Juden im Baltikum in der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Juden im Baltikum in der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Organisatoren
Nordost-Instituts Lüneburg, Baltische Historische Kommission Göttingen (BHK), 56. Baltisches Historiker-Treffen
Ort
Göttingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
14.06.2003 - 15.06.2003
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Von
Konrad Maier, Lüneburg

Der Vorsitzende der BHK, Dr. Dr. h.c. Gert von Pistohlkors, und der Direktor des Nordost-Instituts Lüneburg, Dr. Andreas Lawaty, eröffneten die Tagung und umrissen das Themenfeld jüdischer Geschichte im Gesamtkontext interethnischer Beziehungen, wobei sehr schnell klar wurde, welch großer Nachholbedarf auf dem Feld baltischer Geschichtsforschung mit dem Komplex „Geschichte der Judenheit im Baltikum“ noch besteht.

In seiner Einführung charakterisierte Prof. Dr. Frank Golczewski (Hamburg) die zu behandelnde Region (Litauen, Lettland, Estland), das Objekt der Untersuchung (die Judenheit) und stellte überblicksartig die baltische Geschichte als periodische Entwicklung seit dem Mittelalter dar: von einer Geschichte der Oberschicht zu einer Geschichte der „Russifizierung“ (19. Jahrhundert) hin zu einer Geschichte des „nation building“ (20. Jahrhundert). In diesem Raum- und Zeitkontinuum seien Juden nur schwer zu verorten; dies gelte nicht nur für die deutsch-, sondern auch die polnisch- und russischsprachige Historiographie. Dennoch gelte es festzuhalten, dass jüdische Geschichte – auch und gerade im Baltikum – nicht separat, sondern als wichtiger Teilbereich in diesem geographischen Raum zu behandeln sei. Nicht ein „neues Ghetto“, sondern ein „neues Denken“ seien gefordert, gefragt sei das Aufbrechen baltischer Sichtweisen von Spezialisierung und Vereinzelung hin zur Verschränkung mit der europäischen Geschichte.

Die Tagung selbst gliederte sich in vier Sektionen. Den ersten Schwerpunkt bildete die Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts. Nicht romantische Klischees sollten wiederholt werden, sondern die Darstellung historischer Wirklichkeit und die Durchbrechung religiöser Tabus des Judentums. Judentum bestand ja nicht ausschließlich aus dem jüdischen Glauben, und Judesein wurde und wird nicht allein durch Antisemitismus konstituiert, jüdischer Nationalismus bzw. Zionismus kann vielmehr oftmals als Reaktion darauf festgestellt werden. In einer zweiten Sektion galt das Augenmerk der Zwischenkriegszeit, den jüdischen und nationalstaatlichen Sichtweisen auf diese Periode; daran anschließen sollte sich Krieg und Shoa, Vernichtung und Kollaboration, und in der vierten Sektion galt es, den Blick auf die Zeit nach 1945 zu richten, auf die Kontinuität der jüdischen Geschichte im Baltikum „in absentia“.

Zum ersten Themenkreis Die jüdische Bevölkerung zwischen Tradition, Assimilation und Emanzipation verdeutlichte Prof. Dr. Stefan Schreiner (Tübingen) die Notwendigkeit, sich von der im Thema gewählten Begrifflichkeit ab- und der stärkeren regionalen Differenzierung der Juden im baltischen Raum zuzuwenden. Die alten Grenzziehungen, hervorgerufen durch die Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts geschaffenen Ansiedlungsrayons, bestehen bisweilen noch heute, so dass man polnische Juden, Litvaken (als sozialer Topos), baltische Juden, städtische Juden u.v.m. unterscheiden kann. Am Beispiel Litauens machte Schreiner klar, wie sehr die zarische Macht die Juden zu nützlichen Staatsbürgern „transformierte“ und gerade als loyale Staatsbürger – im Gegensatz zu den aufständischen Polen – zu fördern trachtete. Der Referent erläuterte die unterschiedlichen Formen von orthodoxem und aufgeklärtem Judentum, von rabbinischer Orthodoxie und chassidischem Denken, das städtische und ländliche Leben, die Rolle der hebräischen Sprache als Nationalsprache (gegenüber dem Jiddischen) sowie die Herausbildung einer jüdischen Intelligenz, die auch in Verbindung mit der russischen Bildungsschicht der Tradition kritisch, aber nicht ablehnend gegenüberstand.

Professor Dr. Trude Maurer (Göttingen) stellte die diffizile und differenzierte Geschichte eines Teilbereiches baltischer Judenheit, die Westjuden des Zarenreiches (in Kurland), genauer vor. Geprägt von städtischem Leben, einer niedrigen Geburtenrate und der Tendenz zur Akkulturation, gelang es den Juden, trotz gesetzlicher Beschränkungen (z.B. kein Zugang zum Staatsdienst) im Zuge der dritten Teilung Polens (Kurland fiel 1795 an das Zarenreich), sich als Großbürgertum ? mit deutlichem Schwergewicht auf dem Handel ? zu etablieren. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wuchs die Judenheit in Kurland auf ca. 50.000 Menschen an, Verstädterung und weitere Akkulturation (über das Deutsche) waren die Folge. Aufgrund weiterhin vorherrschender starker Traditionsbindungen lässt sich die kurländische Judenheit als ein besonderer Typus charakterisieren, eine starre Gegenüberstellung zum Ostenjudentum ist nicht gerechtfertigt.

In einem sozialhistorisch spannenden Überblick vergegenwärtigte Dr. Ruth Leiserowitz (Berlin) Aspekte des jüdischen Alltagslebens in Litauen und Lettland von der Mitte bis zum Endedes 19. Jahrhunderts. Dabei wurde deutlich, wie sehr die verschiedenen Modernisierungsschübe (Eisenbahnbau, Industrialisierung, Urbanisierung) auch das Alltagsleben der jüdischen Bevölkerung beeinflussten. Auswirkungen auf individuelle Mobilität, häufigen Berufswechsel und größere Aufstiegschancen lassen sich feststellen. Abhängig blieben diese Veränderungen jedoch immer wieder von den zentralistischen Gesetzesvorhaben, die bisweilen Unterdrückung (so während und in Folge der polnischen Aufstände), mitunter auch Liberalisierungen (nach dem Krimkrieg) beinhalteten. Leiserowitz erläuterte kenntnisreich und detailgenau die Beteiligung jüdischer Bevölkerungsgruppen auch an ‚kulturellen Heldentaten’ wie dem „Bücherträgertum“, wobei sie den Aspekt ökonomischer Interessen gerade für jüdische Bücherschmuggler nicht verschwieg.

Nach intensiven Diskussionen schloss die zweite Sektion (Die baltischen Staaten und die Juden 1918-1940 bzw. Die Minderheitenpolitik der baltischen Staaten aus jüdischer Sicht) nahtlos an. Prof. Dr. Michael Garleff (Oldenburg) verdeutlichte die Minderheitenfrage und Minoritätenpolitik der Zwischenkriegszeit und stellte die Notwendigkeit für die politisch Herrschenden Schichten heraus, die Autonomie der Minderheiten in den souveränen baltischen Staaten zu gewährleisten. Das Bekenntnis des einzelnen zu seiner eigenen Nationalität wurde zum leitenden Prinzip in Lettland und vor allem in Estland (Kulturautonomiegesetz von 1925). Des weiteren stellte Garleff die Beteiligung der jüdischen Bevölkerung am gesellschaftlichen Leben Lettlands in den 20er und 30er Jahren dar, ihren prozentualen Anteil an sozialen Schichten und ihre Berührung mit der deutschbaltischen Minderheit. Auch zur jüdischen Schulsituation in Lettland wurden Informationen vermittelt. Für Estland gilt zunächst festzuhalten, dass der Anteil an der Gesamtbevölkerung relativ gering war (1920: 4660 Juden in Estland). Aufgrund der Gesetzgebung war der jüdischen Minderheit die Wahrung der eigenen Traditionen möglich, und Garleff kam zum Schluss, dass allein Integration der jüdischen Bevölkerungsgruppen in den baltischen Staaten den richtigen Weg zum Schutz ihrer Autonomie darstellte.

Bereits während der 1920er Jahre machte Dr. Joachim Tauber (Lüneburg) in Litauen einen beginnenden ökonomischen Antisemitismus fest – jüdische Gewerbetreibende, Händler und Kaufleute, wurden als Behinderung für die aufstrebende litauische Mittelschicht angesehen –, der weitere Auswirkungen auch auf akademischem Gebiet hatte (Konkurrenz zur eigenen, litauischen Intelligenz). Nicht abzustreiten war dann in den 30er Jahren die allmähliche Adaption faschistischer bzw. nationalsozialistischer Propaganda aus Italien und Deutschland, die in Litauen auf fruchtbaren Boden fiel. Der Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion und die damit einhergehende blitzschnelle Eroberung Litauens 1941 veränderten die Situation schlagartig, die Enthemmung latenter antisemitischer Stimmungen gipfelten in Hassorgien und Pogromen gegen den „jüdischen Kommunismus“, eines der wichtigsten Schlagworte zur Rechtfertigung von Grausamkeiten gegen die litauischen Juden.

Für Litauen konstatierte Prof. Dr. Michael Heltzer (Haifa) eine jüdische Kulturautonomie, deren Blütezeit von 1919 bis 1922 dauerte. Bereits vor dem Staatsstreich 1926 wurden die Autonomierechte eingeschränkt, danach weitgehend liquidiert. In Lettland blieb bis 1934 eine weitgehende Bildungs- und Kulturautonomie bestehen, auch wurden antisemitische Organisationen von staatlicher Seite bekämpft. Während offenem Antisemitismus zwar staatlicherseits begegnet wurde, wurden wirtschaftliche Tätigkeiten von Letten gegenüber denjenigen von Juden eindeutig favorisiert. Estland kann aufgrund seiner Gesetzgebung zur Kulturautonomie, die bis zum Ende der Selbstständigkeit des Landes in Kraft blieb, als vorbildlich für die Zwischenkriegszeit bezeichnet werden.

Zwei Arbeiten der Zwischenkriegszeit zum Minderheitenrecht aus lettischer Feder standen im Mittelpunkt der Ausführungen von Prof. Dr. Leo Dribins (Riga): zum einen die Arbeit von Moritz Mintz (1903-1941) „Die nationale Autonomie im System des Minderheitenrechts unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsentwicklung in den baltischen Randstaaten“ (Riga 1927), zum anderen die Schrift von Max Laserson (1887-1951) „Das Minoritätenrecht der baltischen Staaten“ (Riga 1930). Ersteres spiegelt den Standpunkt der jüdischen liberalen Kreise wider, nach deren Auffassung der beste Weg zum Ausgleich zwischen Staat und Minderheiten in der Verwirklichung einer breiten Nationalautonomie bzw. Kulturautonomie, Schulautonomie und Autonomie der sozialen Fürsorge bestand. Laserson forderte in seiner Publikation, die Minderheiten als kollektivrechtliche Gruppen mit besonderen Interessen anzuerkennen. Doch die Realität strafte seine Auffassungen Lügen: Die Einschränkungen der Minderheitenrechte nach den Staatsstreichen in Litauen (1926), Estland und Lettland (1934) zeigten, dass auch die besten Gesetze keine Garantie für eine tatsächlich gerechte Behandlung der Minderheiten boten.

Zum Holocaust im Baltikum, dem dritten Schwerpunkt der Tagung, referierte Prof. Dr. Yitzhak Arad, einer der wenigen Überlebenden des Genozids in Litauen und langjähriger Leiter der Gedenkstätte Yad Vashem. Er teilte die Vernichtungsaktionen in Litauen in drei Phasen ein: Die erste, von Juni bis Dezember 1941, war gekennzeichnet von Pogromen durch die einheimische Bevölkerung sowie seit Juli 1941 durch den planmäßigen Massenmord an den baltischen Juden, wobei Einsatzgruppen der deutschen Sicherheitspolizei und des SD mithilfe massiver Beteiligung litauischer, lettischer und estnischer Kollaborateure tätig waren. Innerhalb weniger Monate wurden fast 85% der baltischen Juden umgebracht, ca. 220.000 Personen. Die zweite Phase (der Ghettoisierung in Vilnius, Kauns, Šiauliai, Riga, Libau, Dünaburg) vom Januar 1942 bis März 1943 war eine „relativ ruhige Zeit“, wobei als Grund für die Zurückhaltung der Bedarf der Wehrmacht an Arbeitskräften für die Kriegswirtschaft anzusehen ist. Vom April 1943 bis Juli 1944 erfolgte die Liquidierung der verbliebenen baltischen Juden durch Mord bzw. Deportation. Nur ca. 3% der baltischen Juden überlebten den Holocaust.

Auch in dem Vortrag von Prof. Dr. Wolfgang Benz (Berlin) wurde deutlich, dass die Hauptverantwortung für den baltischen Holocaust der deutschen Seite zufiel, die autochthonen Kräfte als „Fußvolk“ der nationalsozialistischen Schergen (Schutzmannschaften, Ordnungsdienst, Selbstschutz) jedoch einen wesentlichen Anteil am Judenmord hatten. Nur wenige Namen sind als Beispiele für eine Hilfestellung durch die litauische oder lettische Bevölkerung bekannt geworden. Als Erklärungsansatz für den weit verbreiteten Judenhass nannte der Referent den traditionellen Antisemitismus (v.a. in Litauen), die Militarisierung der Gesellschaft in den 1930er Jahren und das Konstrukt des jüdischen Bolschewismus als Argumentationshilfe für das Aufbegehren gegen die sowjetische Fremdherrschaft seit 1940.

Im vierten Abschnitt stand der Umgang mit dem Holocaust nach 1945 im Zentrum des Interesses. Prof. Dr. Leonidas Donskis (Kaunas) diskutierte die Chancen für Litauer, ihre Vergangenheit kennen zu lernen, und stellte fest, dass im Lande selbst nach 1945 die jüdische Problematik marginalisiert wurde. Nur Exilkreise in den USA schrieben zu diesem Thema, während die sowjetische Zeit eine objektive Diskussion verunmöglichte. Erst Tomas Venclova, der wohl wichtigste litauische Schriftsteller der Nachkriegszeit, zerbrach die Mauer des Schweigens und verursachte scharfe Diskussionen und Auseinandersetzungen um die Fragen von Schuld bei der Beteiligung von Litauern am Holocaust im eigenen Land. So musste es nicht überraschen, dass immer wieder Rehabilitierungsversuche der Pogrome an litauischen Juden stattfanden, da letztere sich gegenüber der Heimat angeblich illoyal verhalten hatten. Im übrigen tauchte nach 1990 recht bald in Litauen die Theorie der „zwei Genozide“ auf: sowohl Juden als auch Litauer hätten unter den Diktaturen gelitten und einen Genozid erlitten. Diese Diskussion ist nach Auskunft des Referenten noch nicht abgeschlossen, doch besteht Hoffnung auf eine junge Historikergeneration, die endgültig den Durchbruch schaffen könnte gegen ein apologetisches Geschichtsbild, das auch heutzutage noch in Litauen virulent scheint.

Aufgrund des zahlenmäßigen Übergewichts standen während der ganzen Tagung Litauen und Lettland im Brennpunkt der einzelnen Vorträge. Estlands jüdische Geschichte hingegen blieb aufgrund der – erwähnten – geringen Anzahl jüdischer Mitbürger eher unterbelichtet. Meelis Maripuu (Tallinn) gab abschließend einen kurzen Abriss zum Umgang mit der jüdischen Geschichte in der Sowjetzeit Estlands und konstatierte, dass in der Regel Verbrechen gegen Juden nicht erwähnt, allenfalls als faschistische Vergehen gegen loyale Sowjetbürger dargestellt wurden. Erst im Zuge internationaler Beschäftigung mit dem baltischen Holocaust wurden in den letzten Jahren vermehrt auch jüdische Opfer erwähnt und nicht – wie in der Zeit zuvor – unter den 125.000 Ermordeten der Jahre 1941-1944 subsummiert. Eine weitere, tiefergehende Bearbeitung des Themas von seiten estnischer (und anderer) Historiker steht noch aus.

Die vorgetragenen Thesen und Informationen wurden während der gesamten Tagung intensiv und kontrovers diskutiert. Dass die Frage der einheimischen Kollaboration und Beteiligung am nationalsozialistischen Völkermord immer noch tiefgehende Emotionen berührt, wurde vor allem in der dritten und vierten Sektion der Tagung deutlich. Die Verquickung von Opfer- und Täterrolle wurde vereinzelt geleugnet und mit dem Argument abgetan, nur „menschlicher Abschaum“ habe sich an den Verbrechen der Deutschen beteiligen können (unter dem Motto, dass nicht ist, was nicht sein darf). Doch muss demgegenüber anderen Diskussionsteilnehmerinnen und -teilnehmern sowie Prof. Golczewski in seinem Schlusswort zugestimmt werden, dass dieser Wortschatz kein wissenschaftliches Bewertungskriterium darstellt, um zu objektivierbaren Forschungsergebnissen zu kommen, dass der Historiker sich hüten sollte, moralische Urteile zu fällen, und das Vergangene in all seinen Facetten darstellen, beschreiben und zu erklären versuchen sollte.

Die Tagung machte deutlich, wie wenig die Geschichtswissenschaft auch heute noch von der – in den Kataklysmen des Zweiten Weltkriegs untergegangenen – jüdischen Welt Osteuropas in all ihren Facetten, Differenzierungen und Ausprägungen weiß und mitzuteilen in der Lage ist. Viele Fragen blieben offen – nicht zuletzt auch die Frage, wie es denn die Deutschbalten mit ihren jüdischen Mitbürgern im 19. und 20. Jahrhundert hielten.