Diskursanalyse meets Gouvernementalitätsforschung. Methodisch-Methodologische Perspektiven zum Verhältnis von Subjekt, Sprache, Macht und Wissen

Diskursanalyse meets Gouvernementalitätsforschung. Methodisch-Methodologische Perspektiven zum Verhältnis von Subjekt, Sprache, Macht und Wissen

Organisatoren
Sonderforschungsbereich 580 „Gesellschaftliche Entwicklungen nach dem Systemumbruch“ (Friedrich-Schiller-Universität Jena / Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg); mit Unterstützung des Netzwerks „Methodologien und Methoden der Diskursanalyse“; der Sektion Wissenssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie; sowie dem Verein „Gradnet e.V. – Verein zur Förderung des Wissenschaftlichen Nachwuchses
Ort
Jena
Land
Deutschland
Vom - Bis
12.06.2009 - 13.06.2009
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Von
Jochen F. Mayer, Institut für Geographie, University of Edinburgh

Die auf dieser Konferenz erstmals explizit vereinten Forschungsperspektiven – Gouvernementalitätsstudien und Diskursanalyse – verbindet nicht nur die Referenz auf Michel Foucault, sondern auch das Interesse an der kritischen Reflexion von Subjektivität und Agency. Jenseits dieser augenscheinlichen Gemeinsamkeiten der beiden Forschungsrichtungen, und auch jenseits der mittlerweile schon gängigen Lesart, wonach die Gouvernementalität Forschungsperspektive und Theorie vorgibt, und die Diskursanalyse das methodische Werkzeug an die Hand reicht, beschäftigte sich die Tagung sowohl mit theoretischen und methodischen Fortentwicklungen in beiden Feldern, als auch mit Erprobungen des Instrumentariums an neuen Gegenstandsbereichen. Wie man es mittlerweile von durch Foucault inspirierte Arbeiten gewohnt ist, verhandelten die Beiträge ihre Untersuchungen auf unterschiedlichen Ebenen, die von philosophischen Reflexionen zum Subjekt, über eine Reihe gegenwartsdiagnostisch-empirischer Studien, bis zu theoretisch-methodologischen Reflexionen reichten. Studien zum Arbeitsmarkt, zu Bolognaprozess und Stadtmarketing, zur Politik des Alter(n)s, zur Beratung, sowie zur Neuropädagogik und der unternehmerischen Universität – allesamt mit hohem Aktualitätsbezug –, wurden umrahmt von methodologischen Ausführungen zu Archiv und Dispositiv, und von subjektphilosophischen Erkundungen unter der Kategorie des (körperlichen) ‚Eigensinns’.

Die einführenden Anmerkungen der beiden Organisatoren, JOHANNES ANGERMÜLLER (Magdeburg) und SILKE VAN DYK (Jena), luden insbesondere ein, der mittlerweile schon klassischen (Selbst-)Kritik an beiden Perspektiven konstruktiv zu begegnen: die Gouvernementalitätsstudien würden nur das herausfänden, was vorher schon klar war („impliziter Finalismus“, T. Lemke), und für die Diskursanalyse lohne sich der im Verhältnis zu den erzielten Ergebnissen überproportionale Aufwand nicht.

SABINE MAASEN (Basel) unternahm den Versuch, die „Intelligibilität und Akzeptabiliät“ neurowissenschaftlicher Erklärungsangebote in gegenwärtigen Gesellschaften zu erklären. In Anlehnung an die von Foucault und den Gouvernementalitätsstudien propagierte Perspektivierung des Gegenstandsbereichs, las Maasen die gegenwärtige Allianz zwischen propagierter ‚Plastizität’ des Gehirns und dem lifelong learning in der Neuropädagogik als ‚Experimentalanordnung’ (Rheinberger): Es wird nicht etwa am Gehirn gearbeitet, sondern mit neurowissenschaftlichen Befunden und Visionen in „Wissensräumen“ experimentiert, die vor allem medial inszeniert (Sensation) und politisch codiert (Innovation) sind. Dabei geht es nicht um die Beschreibung einer zukünftigen Gesellschaftsform, sondern um soziale „Realexperimente“, nach dem Motto: ‚Wir wissen nicht, was passiert, möchten aber trotzdem Ergebnisse vorlegen können’. Neuropädagogische Forschung muss dabei, so Maasen, als ko-konstitutiv zu einer Regierungsform analysiert werden, die Erziehung als offenen, wissensbasierten Prozess versteht, in dessen Zentrum der Lebenslauf als soziale Karriere steht. Es ist nicht mehr von der Gesellschaft die Rede, sondern vom neo-sozialen Individuum, das ständig an der eigenen Selbstverbesserung arbeitet, das heißt um better brains bemüht ist.

ANNIKA MATTISSEK (Heidelberg) präsentierte eine diskurstheoretische Perspektive im Anschluss an Laclau/Mouffe und das Gouvernementalitätskonzept als sinnvolle Ergänzung füreinander: Während die Stärken der Gouvernementalitätsforschung in der Analyse großflächiger Verschiebungen gesellschaftlicher Rationalitäten und Regierungsformen lägen, könne die Diskursanalyse herangezogen werden, um die inhärenten Brüche und Widersprüche von Diskursen, sowie die unterschiedlichen Kontexte ihrer Aneignung (etwa etablierte Formen der Legitimation und Aushandlung) in den Blick zu nehmen. Mattissek veranschaulichte diese Doppellektüre am Stadtmarketing „Leitbild Köln 2020“ und analysierte hier insbesondere den Klüngel als „ambivalentes Phänomen“ im neoliberalen Diskurs. Einerseits steht der Klüngel für die wohlfahrtsstaatliche Matrix kommunaler Stadtpolitik und liefert den Ansatzpunkt für ihre Delegitimierung und Kritik (das ‚diskursive Außen’ des neoliberalen Diskurses). Gleichzeitig jedoch erlauben die mit dem Klüngel assoziierten Klischees eine „spezifisch kölsche“ Aktualisierung der Handlungsmuster im Rahmen des Imagemarketings. Diese Brüche und Widersprüche sind, so Mattissek, konstitutiv für die Wirkungsweise des Diskurses und sollten mittels der Analyse „signifikanter Ausdrucksweisen“ miteinbezogen werden, um dem ‚impliziten Finalismus’ (T. Lemke) der Gouvernementalitätsstudien zu begegnen.

MARION OTT (Frankfurt am Main) und DANIEL WRANA (Basel) verorteten ihren Beitrag ebenfalls im Spannungsfeld zwischen Diskursanalyse (Methodologie) und Machtanalytik (Theorie). Ähnlich wie Mattissek, beschäftigen sich beide Autoren mit der landläufigen Kritik, die Gouvernementalitätsstudien würden auf der Ebene der ‚Programme’ verweilen, und wären somit analytisch nicht in der Lage, deren konkrete Gebrauchsweise oder die Widerstände der Akteure zu untersuchen. Anhand einer Studie zum Profiling im Feld aktivierender Arbeitsmarktpolitik schlugen Ott und Wrana daher vor, die Praktiken der Akteure mit in den Blick zu nehmen, nicht jedoch als das „Andere des Programms“, sondern als dessen Artikulationen in je spezifischen diskursiven Situationen, in die Arbeitslose als die Teilnehmer/innen des Profilings eintreten: Indem die Foucaultsche Diskursanalyse also kombiniert wird mit einer „Ethnographie diskursiver Praktiken“, würde die klassische Dichotomie zwischen Diskurs und Alltagspraxis aufgelöst; das ‚Programm’ des Profilings wird in den je spezifischen Artikulationssituationen als – tendenziell unkontrollierbarer – Effekt seines Einsatzes sichtbar. Die ‚teilnehmende Beobachtung’ machte dabei deutlich, dass die Logiken des ‚Testens’ widersprüchlich verlaufen und sich über die unterschiedlichen Diskursarenen der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik hinweg überschneiden: Für die so genannten „älteren und gering qualifizierten Arbeitslosengeld-I-Bezieher und -Bezieherinnen“ geht es im Profiling weniger um die in der gegenwärtigen Managementliteratur propagierte Selbstoptimierung, als vielmehr, so Ott und Wrana, um die implizite Anerkennung der sozialen Ordnung, die von den Teilnehmenden wiedererkannt wird, unabhängig davon, dass der Arbeitsmarkt diese Position real für sie nicht bereithält. Das Profiling artikuliere demnach äußere Zwangsverhältnisse als das vermeintlich Innere der Teilnehmenden.

JOHANNES ANGERMÜLLER (Magdeburg) nahm sich der Macht gegenwärtiger Diskurse aus der Perspektive der Zahlen, der Durchschnitte, der Wahrscheinlichkeiten und Statistiken an. Vor dem Hintergrund dreier, historisch zu unterscheidender „numerokratischer Macht-Wissen-Komplexe“, anhand derer sich die Geschichte kapitalistischer Gesellschaften rekonstruieren ließe, analysierte Angermüller, wie die Wissenschaft – insbesondere die Sozial- und Geisteswissenschaften – seit den 1990er-Jahren unter dem Leitbild der unternehmerischen Universität von numerokratischen Regierungstechnologien erschlossen wurde. Am Beispiel des digitalen Wissensarchivs google scholar wurde deutlich, wie zahlenförmiges Steuerungswissen und spezifische, symbolische Hierarchisierungen der Textquellen in den Prozess der Texterschließung und Textverbreitung einfließen. Angermüller veranschaulichte am Beispiel des ‚Feminismus in den Wirtschaftswissenschaften’, wie eine maschinelle Lesart über google scholar Treffer dort nach Themen und Häufigkeiten sortiert (also zählt), wo eine menschliche Textrezeption auf die Vielfältigkeit der Sprecherpositionen und Interpretationsanweisungen Wert lege. Die digitale Wissensproduktion liest nach dem Code ‚Vorkommnis–Nicht-Vorkommnis’, wobei jedes Vorkommnis in der gleichen Äußerungsmodalität existiert, das heißt dass etwas geäußert wurde. Gegen dieses Reflexionswissen, das potentiell in Steuerungswissen für Verwaltung, Wirtschaft und Politik transformiert werden kann (für Kennziffern und Rankings), plädierte Angermüller für eine Lesart, die die Uneinheitlichkeit des Diskurses herausstellt und seine alternativen Stimmen zu entfesseln vermag.

In der anschließenden Diskussion der Beiträge vom Vormittag wurde zunächst eine ausgereifte Methodendiskussion vermisst. Die Gegenrede sah gerade die ‚bricolage’ als fruchtbar für die vorgetragenen Arbeiten an: Spannender als eine Methodendiskussion sei vielmehr die Perspektivierung der Gegenstandsbereiche. Gerade die ethnografische Herangehensweise habe doch deutlich gemacht, wie sich – im Wechselspiel zwischen Methode und Gegenstand – ‚Programme’ und die Instrumente (des Profiling) in der diskursiven Praxis transformiert haben, so dass anschließend eine nuancierte Theoretisierung nötig wurde. Wenn auch die Fokussierung auf ‚die’ Methode als ein „Mythos“ aus den Sozialwissenschaften abgelehnt wurde, so schien eine gewisse Methodenreflexion doch notwendig, zumal gerade in den Gouvernementalitätsstudien die Theorie immer über das hinausschieße, was empirisch belegbar ist. Zudem wurde auf die ethisch-politische Dimension aufmerksam gemacht, die an den Zusammenhang zwischen den Methoden des Alltags und den Methoden der Wissenschaftler/innen einen Anspruch der Reflexion stelle, und zwar gerade dann, wenn methodologisch nicht alles ausgeschöpft wurde, was im Rahmen der Forschung eigentlich möglich wäre.

UTE TELLMANN (Basel) lieferte mit Blick auf die Diskursanalyse eben eine solche Methodenreflexion, indem sie sich der „unbequemen Zwischenlage“ zwischen Archiv (Material) und Analyse stellte, in die sie im Zuge ihrer eigenen Forschungspraxis zum ökonomischen Denken im frühen 20. Jahrhundert geraten war. Die Diskursanalyse kann aufgrund der extremen Nähe zum Material durchaus misslingen, so Tellmann, und zwar entweder weil sie der Gefahr einer „Wiederholung“ des Archivs aufgelaufen ist, oder weil das Archiv beginnt „zurückzusprechen“, das heißt den Status als Forschungsobjekt verliert und der Analytikerin eigene konzeptuelle Vorschläge aufzwingt. Eine Diskursanalyse muss dabei dann als (zunächst) gescheitert gelten, wenn das Foucaultsche Instrumentarium den Diskurs in nur geringem Maße verfremden konnte. Die Gefahr der „Wiederholung“ zeigte sich in Tellmanns Analyse dort, wo John Maynard Keynes’ Denken zum ökonomischen Menschen mit der Frage nach dem Subjekt in der Foucaultschen Diskursanalyse konvergiert: Der „Nietzscheanische Moment“ des Keynesschen Denkens – die Ausführungen zu Lebensführung, Willenskraft und Kreativität des ‚ökonomischen Menschen’ im Angesicht kontingenter Zeitverläufe – besetzte die Frage nach der Regierbarkeit der „nervösen Subjekte“, die mit der Foucaultschen Analyse erst sichtbar gemacht werden sollte. Die Gefahr des „Zurücksprechens“ zeigte sich, als die Forschungsfrage vom Subjekt zur Verbindung von Ökonomie und Moral wechselte. Hier schlug das Archiv, diskursanalytisch gelesen, eine zusätzliche Perspektive vor, für die es nicht mehr nur um die Führung des Subjekts ging, sondern auch um eine Politik der Zeit und des Maßes. Zeitlichkeit, Obligation und Schuld wurden zu „Realitätsbedingungen“ des Diskurses, so dass Geld nicht mehr als akkurate Repräsentation real-ökonomischer Werte erschien, sondern als Konvention und Maß eines „ökonomischen Schuld- und Zeitverhältnisses“. Gegen die (zu) große Nähe zum Archiv hilft vor allem, so Tellmann mit Foucault, die ‚Werkzeugkiste’ offen zu halten und die Werkzeuge den Überraschungen und Verunsicherungen entsprechend auszutauschen.

JENS MAEßE (Mainz) zeigte, wie die Zirkulation politischer Texte im Rahmen des Bologna-Prozesses zur Reform der europäischen Hochschulen ein offenes Feld sozialer Auseinandersetzungen etablieren konnte, in dem es, so seine Hauptthese, vor allem um die (De-)Konstruktion politischer Verantwortlichkeiten ging. Mittels Angermüllers Diskurs-Leser-Modells verdeutlichte Maeße, wie bis heute, zehn Jahre nach der Erklärung von Bologna, politische Verantwortlichkeit zwischen Bildungsbürokraten, und –experten, Hochschulökonomen und Politikern (auf kommunaler, nationaler und europäischer Ebene) in einer technokratischen „Niemandsherrschaft“ (Arendt) permanent weiter delegiert und damit unsichtbar gemacht wird. Zugleich wird jedoch – über die Zirkulation unpersönlich gehaltener Texte, die das Verhandlungsfeld der (lokalen) Politiken sehr unterschiedlich vorstrukturieren – ständig zur Reform aufgerufen, und außerdem werden neue Eigennamen in den politischen Diskurs gespeist. Dieses „Spiel über Bande“ ist, so Maeße, ohne die diskursive, anwesende Abwesenheit einer transnationalen Instanz (Europas ‚Bologna’) nicht denkbar. Anders als etwa die neoinstitutionalistische Perspektive in den Politikwissenschaften, spricht Maeße jedoch nicht von Anpassungsprozessen an globale Bildungsmodelle, sondern von einer dezentral, dynamisch und rekursiv operierenden Machtkonstellation, die sich vor allem über die Zirkulation politischer Texte entfaltet.

STEFANIE GRÄFE (Jena) verhandelte ihr „latentes Unbefriedigtsein“ mit der Art und Weise, wie in diskurs- und gouvernementalitätstheoretischen Studien die Frage von Subjektivität und Agency behandelt wird. Um das Foucaultsche Diktum, nicht so sehr regiert zu werden tatsächlich ernst zu nehmen, reicht es ihrer Überzeugung nach nicht aus, subjektives Handeln, subjektive Selbstverständnisse und Deutungsmuster als Effekt eines vorstrukturierten Machtfeldes – also immer nur als Differenz zwischen Subjektposition und Subjektivität – zu verhandeln. Gegen diese Subjektivität als „Ohnmachtsfigur“, die die Gelegenheiten kontingenter Veränderlichkeit abpassen muss, und sich auch dann nicht gewahr sein kann, ob sie sich nicht noch tiefer in die hegemonialen ‚Maschen der Macht’ verstrickt habe, suchte Gräfe nach theoretischen Alternativen – ohne freilich in die subjektphilosophische Souveränitätsillusion zurückzufallen. Durch das Prisma von Foucaults Idee der ‚Grenzerfahrung’, der zu Folge der Mensch nicht identisch mit sich selbst, sondern immer wieder ein anderer werden solle, diskutierte Gräfe Köglers Vorschlag einer ‚situierten Autonomie des Subjekts’, und Lüdtkes Ausführungen zum ‚Eigensinn’: Während Kögler die Narrationen eines auf sich selbst bezogenen Subjekts gegen die immer mitschwingende Unterwerfungsdimension hervorhebt, sei vor allem der Eigensinn als „Distanzierung vom Gewohnten, Erwünschten, Akzeptierten“ instruktiv für die Frage nach Agency. Wie Lüdtkes sozialhistorische Studien zeigten, werden hier Machtverhältnisse unterlaufen, blockiert, oder schlicht vergessen; Eigensinn lebt dabei, so Gräfe, von der „Nicht-Verständlichkeit“ sozialer Praxis. Entsprechend sei der Eigensinn eigensinnig zu denken: Als Kategorie tauge er nicht, so Gräfe. Er kann theoretisch nichts postulieren, sondern ermöglicht zunächst nur Subjektivität neben und unterhalb der Subjektpositionen zu denken.

PAULA VILLA (München) und THOMAS ALKEMEYER (Oldenburg) diskutierten –durchaus komplementär zu Gräfe – die Körperlichkeit des Eigensinns, die sie diesseits einer ‚Kreativität des Handelns’ (Joas) und jenseits eines natürlichen, ungesellschaftlichen und akulturellen Verständnisses des Körperlichen mittels einer Lektüre von Butlers Performativität, der Praxeologie des späten Bourdieu und Gebauer/Wulfs Mimesis-Konzepts theoretisch verorteten. Ähnlich unzufrieden wie Gräfe mit den theoretischen Angeboten aus der aktuellen Debatte um Gouvernementalität, die Subjekte und ihre Körper zumeist als Unterworfene konzipierten, betonten Villa und Alkemeyer die durchaus eigensinnige körperpraktische Ausfüllung diskursiver Subjektpositionen: Zur sozialen Existenz konkreter Individuen gehöre nicht nur die Aneignung diskursiver Subjektpositionen, sondern auch deren ‚gewichtige’ (Butler) Verkörperung. Dabei müssten, um Subjektpositionen korrekt einnehmen zu können, nicht nur unpassend einverleibte Dispositionen verworfen werden; der Körper unterläuft diese Prozesse von Sozialisation und Bildung immer wieder und ist letztlich weder kollektiv noch individuell total verfügbar. Diese „Eigenständigkeit“ und „Fremdheit“ des Körpers für uns selbst und andere zeigt sich insbesondere im Sport, beim Tanz oder der Musik: In der Verschränkung von kollektivem Spiel und Einzelleistung (etwa beim Fußball) zeigten sich zufällige, vor-bewusste, eben ‚eigensinnige’, doch strukturell vermittelte körperliche Praktiken, die, so das methodologische Plädoyer der beiden Autoren, nur ethnografisch analysiert werden können.

Den zweiten Tag eröffneten ANDREA BÜHRMANN (Münster/Berlin) und WERNER SCHNEIDER (Augsburg) mit Überlegungen zu einer sozialwissenschaftlichen Dispositivanalyse, die sie als begrifflich-konzeptionelle Ausbuchstabierung bzw. methodologisch-methodische Fortführung der Gouvernementalitätsstudien vorstellten. Im Versuch, Agambens kürzlich veröffentlichte Ausführungen zu ‚Was ist ein Dispositiv’ zu konkretisieren, führten beide Autoren das Verhältnis zwischen Subjektivierung, (nicht-) diskursiver Praxis und Objektivationen (symbolische Kultur, Ordnungen des Wissens) so aus, dass – wie es auch in anderen Beiträgen anklang – die mögliche Eigensinnigkeit (auch im Sinne widerständiger Praktiken) und das „Eigenleben“ der Individuen praxeologisch (Reckwitz und Bourdieu) eingefangen werden kann. Die Frage nach der Subjektkonstitution bildete hierfür in einer zweifachen analytischen Unterscheidung den zentralen Ausgangspunkt: Im Sinne von „Subjektpositionierungen“ wäre zu fragen, so Bührmann und Schneider, wie Individuen von Diskursen als ‚Subjekte’ adressiert werden. Unter dem Begriff der „Subjektivierungsweise“ firmiert, wie sich das Selbst dieser Subjekte dazu auf einer empirisch faktischen Ebene wahrnimmt, erlebt und deutet. Bührmann und Schneider illustrierten diese Auseinandersetzung zwischen diskursiv hergestellten und sich alltagspraktisch ‚selbst’ herstellenden Subjekten anhand des Verhältnisses von Computer und user, und führten sie mittels einer Re-Lektüre ‚materialistischer Sozialisationstheorien’ aus den 1970er-Jahren (Lorenzer, Ottomeyer) weiter aus: Auch für eine dialektisch verstandene Subjektwerdung stellten, so Bührmann und Schneider, die konkreten Praktiken das vermittelnde Medium dar.

BORIS TRAUE (Berlin) analysierte das Phänomen der Beratung im Postfordismus aus zwei komplementären Perspektiven: Eine „Genealogie des Beratungsdispositivs“ zeigte, wie vor etwa 30 Jahren Beratungsformen (Coaching) an der Schnittstelle zwischen Therapeutik und betrieblicher Personalverwaltung aufkamen. Während sich Spuren in heutigen Therapieformen bis zu hypnotherapeutischen Praktiken (etwa die „Krisenhervorbringungstechniken“ eines naturwissenschaftlich gewendeten Exorzismus) zu Beginn des 18. Jahrhunderts zurückverfolgen lassen, schuf vor allem die quantitative und qualitative Ausweitung der Personalführung seit den 1950er-Jahren einen Bedarf an Bildungs- und Motivationsmaßnahmen. Der Diskurs der Kybernetik „entsperrte“ zu Beginn der 1970er-Jahre beide Diskurse füreinander. Die topoi des ‚unternehmerischen Selbst‘ nähmen damit, so Traue, – vermittelt über diverse Medien, die er über den Begriff der Gouvernemedialität zu fassen versuchte – wechselseitig Bezug auf Managementthemen in der Therapeutik (‚Ressourcen‘ oder ‚Visionsentwicklung‘) und therapeutische Themen in der Personalverwaltung (etwa die Idee des persönlichen Wachstums). Die „Selbstpraktiken der Beratung“ fungierten als die komplementäre Seite der Beratungstechniken, müssen aber, so Traue, in ihrem konstitutiven Doppelcharakter – als Korrelat der Regierungstechniken und performative Praxis – ernst genommen werden: Die neoliberalen Subjektivierungsanforderungen von Flexibilität und Selbststeigerung können durch Selbstpraktiken – gerade in Internet-gebundenen Formen, wie etwa auf youtube oder in DIY-Gemeinschaften – unterlaufen, parodisiert, oder korrumpiert werden, zumindest jedoch zeitweise in Unbestimmtheit belassen werden, die es, so Traue, praxistheoretisch zu untersuchen gilt.

Ausgehend von einer Reihe theoretisch-methodologischer Unzulänglichkeiten in der Gouvernementalitätsforschung, stellten TINA DENNINGER, SILKE VAN DYK, STEPHAN LESSENICH und ANNA RICHTER (alle Jena) erste Überlegungen vor zur Analyse der „Regierung des Alter(n)s“ im deutschen Sozialstaat nach der Vereinigung (Vortrag entstand im Rahmen eines Teilprojektes im SFB 580). Um die gesellschaftliche Neuverhandlung des Alterns analytisch zu fassen, betonten die Autor/innen – gegen ein eindimensionales Diskursverständnis – vier unterschiedliche Diskursdimensionen (Praktiken, Objekte, Texte und Institutionen), die sie theoretisch mit Hilfe praxistheoretischer Arbeiten (Reckwitz) und den Analysen zur Inter-Objektivität (Latour) einholen, und methodisch als „Aussagenbündel“, also textvermittelt analysieren wollen. Das Dispositiv betrachteten sie als die spezifische Verknüpfung der unterschiedlichen Diskursebenen, und gerade nicht – wie von einigen Autor/innen vertreten – als die Summe von Diskursen, Institutionen und Praktiken. Schließlich brachten die Autor/innen – ganz ähnlich wie Villa/Alkemeyer und Gräfe zuvor – den ‚Eigensinn der Subjekte’ ins Spiel, den sie, gegen einen „strukturalistischen Überschuss“ in den Gouvernementalitätsstudien gewandt, auf einem Kontinuum „disponiert-disponierend“ theoretisch fassen und methodisch über Interviews erschließen wollen (die wiederum als spezielle Praxis der Diskursproduktion behandelt werden). Kurz illustriert wurde diese Begründung einer „empirischen Gouvernementalitätsforschung“ anhand zweier story lines – einmal zur „Überalterung der Gesellschaft als Bedrohung“, zum anderen zum „Demographischen Wandel als Chance“ –, die, verknüpft, deutlich machten, wie das Alter(n) als Potenzial problematisiert wird, und Praktiken und Objekte neue Verbindungen eingehen (Beispiel: Nintendo spielende Seniorin).

Ein Zwischenresumée zum Stand der Gouvernementalitätsforschung von ULRICH BRÖCKLING (Leipzig) und SUSANNE KRASMANN (Hamburg) machte zum Ende der Tagung auf die verbindenden Elemente zwischen Diskursforschung und studies of governmentality aufmerksam, und betonte zunächst deren beider analytisch-theoretische Differenzen zu anderen sozial- und politiktheoretischen Konzepten und Zugängen. Mit dieser Abgrenzung wurden zugleich auch einige Probleme in der gegenwärtigen Forschungspraxis deutlich: Entgegen den Versuchen, Diskursanalyse als eine Methode qualitativer Sozialforschung zu etablieren, oder das Konzept der Gouvernementalität als eine allgemeine Theorie zu verstehen, machten beide Autoren auf das „parasitäre“ Verhältnis des Foucaultschen Analyseinstrumentariums zu sozialwissenschaftlichen Theorien aufmerksam, welches darüber hinaus, von Foucault selbst zumindest, immer kontextabhängig entwickelt, also verschoben und selbst problematisiert wurde. Mit Osborne plädierten sie daher für eine „weise“ Verwendung des Konzepts der Gouvernementalität. Die gegenwärtige Wirtschaftskrise schien für Bröcklig und Krasmann als ein empirisch-konzeptioneller Prüfstein, an dem sich zeigen können muss, ob sich die politischen Rationalitäten und Strategien des neoliberalen Regierens tatsächlich so einheitlich analysieren lassen, wie es manche „repetitive“, sich des Untersuchungsergebnisses schon gewisse Gouvernementalitätsstudien – gerade im Zeichen ihrer verstärkten Rezeption und Etablierung im akademischen Betrieb – vorgeben. Damit könnten zumindest der systematische Zusammenhang zwischen rationalen und irrationalen Momenten des Regierens, oder gar ihr Zusammenbruch und Scheitern, sowie die „konstitutive Hybridität“ diskursiver Ordnungsmuster stärker ins Blickfeld der Analyse rücken. Einher mit dieser analytisch-konzeptionellen, ‚weisen’ Öffnung und Kontextualisierung, so Bröckling und Krasmannn, geht ein spezifisches Verständnis von (theoretischer und praktischer) „Kritik als Problematisierung“, die es nicht zuletzt versteht, die Grenzgängerschaft beider Forschungsperspektiven fruchtbar zu machen.

Die Abschlussdiskussion nahm die Frage, inwieweit in den Gouvernementalitätsstudien die „Kritik zum Common Sense geworden ist“ (Bröckling und Krasmann) auf, und fragte insbesondere nach der Gefahr einer Verdoppelung der neoliberalen Regierungsrationalitäten durch die gouvernementale Forschungsperspektive: Im Foucaultschen Plädoyer ‚nicht dermaßen regiert zu werden’ steckt möglicherweise die Aufforderung zur permanenten Selbstverbesserung und Flexibilisierung, welche sich auch in den neoliberalen Politiken finden lässt. Dies wiederum verwies auf die Rolle der Kritik (bei Foucault), die sich, so ein vielfaches Plädoyer, nur außerhalb des akademischen Betriebs und seiner Reproduktionsgesetze angemessen, das heißt politisch erörtern und ethisch praktizieren ließe. Gegen die Althussersche Warnung vor einer ‚Wissenschaft als Polizei’ wurde vielfach für eine Offenhaltung des prekären Verhältnisses von Theorie und Methode plädiert. Inwieweit diese Offenhaltung des akademischen Forschens, Formen der politischen Praxis mit einbeziehen kann, und wie diese aussehen sollen, wurde lebhaft diskutiert, blieb jedoch – notwendig – unbeantwortet.

Auch wenn im Zuge der Konferenz merkwürdig unberührt blieb, was eigentlich unter dem label des Neoliberalismus zu verstehen ist – wo sich doch fast alle Beiträge in mehr oder minder expliziter Weise mit neoliberalen Politiken beschäftigten – lässt sich zumindest eine spezifisch neoliberale (?) Gleichzeitigkeit diagnostizieren von stat(ist)ischem, robustem, adminsitrativ-arithmetischem Regierungswissen, welches nach wie vor zu Steuerungs- und Prognosezwecken verwand wird (wie etwa das Beispiel der unternehmerischen Universität zeigt), und offenen, komplexen, und experimental-explorativen, fuzzy Wissensanordnungen (etwa in der Neuropädagogik oder im ‚Bolognaprozess’). Auffallend – und sicher spannend für weitere Studien – sind dabei spezifische Invisibilisierungen der Orte politischer Verantwortlichkeit, die tendenziell zu Zuständen technokratischer „Niemandsherrschaft“ (Arendt) führen können (siehe etwa die Beiträge von Maeße und Angermüller).

Analytisch betrachtet, hoben die Beiträge, gegen ein eindimensionales Diskursverständnis gewendet, die „konstitutive Hybridität“ (Bröckling/Krasmann) diskursiver Ordnungen hervor, die sich angemessen nur unter Einbeziehung von Widersprüchen bzw. Brüchen, und mehrerer Diskursebenen entschlüsseln lassen. Die Vorschläge zur Dispositivanalyse in einigen Tagungsbeiträgen – ob nun verstanden als die je spezifische Verknüpfung unterschiedlicher Diskursebenen, oder als die Summe von Diskursen, Institutionen Praktiken etc. – hielten hierfür wichtige theoretische Anhaltspunkte bereit. In diesen Kontext fällt auch das explizite Plädoyer der Tagung, das Konzept der Gouvernementalität „weise“ (Osborne) zu verwenden, und die Methodenreflexion für die Diskursanalyse insofern nachvollziehbar zu gestalten, dass die programmatischen Dimensionen des ‚Regierens’ nicht einfach beschreibend wiederholt, sondern kritisch verfremdet werden. Fragen der Methode(nreflexion) wurden im Laufe der Tagung zumeist von den Diskursanalytikern vorgebracht (siehe etwa Angermüller, Maeße, Ott/Wrana). Während die Gouvernementalitätsstudien Fragen der Methode reflexiv zu problematisieren versuchten, war hier das Plädoyer für die Diskursanalyse als Methode zur Untersuchung heterogener Äußerungsmodalitäten in Texten zu vernehmen.

Gegen eine starre, repetitive Wiederholung gouvernementalitätstheoretischer Instrumentarien schlugen einige Beiträge zudem die Öffnung zu ethnografischen Methoden vor (siehe etwa Villa/Alkemeyer und Ott/Wrana, aber auch Traue). Gegen den (über-)determinierten und determinierenden Nexus von Fremd- und Selbstführung in den Gouvernementalitätsstudien brachten andere Studien den ‚Eigensinn’ als praxeologische (Quasi-)Kategorie ins Spiel. Sobald die „Praktiken der Akteure“ in den Blick genommen werden, stellt sich natürlich die Frage, ob die sich als kritisch ausweisenden Gouvernementalitätsstudien nicht Gefahr laufen, die Individualisierung des Zugriffs auf das Subjekt, wie es sich etwa im Profiling beobachten lässt, nur zu wiederholen. Bei einer solchermaßen ‚nach-vollziehenden’ Wissenschaft jedenfalls mag die Distanz zu den angewandten Sozialwissenschaften in Sachen Forschungsdesign und Methode nicht mehr genügen. Andererseits jedoch bringen erst solche ethnografischen Mikrostudien Ansatzpunkte für Widerstand und Eigensinn ans Tageslicht. Nicht zuletzt war es das Verdienst dieser Tagung, solche Debatten innerhalb von Gouvernementalitätsstudien und Diskursanalyse wieder angestoßen zu haben – gegen ritualisierte und repetitive Vorgehensweisen in der Forschung. Und für eine revidierte Agenda der Gouvernementalitätsstudien, wie sie O`Malley et al. schon vor mehr als zehn Jahren angemahnt hatten.1

Konferenzübersicht:

Johannes Angermüller (Universität Magdeburg) und Silke van Dyk (Universität Jena): Diskursforschung meets Gouvernementalitätsforschung – Methodologische Perspektiven auf Subjekt-Macht-Wissen–Formationen. Einführende Anmerkungen

Sabine Maasen (Universität Basel): Neuropädagogik – Better Brains in Knowledge Society. Diskursanalytische Untersuchungen eines Falls von Biogouvernementalität

Annika Mattissek (Universität Heidelberg): Stadtmarketing als Ausdruck einer neoliberalen Gouvernmentalität? Wie eine diskurstheoretische Perspektive zur Öffnung und Dynamisierung der Gouvernementalitätskonzeptes beitragen kann

Marion Ott (Universität Frankfurt am Main) und Daniel Wrana (Universität Basel): Zur Relation von Diskursivität und Gouvernementalität im Feld aktivierender Arbeitsmarktpolitik

Johannes Angermüller (Universität Magdeburg): Von der Referenz zur Exzellenz. Technologien der Wissensproduktion in der unternehmerischen Universität

Ute Tellmann (Universität Basel): Das Archiv als die Schule der Theorie

Jens Maeße (Universität Mainz): Konsensdiskurse als gouvernementale Regierungstechnik? Eine Diskursanalyse des Bologna-Prozesses und die Frage nach seinen subjektkonstiuierenden Wirkungen

Stefanie Gräfe (Universität Jena): Diskurseffekte? Subjektivität zwischen hegemonialer Produktion und Eigensinn

Paula Villa (Universität München) und Thomas Alkemeyer (Universität Oldenburg): Somatischer Eigensinn? Kritische Anmerkungen zur diskurs- und gouvernementalitätstheoretischen Sicht auf den Körper

Andra Bührmann (Universität Wien) und Werner Schneider (Universität Augsburg): Die Dispositivanalyse als Forschungsperspektive und –stil. Überlegungen zur Analyse gouvernementaler Taktiken und Technologien

Boris Traue (Technische Universität Berlin): Beratung im Postfordismus: Medien, Diskurse und Rituale eines Regierungsdispositivs

Tina Denninger, Silka van Dyk, Stephan Lessenich und Anna Richter (alle Universität Jena): Die Regierung des Alter(n)s. Analysen im Spannungsfeld von Diskurs, Dispositiv und Disposition

Ulrich Bröckling (Universität Leipzig) und Susanne Krasmann (Universität Hamburg): Ni méthode, ni approche. Zur Forschungsperspektive der Gouvernementalitätsstudien – mit einem Seitenblick auf Konvergenzen und Divergenzen zur Diskursforschung

Anmerkung:
1 Pat O’Malley u.a., Governmentality, Criticism, Politics, in: Economy & Society 26 (1997), S. 501-517.


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