Der verkannte Komponist – kritische Betrachtungen zum Leben und Werk Felix Mendelssohn Bartholdys vom neunzehnten Jahrhundert bis heute

Der verkannte Komponist – kritische Betrachtungen zum Leben und Werk Felix Mendelssohn Bartholdys vom neunzehnten Jahrhundert bis heute

Organisatoren
Moses Mendelssohn Zentrum, Potsdam
Ort
Heringsdorf
Land
Deutschland
Vom - Bis
13.09.2009 - 15.09.2009
Url der Konferenzwebsite
Von
Anna-Dorothea Ludewig, Graduiertenkolleg Makom, Universität Potsdam; Ellen Schwarz, Europa-Universität Viadrina

Anlässlich des 200. Geburtstages von Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847) veranstaltete das Moses Mendelssohn Zentrum (Potsdam) vom 13. bis zum 15. September 2009 in Heringsdorf auf Usedom eine internationale Konferenz im Rahmen des 16. Usedomer Musikfestivals. Bereits der Titel, „Der verkannte Komponist – kritische Betrachtungen zum Leben und Werk Felix Mendelssohn Bartholdys vom neunzehnten Jahrhundert bis heute“, weist über eine rein musikwissenschaftliche Fragestellung hinaus, vielmehr war es das Anliegen dieser Tagung, den Komponisten auch vor dem Hintergrund seiner wechselvollen Rezeptionsgeschichte zu betrachten.

So ist Felix Mendelssohn Bartholdy im Kanon der europäischen Musik einer der umstrittensten Komponisten. Die Rezeption seines Werkes bewegt sich zwischen den Extremen von Missachtung und Idealisierung – obwohl kein Zweifel daran besteht, dass er zugleich auch einer der begabtesten Künstler der Romantik war. Er brillierte nicht nur als Komponist, Dirigent, Pianist und Organist, sondern war auch ein begabter Maler, der zahlreiche Aquarelle und Zeichnungen anfertigte. Felix Mendelssohn Bartholdy stammte aus einer wissenschaftlich und kulturell interessierten Familie, sein Großvater war Moses Mendelssohn, der berühmte Philosoph, Lessingfreund und Begründer der Haskala, der jüdischen Aufklärung. So war auch der Komponist beeinflusst durch sein geistesgeschichtliches Umfeld, insbesondere durch die Werke der Gebrüder Humboldt und das philosophische Schaffen Friedrich Hegels; damit steht seine Person auch für Werte wie „Toleranz, die Verpflichtung zu Vernunft und Fortschritt durch Erziehung und das Ziel, unverrückbar zu manifestieren, dass die Menschen allerorts vieles gemeinsam haben und ihnen die Welt gemeinsam ist“ (Hans-Günter Klein).

Aber gerade sein kompositorisches Werk war immer wieder heftiger Kritik ausgesetzt, so wurde ihm Oberflächlichkeit und mangelnde Emotionalität unterstellt und Etikettierungen wie „Unterhaltungsmusik“ und „religiöser Kitsch“ (Charles Rosen) finden sich in zahlreichen mehr oder weniger wissenschaftlichen Beurteilungen. Besonders Richard Wagners ausschließlich antisemitisch motiviertes Urteil über Mendelssohn hat sich eingeschrieben in das Gedächtnis der europäischen Musik und wirkt bis heute fort. Immer wieder wurde sein angebliches Judentum ins Zentrum der Betrachtungen gerückt, wobei dahingestellt sein mag, welche Haltung der Komponist zu seinen jüdischen Wurzeln hatte. Festzuhalten bleibt, dass weder seine Herkunft noch seine Religionszugehörigkeit, Felix Mendelssohn wurde gemeinsam mit seiner Schwester Fanny 1816 protestantisch getauft, für das Verständnis und die Einordnung seines musikalischen Werkes maßgeblich sein sollten. Und gerade die Vielfalt dieses komplexen kompositorischen Werkes, das auch durch den lebenslangen musikalischen Diskurs mit seiner Schwester Fanny einem ständigen Entwicklungsprozess unterworfen war, wird gerade hierzulande immer noch unterschätzt, wahrgenommen werden meist nur die Musik zum Sommernachtstraum, das Violinkonzert e-Moll und die Lieder ohne Worte.

Bedingt durch diesen ideologisierten und gebrochenen Diskurs ist Felix Mendelssohn Bartholdy bis heute ein „verkannter Komponist“, dessen Künstlerpersönlichkeit in den vergangenen 200 Jahren weitgehend im Verborgenen geblieben ist.

Die Inhalte und Methoden der zwölf Einzelvorträge, die im Rahmen der Heringsdorfer Konferenz in englischer und deutscher Sprache gehalten wurden, waren entsprechend dem Konferenzthema interdisziplinär ausgerichtet, sie reichten von theoretischen Abhandlungen über das Wesen der Musik, wie im Vortrag MICHAEL STEINBERGs (Providence) zur Melancholie als Voraussetzung von Musik oder in MICHAEL BECKERMANs (New York) Schlussvortrag über den Gehalt der – häufig wenig beachteten – Mittelteile von Musikstücken, bis zu Analysen einzelner Mendelssohn-Stücke, wie dem Quartett in Es-Dur (op. 12), dem sich JUDIT FRIGYESI (Ramat Gan) widmete oder dem Choral „Mitten wir im Leben sind“, Gegenstand von EFRAT FROMMERs (Ramat Gan) Vortrag; vom Umgang des Komponisten mit seinen jüdischen Wurzeln, ein Thema, das beispielsweise LARRY TODD (Durham/NC) und RUTH HA-COHEN (Jerusalem) in ihren Beiträgen über das Elias Oratorium bearbeiteten; bis zur versuchten Auslöschung seiner musikalischen wie visuellen Spuren durch die Nationalsozialisten, mit der sich BEATRIX BORCHARD (Hamburg) und YVONNE WASSERLOOS (Düsseldorf) beschäftigten.

Drei Schwerpunkte kristallisierten sich sowohl in den Vorträgen wie in den anschließenden Diskussionen heraus: erstens die kulturell-religiöse Identität Felix Mendelssohn Bartholdys zwischen Judentum, protestantischem Christentum und (deutschem) Bürgertum; zweitens das ebenfalls von solchen Identitätsfragen geprägte, zwiespältige Verhältnis der Nachwelt zu Mendelssohn und seiner Musik und schließlich drittens neue Auslegungen des musikalischen Werks Mendelssohns.

So stellte MICHAEL BECKERMAN in seinem Abschlussvortrag die These auf, dass sich die entscheidenden Botschaften eines Musikstücks häufig in dessen, von vielen Hörern und Interpreten im Vergleich zu Anfang und Schluss meist wenig beachteten, Mitte verbergen. Er demonstrierte dies am Beispiel sehr unterschiedlicher Musikausschnitte, von Mendelssohn bis zu den Beatles. Seine Überlegungen lassen sich auch mit Judit Frigyesis Ausführungen zum Es-Dur Quartett verknüpfen, in welchem Mendelssohn nach Auffassung der Referentin zunächst das Beherrschen der klassischen Kompositionsmuster unter Beweis stellt, um dann im weiteren Verlauf des Stückes durch Wandlung und neuartige Kombination von Melodien, Themen und Stilen die Sprache der klassischen Musik subtil zu unterwandern.

Um Musik und Sprache, Musik als Sprache ging es auch in dem Vortrag von MICHAEL STEINBERG. Aus der von Hegel konstatierten Unfähigkeit der Musik, im Sinne eines sprachlichen Zeichens Bedeutung zu transportieren und die eigene Subjektivität zu transzendieren, leitete er eine grundsätzliche musikalische Melancholie ab. Melancholie als Grundvoraussetzung aller Musik, so lautete seine These, zu deren Untermauerung er verschiedenste Philosophien und Denker heranzog – von Rousseaus politischer Theorie über Freuds Psychoanalyse bis zu Judith Butlers Poststrukturalismus. Die (musikalische) Melancholie verweise, so argumentierte Steinberg mit Butler, auf etwas Unaussprechliches, sie sei eine „unspeakability, that governs the speakable“.

Auch FRIGYESI verwies mit einem Zitat auf den Raum jenseits von Sprache, die immer kulturell geprägt und damit auch belastet sei: Sie setzte das Quartett Mendelssohns in Beziehung zu einem Gedicht von Paul Celan („Stehen, im Schatten“), und sah in beiden Werken ein Streben nach einer übersprachlichen Ausdrucksform. Vor diesem Hintergrund analogisierte sie Mendelssohns Auseinandersetzung mit dem Formen-Repertoire klassischer Musik mit Celans Ringen mit der deutschen Sprache.

Die Analyse des Mendelssohn'schen Elias-Oratoriums bildete einen besonderen Schwerpunkt der Konferenz und durchzog mehrere Vorträge. So koppelte Steinberg in seinem bereits erwähnten Beitrag theoretische Überlegungen mit einer Betrachtung des Elias, der ihm wie auch den folgenden Rednern RUTH HA-COHEN, ANGELA MACE (Durham/NC) und LARRY TODD Anlass gab, die Identität Mendelssohns im Spannungsfeld seiner jüdischen Herkunft, protestantischen Konfession und Verwurzelung in der deutschen Kultur zu reflektieren. Das Schlüsselwort war hier die Simultaneität oder Synthese verschiedener Identitäten, die sich schon in der Verwendung des Doppelnamens Mendelssohn Bartholdy zeigt, aber auch in der Musik selbst, beispielsweise in diesem Oratorium, das biblisch-jüdische und christliche Motive und Lesarten miteinander verbindet.

Die Rezeption von Mendelssohns Musik und Persönlichkeit wurde immer wieder beeinflusst von der unterschiedlichen Wahrnehmung und Bewertung, die diese „Simultaneität der Identitäten“ im Laufe der Zeit erfahren hat. So bestimmten antisemitische Ressentiments maßgeblich den zeitgenössischen Umgang mit Mendelssohn, das wirkungsmächtigste Beispiel ist in diesem Zusammenhang Richard Wagner, der, wie auch JULIUS H. SCHOEPS (Potsdam) in seinem Eröffnungsvortrag erläuterte, die Mendelssohn’sche Rezeptionsgeschichte maßgeblich (negativ) beeinflusst hat. Diese von Vorurteilen motivierte Verurteilung Mendelssohns und seiner Musik erreichte im Nationalsozialismus ihren Höhepunkt, wie die beiden diesem Themenkomplex gewidmeten Vorträge eindrücklich darlegten. So demonstrierte BEATRIX BORCHARD an Hand von Tonbeispielen wie, wenn auch mit geringem Erfolg, versucht wurde, die beliebtesten Stücke Mendelssohns, beispielsweise den Sommernachtstraum, das Violinkonzert e-Moll oder die Lieder ohne Worte, aus deutschen Konzerten und Wohnzimmern zu verbannen und durch andere Stücke zu ersetzen. YVONNE WASSERLOOS dokumentierte in ihrem Vortrag die sehr viel erfolgreichere visuelle Auslöschung des Komponisten durch die Zerstörung der Mendelssohn-Denkmäler in Leipzig und Düsseldorf.

Mit diesen und anderen Vorträgen ist es der Konferenz gelungen, Fragen zu stellen und zu klären, die nicht nur den Komponisten selbst, sondern auch seine sozialen und musikalischen Vernetzungen, das politisch-gesellschaftliche Umfeld sowie die Rezeptionsgeschichte seines Werkes betreffen. Festzuhalten ist, dass eine Annäherung an Leben und Werk Felix Mendelssohn Bartholdys gerade durch einen interdisziplinären Ansatz, also durch die Verbindung kulturgeschichtlicher und musikwissenschaftlicher Inhalte und Methoden, neue Perspektiven eröffnen und Erkenntnisse vermitteln kann, die auch für einen breiten Diskurs fruchtbar gemacht werden sollten.

Konferenzübersicht:

Einführung/Introduction
Julius H. Schoeps (Moses Mendelssohn Zentrum Potsdam)
Anmerkungen zum Leben und Werk von Felix Mendelssohn Bartholdy

Isolation und Vision – Felix Mendelssohn Bartholdys Oratorium Elias/ Isolation and Vision – Felix Mendelssohn Bartholdy’s oratorio Elijah
Moderation: Judit Frigyesi (Bar Ilan University/Israel)

Michael Steinberg (Brown University/USA)
Music and Melancholia

Ruth Ha-Cohen (Hebrew University of Jerusalem)
Isolation, Revelation, Redemption: Utopian Aspirations in Mendelssohn's Elijah

Angela Mace (Duke University/USA)
Mendelssohn, Bartholomew and the Elijah Correspondence, Reconsidered

Larry Todd (Duke University/USA)
Mendelssohn, Elijah and the Free Chorale

Wechsel und Wandlung – alte und neue Wege der Rezeption/ Turn and Transformation – old and new ways of Reception
Moderation: Larry Todd (Duke University/USA)

Cornelia Bartsch (Universität Paderborn)
Felix Mendelssohn Bartholdys musikalische Korrespondenzen mit seiner Schwester Fanny Hensel als Schlüssel zu einer Ästhetik der Aufklärung und Toleranz

Julius Reder Carlson (University of California, Los Angeles)
Mendelssohn and the racial imagination: comparing historical and contemporary German reception

Judit Frigyesi (Bar Ilan University/Israel)
“A stranger to Classicism”: a new look at a Mendelssohn String Quartet

Efrat Frommer (Bar Ilan University/Israel)
The Choral Works of Felix Mendelssohn: Old Tradition in New Style

Der verfemte Komponist – die NS Zeit und ihre Folgen/ The ostracized composer – the Nazi Era and its Aftermath
Moderation: Sebastian Panwitz (Moses Mendelssohn Zentrum)

Beatrix Borchard (Hochschule für Musik und Theater Hamburg)
Die Rezeption Felix Mendelssohn Bartholdys während der NS-Zeit

Yvonne Wasserloos (Robert Schumann Hochschule Düsseldorf)
Düsseldorf und Leipzig 1936 – Die visuelle Auslöschung Felix Mendelssohn Bartholdys

Abschlussvortrag/Closing Lecture
Michael Beckerman (New York University)
Mendelssohn in the Middle


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