in einem Werkstattbericht über die Rostocker Mortalitätsentwicklung im 19. Jahrhundert die Fortschritte des am MPIDF angesiedelten Moduls des Rostocker Projekts "A History of Aging Societies. Rostocker Forschungsverbund Historische Demographie" dar - wodurch auch die teils recht ausgeprägt unterschiedlichen Methoden und Arbeitsweisen von Demographen und Historikern deutlich wurden.

Die enge Verbindung zwischen HD und GIS wurde auch an diesem Konferenztag deutlich: ANNE HILLER (Rostock) zeigte Probleme bei der graphischen Gestaltung von GIS auf, die deren Nutzwert erheblich einschränken können - präsentierte jedoch auch Möglichkeiten der Problembehebung, das heißt der Erstellung von autoplausiblen Daten bzw. Graphiken. SEBASTIAN KLÜSENER (Rostock) schlug eine weitere Brücke zwischen HD und GIS und zeigte somit das Potential dieser Verknüpfung noch einmal deutlich auf: In seinem Vortrag stellte er ein - zusammen mit Joshua R. Goldstein bearbeitetes - Projekt zur räumlichen Analyse des Geburtenrückgangs in Preußen in der Zeit von 1890-1910 vor. In dessen Rahmen sollen durch räumliche Visualisierungen der untersuchten Gebiete in Verbindung mit ökonometrischen Modellen verschiedene Theorien zur demographischen Entwicklung geprüft werden: zum einen der kulturelle Einflüsse betonende Ansatz des "Princeton European Fertility Project"2, zum anderen die stärker sozio-ökonomische Faktoren hervorhebende Kritik daran durch eine Forschergruppe um Patrick R. Galloway in Berkeley.3 Klüseners Ansatz wurde als vielversprechend angesehen, allerdings in seiner konkreten Ausführung auch kritisiert: So bemängelte Robert Lee in einem Kommentar, dass bei der ökonometrischen Modellierung Galloways Kriterien zu stark übernommen würden und so die Chance der Weiterentwicklung der Theorien nicht genutzt würde.

Die von STEFAN KROLL (Rostock) moderierte Schlussdiskussion konzentrierte sich auf die vier Fragen, die als implizite Leitfragestellungen zumindest den historisch-demographischen Teil der Konferenz bestimmten - nämlich die nach erstens der Erfordernis einer stärkeren Internationalisierung des Fachs und dessen stärkerer Einbettung in die internationale "Scientific Community"; zweitens dem Stellenwert von Grundlagenforschung für die HD; drittens der Erfordernis, den Möglichkeiten und Grenzen von Interdisziplinarität und viertens geeigneten Untersuchungseinheiten der historisch-demographischen Forschung und - hierbei insbesondere die Frage, ob die bisherigen Untersuchungseinheiten klein genug für valide Forschungsergebnisse seien.

In Bezug auf die Notwendigkeit einer stärkeren internationalen Einbindung des Fachs und einer intensiver betriebenen Grundlagenforschung waren sich die Diskutanten weitgehend einig. Kersten Krüger wies allerdings darauf hin, dass auch in einigen Tagungsbeiträgen die Notwendigkeit der Grundlagenforschung nicht deutlich genug zum Ausdruck gekommen sei - was er unter Verweis auf das Vetorecht der Quellen kritisierte. Katrin Moeller bemängelte zudem, dass historisch-demographische Forscher in Deutschland teilweise aufgrund ungenügender Abstimmung mehrfach die gleichen Themen behandelten und so die ohnehin spärlichen Kapazitäten noch ineffizient eingesetzt würden; hier sei eine stärkere Koordination der Beteiligten ebenso notwendig wie eventuell auch eine zentrale, frei zugängliche Quellen-Datenbank. Einigkeit herrschte hingegen weitgehend darüber, dass in der Betrachtung von kleineren Untersuchungseinheiten, in der Abkehr von staatlich vorgegebenen, politischen Verwaltungseinheiten, noch Potential für die HD liege.

Unterschiede - auch zwischen den Disziplinen - wurden hingegen wieder bei der Frage nach einer stärkeren interdisziplinären Zusammenarbeit deutlich. Rembrandt Scholz betonte, dass die demographische Forschung zwar Methoden und Ergebnisse anderer Fachgebiete als Hilfsmittel gebrauche, deren Fragestellungen für die Demographie aber nicht dominierend werden könnten. Für Gyula Pápay entstehen neue Erkenntnisse hingegen meist interdisziplinär - wenn ihnen eine klar definierte Fragestellung zugrunde läge. Ähnlich äußerte sich Stefan Kroll, der das gegenseitige Lernen in konkreten Projekten betonte und darin die Zukunft der Forschung sah. Auch Robert Lee wies auf die Notwendigkeit interdisziplinärer Forschung hin, betrachtete aber die gegenwärtigen fakultätsgebundenen (deutschen) Universitätsstrukturen als ein gravierendes Hindernis ihrer Umsetzung. Als positives Beispiel der Überwindung derartiger Hindernisse nannte er die Abschaffung der alten Fakultätsstrukturen zugunsten interdisziplinärerer universitärer Organisationsstrukturen in England.

Die Rostocker Konferenz hat die Möglichkeiten der Historischen Demographie, auch ihr Potential als Zuarbeiterin anderer Disziplinen, eindrücklich gezeigt; allerdings wurden die schon länger vorhandenen Probleme des Fachs ebenfalls sehr deutlich. Die Berichte der Tagung fügten sich insgesamt - trotz des etwas disparaten Oberthemas - zu einem recht einheitlichen Ganzen zusammen. Sie zeigten der Historischen Demographie Wege auf, ihre gegenwärtige wissenschaftliche "Marginalität" zu überwinden. Historische GIS könnten hierbei ein wichtiges Hilfsmittel sein: Die Konferenz zeigte eindrucksvoll deren Potential - sowohl was die Bewahrung archivalischer Inhalte und die (populäre) Vermittlung historischen Wissens angeht, als auch, was methodische Fortentwicklungen der HD betrifft.

Eines der Ziele der Konferenz war es, einen weiteren Schritt auf dem Weg der Etablierung Rostocks als eines Zentrums der historischen Demographie in Deutschland zu tun - dies ist der Tagung gelungen. Klar wurde allerdings auch, dass die endgültige (Re-)Etablierung der HD in Deutschland ein langfristig angelegtes Projekt sein muss.

Konferenzübersicht:

Mats Höglund: The national edition of the oldest geometrical maps in Sweden

Anke Maiwald, Verena Schmidtke, Michael Busch: Das historisch-geografische Informationssystem der Schwedischen Landesvermessung von Pommern 1692-1709 - das erste deutsche Katasterwerk

Bernd Bobertz: Das historisch-geografische Informationssystem der Schwedischen Landesvermessung von Pommern 1692-1709 - Probleme der Georeferenzierung

Lutz Kreßner: Digitale Erfassung und qualitative Beurteilung historischer Kartenwerke

Katrin Moeller: Konnubiale Verflechtungen im Stadtraum

Silke Marburg: Monarchien und dynastische Beziehungen im Europa des 19. Jahrhunderts. GIS-Modellierung und raumbezogene historische Analyse

Andreas Kunz: Darstellung und Analyse zeit- und raumbezogener Beziehungen zwischen Staaten in historischen Geo-Informationssystemen

Rolf Gehrmann: Die mecklenburgische und vorpommersche Bevölkerungsgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts als Forschungsproblem

Rembrandt Scholz: Der Mortalitätsrückgang im 19. Jahrhundert am Beispiel der Hansestadt Rostock

Anne Hiller: Autoplausibilität bei der Darstellung von Bevölkerungsdaten

Sebastian Klüsener: Räumliche Analyse des Geburtenrückgangs in Preußen (1890-1910)

Schlussdiskussion
Moderation: Stefan Kroll

Anmerkungen:
1 <http://www.hgis-germany.de/> (02.11.2009)
2 Vgl. John E. Knodel, The Decline of Fertility in Germany 1871-1939, Princeton 1974.
3 Vgl. Patrick R. Galloway / Eugene A. Hammel / Ronald D. Lee: Fertility Decline in Prussia, 1875-1910: A Pooled Cross-Section Time Series Analysis, in: Population Studies 48(1) (1994), S. 135-158.