Krisengeschichte(n). ‚Krise’ als Leitbegriff und Erzählmuster in kulturwissenschaftlicher Perspektive

Krisengeschichte(n). ‚Krise’ als Leitbegriff und Erzählmuster in kulturwissenschaftlicher Perspektive

Organisatoren
Cluster of Excellence „Asia and Europe“; Historisches Seminar; Institut für Fränkisch-Pfälzische Geschichte und Landeskunde der Ruprecht-Karls Universität Heidelberg
Ort
Heidelberg
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.07.2009 - 25.07.2009
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Von
Julia Itin, Universität Heidelberg

Der Krisenbegriff genießt heutzutage nicht nur in den Medien eine große Konjunktur, wo er spätestens seit der Ölkrise der 1970er-Jahre eher als ein plakatives Passepartout verwendet wird, sondern auch in den Wissenschaften. Dieses Leitmotiv der Postmoderne wird jedoch auch im wissenschaftlichen Diskurs inflationär eingesetzt. Aufgrund ihrer ‚dramatischen’ Außergewöhnlichkeit verfügen Krisen über eine besondere Anziehungskraft und sind gleichzeitig, nach Reinhard Kosellek, eine „Selbstdiagnose“, das Narrativ einer Gesellschaft. Historiographisch gesehen können sie einerseits als Tragödie (Hayden White) oder Verfallsgeschichte aufgefasst werden, andererseits aber auch als Erfolgsstory, Ausnahmezustand oder – im Sinne einer Dauerkrise und somit als der Normalzustand der Postmoderne – als ein „globalisiertes Gefühl des beschleunigten Wandels“ wahrgenommen werden. Krisen werden aber auch als langfristige, Struktur verändernde Prozesse interpretiert, die eine Entscheidung und subjektbezogene Wertung verlangen (CARLA MEYER, Heidelberg). Die Teilnehmer des transdisziplinären Symposions, das vom 23. bis zum 25. Juli im Heidelberger Karl Jaspers Centre for Transcultural Studies stattfand, stellten die Profilierung der ‚Krise’ als Leitbegriff und narratives Muster in kulturwissenschaftlicher Perspektive in Frage, diskutierten den Begriff in Abgrenzung zur Katastrophe, die eher als ein unvorhersehbares Ereignisse mit gravierenden Folgen gesehen wird und deren Prozesscharakter erst in der jüngsten Forschung diskutiert wird (Greg Bankoff), erörterten die materialbezogene Analyse der kontextualisierten Verwendung des Schlagworts, seinen oft diagnostisch-retrospektiven Gebrauch, widmeten sich aber auch der Frage nach der Identität, die durch die Krise herausgefordert und geformt zu werden scheint.

Unter diesen Prämissen wurden in der ersten Sektion unter dem Vorsitz von MONICA JUNEJA (Heidelberg) multiple Semantiken des Krisenbegriffs in der Psychologie, Ökonomie, Ethnologie, Soziologie und Literaturwissenschaft betrachtet.

JÜRGEN STRAUB (Bochum) sprach, die Polyvalenz des ursprünglich medizinischen Begriffs betonend, über die konstitutive Bedeutung der Krise für die Herausbildung der Psychologie, die ohne das diagnostische Krisenkonzept kaum denkbar wäre. Damit erklärte er Krisen als Vorgänge variabler Größenordnung zur conditio humana und damit zu einem „Normalzustand“, in dem das Subjekt erst konstituiert wird. Der bereits in der Antike vorhandene pragmasemantische Zusammenhang zwischen „Krise“ und „Kritik“ verdeutlicht die fragile Beziehung zwischen dem Individuum und seiner Umwelt. Straub arbeitete auch profilierend den Prozesscharakter der Krise, die kumulative Wirkung der Ereignisse heraus und brachte den aus der Chirurgie exportierten Begriff des Traumas ins Gespräch. Das Trauma bildet wohl das semantische Paradoxon zur Dauerkrise, nämlich die paradigmatische Krise par excellence. Auch die ursprüngliche Semantik des Begriffs der Krise als Wendepunkt, und damit ambivalente Größe, ihr positives Potential, und die von ihr ausgelösten, das Subjekt erst herausbildenden kreativen Lernprozesse (Kohlberg; Piaget) kamen zu Sprache.

MICHAEL NORTH (Greifswald) bot eine tour d’horizon durch die historische und makroökonomische Krisenforschung. Er unterschied zwischen zwei im letzten Jahrhundert vorherrschenden grundlegenden Krisenkonzepten: Depression in einer abwärts gerichteten Entwicklung, oder Verstärkung der Schwierigkeiten einer bestehenden gesellschaftlichen Struktur, vor allem in einer Feudalstruktur. So diagnostizierten bürgerliche Historiker eine Krise des Spätmittelalters oder der Frühen Neuzeit, während die marxistischen Historiker dies als Krise des Feudalismus bezeichneten. Somit waren die Krisen – Depression, Regression, Verfall – ökonomisch gedacht eine „zyklische Schwankung“. František Graus erhob zum Beispiel die Krise des 14. Jahrhunderts zu seinem Forschungsprogramm und machte Teilkrisen objektiver Art, Trendeinbrüche, Trendwenden – vom Zusammenbruch der bisherigen Werte begleitet – für diesen Wendepunkt der Geschichte verantwortlich, während für Eric Hobsbawm der Zusammenbuch des Systems als solcher maßgeblich war.

Eingehende Überlegungen zum Krisenkonzept der Ethnologie wurden von ANNETTE HORNBACHER (München) gemacht: So beschrieb sie die Krisen in erster Reihe als kulturspezifische Identitätsdiskurse, die sich an Umbruchsstellen einer Gesellschaft ereignen. Als Bewältigungsmechanismen dieser Krisen, als „soziale Dramen“ dienen oft sogenannte Übergangsrituale, die performative Modelle einer Gesellschaft sind (Victor Turner). Solch ein Sozialstatuswechsel, zum Beispiel der Übergang vom Jugendlichen zum Erwachsenen, wird in traditionellen Gesellschaften durch ein Initiationsritual vollzogen. Die performative Inszenierung der Gesellschaftserneuerung, welche die individuelle Adoleszenzkrise substituieren soll, hat mittels kultureller Sinngebung auch eine integrierende Funktion im semantischen Horizont der jeweiligen Gesellschaft. Dabei ist zu beachten, dass die „Tradition“ nicht unbedingt mit einem unreflektierten Umgang mit der Krise gleichzusetzen ist – sie birgt in sich ein analytisches Mittel zur Beschreibung kultureller Traditionen in ihrer reflexiven Transformation vor dem Hintergrund der Globalisierungsdebatte.

ANSGAR NÜNNIG (Gießen) machte weiterführende „Gesprächsangebote“ zur Metaphorologie und Narratologie der Krise. Mit Ralf Konersmanns Prämisse, dass Metaphern, und damit auch Krisen, Erzählungen sind, die sich als Einzelwort maskieren, sprach er von Metaphern, die figuratives Wissen erst generieren und nicht nur schlichter Redeschmuck sind. Vielmehr sind Metaphern, Konzepte, und Narrative die Werkzeuge für die Kreation der Welt (Nelson Goodman). Somit sind sie Konstruktionsmechanismen der Medien, die sich zum Beispiel in der aktuellen Finanzkrise ihrer ursprünglichen Semantik, ihrer medizinischen Metaphorik bedienen, in dem sie von sterbenden Patienten sprechen. Folglich verleihen organische Metaphern funktionell ein sicheres Gefühl des Weltverstehens – sie werden dann eingesetzt, wenn ein Phänomen in seinem eigenen Kontext nicht begriffen werden kann, die Rekonvaleszenz ist dank des ärztlichen Konsils im semantischen Feld miteingeschlossen. Sie strukturieren die Wirklichkeit, steigern die Aufmerksamkeit und reduzieren die Komplexität. Metaphern generieren Emotionen, werden als Argumente benutzt und dienen somit zur Legitimation des Handelns. Und darüber hinaus sind sie wertvoll zur Kreierung von Erzählgemeinschaften, die wiederum kollektive Identität schaffen und erhalten.

In der zweiten Sektion unter dem Vorsitz von CLEMENS ZIMMERMANN (Saarbrücken) sprach CARLA MEYER (Heidelberg) über die Konkretisierung der Krisennarrative am Beispiel von Sallusts Coniuratio Catilinae, die wohl als Subtext für spätmittelalterliche Zeitchronistik zu verstehen ist. So übernimmt Sigmund Meisterlin in seiner Erzählung über den Aufstand der Nürnberger Bürgergemeinde gegen den „alten“ Rat nicht nur stilistische Mittel der Geschichte der catilinischen Verschwörung, sondern bedient sich auch der Erklärungsmuster, die bereits Sallust für den Putsch des gescheiterten Konsul verwendete. In ihrer Dramaturgie an die strukturierende Tragödien-Theorie des Aristoteles angelehnt, schildert die Erzählung eine ernste innenpolitische Krise, die sowohl im Fall Augsburgs, als auch im Fall der res publica Romana für ihre Autoren eine ernste Bedrohung der bestehenden Ordnung darstellt.

KATJA PATZEL-MATTERN (Heidelberg) verglich Kommunikationsweisen industrieller Katastrophen anhand zweier Explosionsunglücke der BASF in den Jahren 1921 und 1948. Beide Unglücke forderten eine hohe Anzahl von Menschenleben und trafen in ihrem historischen Kontext in Deutschland auf vulnerable Strukturen und lösten so Debatten über die eigene Zukunft aus. Die Rollen- und damit auch Schuldzuweisung schien nach dem zweiten verlorenen Krieg eine andere zu sein als vordem: Während Anfang der 1920er-Jahre noch die Technik für die Explosion verantwortlich gemacht wird (dargestellt zum Beispiel durch die Symbolik der gestoppten Uhr), erscheint Ende der 1940er-Jahre bereits der Mensch selbst als Akteur der Geschichte und die Natur als sein Opfer.

GERRIT JASPER SCHENK (Heidelberg) bot eine detaillierte Untersuchung des historischen semantischen Krisenfeldes in Anlehnung an Reinhard Kosellek. Da die Begriffe eine vergangene Kommunikation und Weisen der Welterzeugung widerspiegeln, scheint es sinnvoll, zunächst Wendungen wie „in Gärung geratene Zeit“ (Alvarus Pelagius), eventuelle Oberbegriffe und Adaptationen spätantiker Begrifflichkeit im Krisendiskurs des krisenreichen Mittelalters genauer zu untersuchen. In einer gewählten Begrifflichkeit ist meistens auch die Deutung enthalten – derjenige, der eine Überflutung in das semantische Feld der Sintflut rückt, bringt das Naturereignis in einen kausalen Zusammenhang mit dem strafenden Gott, Fragen nach ‚Theodizee’ und Eigenschuld des Menschen. Der causa moralis entsprechend wird auf die Katastrophen reagiert – es werden Sittenmandate verabschiedet und Prozessionen in die Wege geleitet. Aber dank der Aristoteles-Rezeption existiert auch eine causa naturalis, die Gott, den unbewegten Beweger, als prima causa deutet, nicht lediglich als paralleles, sondern als komplementäres Deutungsmuster der Katastrophen. Seit dem 15. Jahrhundert werden die sich langsam herauskristallisierenden abstrakten Oberbegriffe der Katastrophen, solche wie Disastro (Unstern), in der Tradition von Avicenna und Albertus Magnus vulgarisiert und mit astro-meteorologischen Deutungen versehen. Seit diesem Zeitpunkt findet auch eine Kategorisierung der Krisen und der Katastrophen statt – bis heute latent vorhandene Implikatoren des rapiden Wandels – was Gerrit Schenk dazu veranlasst, eine „vormoderne Sattelzeit“ in die Diskussion einzubringen, die er auch transkulturell belegte.

Im Beitrag von THILO JUNGKIND (Konstanz) wurde der Paradigmenwechsel der Krisenpolitik in der Unternehmensgeschichte deutlich. Anhand des Umgangs mit chemischen Störfällen nach 1950 schilderte er den Wandel von der Inkaufnahme solcher Unglücke als miteinberechneten Kollateralschaden der an die Tradition der Industrialisierung anknüpfenden Produktion hin zum neuartig ausgerichteten „(Umwelt-)Schutzdenken“. Spätestens seit dem Dioxinunglück im italienischen Seveso im Jahre 1976 scheinen die Stimmen der Kritiker auch von den Unternehmen ernst genommen zu werden und es entwickelte sich seitdem eine umweltorientierte Unternehmenskultur. Nicht die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges, sondern die Ökologiebewegungen und die strengere Gesetzgebung auf deutscher und europäischer Ebene trugen nach dem Unglück von Seveso zu diesem Sinneswandel bei.

Die Sektion über Krisenerzählungen als Erklärungsmodelle für gesellschaftliche Erosionen unter dem Vorsitz von CHRISTOPH DARTMANN (Münster) leitete CHRISTIAN ROHR (Salzburg) mit dem Klassiker der Krise des 14. Jahrhunderts ein. Die Chronistik des Klosters Königssaal bei Prag, mitteleuropäische Heuschreckenplagen um 1340 und durch einen erdbebenbedingten Bergsturz (ca. 1348) zerstörte Dörfer in Kärnten dienten ihm als Beispiele, um zu zeigen, dass es sich eher um eine gesteigerte Krisenstimmung handelte, die den Chronisten zwang jede Sonnenfinsternis in die Katastrophennomenklatur aufzunehmen, als – in diesen konkreten Fällen – um eine ‚reale’ Katastrophe gravierenden Ausmaßes. Er stellte auch allgemein die Frage, ob es sich bei der zum Beispiel von Graus retrospektiv diagnostizierten Krise des 14. Jahrhunderts tatsächlich um eine ‚reale’ Größe und nicht vielmehr um einen Leitbegriff in einer Zeit der gesteigerten Krisensensibilität handele.

URTE WEEBER (Heidelberg) fragte in ihrem Vortrag nach der oft ausgeblendeten Deutungskategorie der Wirkung einer Krise als Chance, insbesondere die Krise nach einem Niedergang, der spätestens seit dem Niedergang Roms des Öfteren eine politische Krisenkategorie bildet. In Anlehnung an Foucault betrachtete sie im Diskurs über die existierenden Republiken um 1700 die „Krise“ und den „Niedergang“ als frühneuzeitige Wahrnehmungs- aber auch gleichzeitig als geschichtswissenschaftliche Beschreibungskategorien. So wurde zum Beispiel von Amelot de la Houssaie, dem Sekretär des französischen Botschafters in Venedig die Krise nicht zyklisch, im Sinne von Polybios oder Machiavelli, sondern als Chance und Einleitung einer Reform gesehen.

In ihrem Beitrag diskutierte CORDIA BAUMANN (Heidelberg) anhand des RAF-Beispiels die Unterscheidung zwischen dem Phänomen als Symptom und als Ursache der Krise. Die ‚allgemeine’ Krise der 1970er-Jahre wurde erst ab 1973, im Zuge der Ölkrise, von Hobsbawm als Zäsur diagnostiziert, also nach der Hochphase der Rote Armee Fraktion, die in der Bundesrepublik zur Krise der demokratischen Gesellschaft zu werden schien. Diese Diagnose wurde seitens des Staates als Legitimation für die Beschränkungen innerhalb des demokratischen Systems im Zuge der Bekämpfung der „Terroristenkrise“ verwendet. Die Medien dieser Krisenwahrnehmung in der Gesellschaft waren sehr vielfältig, was die Rednerin anhand der genaueren Analyse des Filmes „Deutschland im Herbst“ zeigte.

HARALD WELZER (Essen) sprach im öffentlichen Abendvortrag über Krisen als programmierte Erscheinungen eines kapitalistischen Systems, die das System zwar erschüttern, aber nicht zum Scheitern bringen. Dem sozialistischen System wurden hingegen retrospektiv diagnostizierte Verfallserscheinungen zum Verhängnis, was der Zusammenbruch des gesamten Ostblocks verdeutlichte. Dank des Vertrauens in das kapitalistische System und des performativen Weiterfunktionierens dieses Systems wird die aktuelle Finanzkrise in der Bundesrepublik lebenswirklich kaum wahrgenommen. Anhand dieser Krise zeigte Welzer ebenfalls, wie die Mittel für ihre Lösung dank des gebrochenen Generationsvertrages geschaffen werden – so wie der westatlantische Kapitalismus die Ressourcen von Außen einbezog, bemüht man sich heute, den nicht mehr vorhandenen Raum durch Zeit zu substituieren und die gegenwärtigen Probleme in die Zukunft zu verlagern.

DOMINIK SCHALLER (Heidelberg) leitete die Sektion zu Risiko- und Expertendiskursen als neue Erzählmuster der industrialisierten Moderne mit dem Beispiel des „Social Engineering als Mittel zur Bewältigung kolonialer Herrschaftskrisen“ ein. Er zeigte auf, wie die Diskurse über den Umgang mit den Herero die Angst, sogar Panik der Kolonialisten in Zusammenhang mit der Herrschaftskrise in Namibia widerspiegeln. Auch in diesem Krisendiskurs wird das medizinische Argument der Krisenlösung vorgeschlagen – man empfiehlt quasi eine Amputation des kranken Gliedes, konkret eine Deportation der „gefährlichen Elemente“ nach Papua-Neuguinea, nachdem sich Maßnahmen wie Tätowierungen und Kennzeichnungspflicht als nicht ausreichend erwiesen hatten.

CORNELIA KNAB (Heidelberg) brachte in ihrem Vortrag über Seuchenbekämpfung im 20. Jahrhundert einen weiteren Begriff aus dem semantischen Feld der Krise ins Spiel, das Risiko. In ihrem Rückgriff auf vergleichbare historische Krisensituationen sprachen die Experten in Fällen wie dem Ausbruch der Pest in Harbin und der Spanischen Grippe oft von einem Risiko und ergriffen Präventivmaßnahmen, wie Schutzimpfungen. Vor allem dank der europäischen Erinnerung an die große Pest, lösen die – auch mit heutigen Mitteln nur bedingt kontrollierten – Seuchen ein bestimmtes Verhalten aus, das auch auf der Kommunikations- und Reaktionsebene zu beobachten ist. Daher sollte der Begriff Risiko vor allem im engen Zusammenhang mit dem Krisenbegriff gesehen werden, und zwar als Teil des programmierten Krisenmanagements.

KARL SIEGBERT REHBERG (Dresden) stellte resümierend Überlegungen zum Krisenbegriff an. Er betonte erneut die Funktion der Sprache als Konstruktion der Welt und damit ihre entscheidende Bedeutung für den Krisendiskurs. Die Krisennarrative – Drama, Dekadenz, Verfall – sind somit kein Redeschmuck, sondern selbst mediale Vermittlung, Legitimationsrhetorik, medizinisches Paradigma, das Politik (und Wirtschaft) als „Gesundheitssystem im Großmaßstab“ erscheinen lässt. Diese ursprünglich antike medizinische Deutung birgt in sich auch die Ambivalenz der Krise als Chance auf eine Genesung. Die Krise wird gewissermaßen entpathologisiert, normalisiert, da sie vor allem in ein kapitalistisches System eingebaut und heutzutage mit dem Systemwissen zu bewältigen ist. Das Ziel besteht also darin, „gestärkt aus der Krise [zu] gehen“ (Angela Merkel). Er empfahl auch eine strikte heuristische Herangehensweise an den Begriff der Krise und schlug vor, im Krisendiskurs ‚Webersche Idealtypen’ zu unterscheiden und die Narrative nicht als Realbeschreibungen zu sehen. Er machte auch auf das Potential des Begriffs Risiko als „Präsenz des Möglichen“ aufmerksam, was die Krise gewissermaßen zu einem „Latenz-Zustand“ erhebt.

In der regen Diskussion kamen diverse Aspekte des gegenwärtigen Krisendiskurses zur Sprache. Vor allem wurden stark die begriffsgeschichtlichen, semantischen und narrativen Aspekte der Krise als weiterführende Untersuchungsfelder hervorgehoben. Die im konventionellen Sprachgebrauch eher marginal vertretene, aber in ihrem medizinischen Ursprung vorgesehene ambivalente Bedeutung der Krise, die auch als eine Chance zu verstehen ist, wurde deutlich. Der konkurrierende, aber in gewisser Weise auch komplementäre Begriff der Katastrophe, als ein abruptes Ereignis mit gravierenden Folgen wurde auch im ähnlichen Prozesscharakter wie Krise anhand der neuen Forschungsdiskurse beleuchtet.

Konferenzübersicht:

Begrüßung: CARLA MEYER; KATJA PATZEL-MATTERN; GERRIT JASPER SCHENK

I. Die ,Krise’ als Leitbegriff im transdisziplinären Diskurs
Chair: MONICA JUNEJA (Heidelberg)

JÜRGEN STRAUB (Bochum), Der Begriff der „Krise“ in Psychologie und Soziologie

MICHAEL NORTH (Greifswald), Der Begriff der „Krise“ in der historischen und wirtschaftshistorischen Forschung

ANNETTE HORNBACHER (München), Der Begriff der „Krise“ als Problem der Ethnologie

ANSGAR NÜNNING (Gießen), Bausteine zur einer Metaphorologie und Narratologie der Krise

II. Die „Krise“ als Modell zur Deutung von Geschichte und die hermeneutischen Konsequenzen solcher „Krisengeschichten“
Chair: CLEMENS ZIMMERMANN (Saarbrücken)

a) Alte Wahrnehmungs- und Erzählmuster für neue Krisen

CARLA MEYER (Heidelberg), Bewährte Erzählmuster in und für Krisenzeiten? Sallusts Coniuratio Catilinae als Subtext für die spätmittelalterliche Zeitchronistik

KATJA PATZEL-MATTERN (Heidelberg), „Unsagbares Grauen“. Erzählmuster in der Medienberichterstattung über die Explosionsunglücke bei der BASF 1921 und 1948

b) Deutungsmuster der Krise und ihre Bedeutung für Intervention und Prävention

GERRIT JASPER SCHENK (Heidelberg), Katastrophe, Unstern, Strafgericht? Begriffe und Konzepte für rapiden Wandel im Mittelalter

THILO JUNGKIND (Konstanz), „Wir sind nicht schlechter als früher“. Zum Wandel im Umgang mit Störfällen in der chemischen Industrie nach 1950 - eine unternehmensgeschichtliche Perspektive auf dem Weg zur möglichen Krise

Chair: CHRISTOPH DARTMANN (Münster)

c) Krisenerzählungen als Erklärungsmodelle für gesellschaftliche Erosionen

CHRISTIAN ROHR (Salzburg), Wahrnehmungen und Deutungen von Krise(n) im 14. Jahrhundert

URTE WEEBER (Heidelberg), Wie die Krise den Niedergang als Reform erfasst. Der Diskurs über die existierenden Republiken um 1700

CORDIA BAUMANN (Heidelberg), RAF. Krisenerscheinung der demokratischen Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland

HARALD WELZER (Essen), Im Blindflug durch die Gegenwart. Über Krisen, Brüche und Zusammenbrüche

d) Risiko- und Expertendiskurse als neue Erzählmuster der industrialisierten Moderne

DOMINIK SCHALLER (Heidelberg), „Wie wäre es, wenn man die gefährlichen Elemente nach Papua-Neuguinea deportiert?“ – Social Engineering als Mittel zur Bewältigung kolonialer Herrschaftskrisen

CORNELIA KNAB (Heidelberg), Historische Krisensituationen und die Beeinflussung des Risikobewusstseins in der Seuchenbekämpfung im 20. Jahrhundert

KARL SIEGBERT REHBERG (Dresden), Zusammenfassende Überlegungen zum Krisenbegriff

Abschlussdiskussion


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