Sozialgeschichte der Arbeit „nach dem Boom“. Deutschland und Europa seit den siebziger Jahren

Sozialgeschichte der Arbeit „nach dem Boom“. Deutschland und Europa seit den siebziger Jahren

Organisatoren
Dietmar Süß, Jena Center "Geschichte des 20. Jahrhunderts"; Winfried Süß, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam
Ort
Potsdam
Land
Deutschland
Vom - Bis
28.05.2009 - 29.05.2009
Url der Konferenzwebsite
Von
Nicole Kramer / Reinhild Kreis, Ludwig-Maximilians-Universität München, Historisches Seminar

Die Geschichte der Arbeit rückt wieder in den Fokus der Historiographie, nicht zuletzt, weil Arbeitslosigkeit gegenwärtig die Existenzgrundlage zahlreicher Menschen bedroht und damit eine zentrale Herausforderung der europäischen Sozialstaaten darstellt. Der Blick richtet sich insbesondere auf die letzten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, die jüngst als Epoche "nach dem Boom" bezeichnet und mit den Kategorien des "Strukturbruchs" und eines "sozialen Wandels von revolutionärer Qualität" (Anselm-Doering-Manteuffel/Lutz Raphael) beschrieben wurden. Die sozialhistorische Perspektive dürfe bei der Vermessung dieses Arbeitsfeldes nicht fehlen, konstatierten DIETMAR und WINFRIED SÜß. Sie luden deshalb am 28. und 29. Mai 2009 zu einer gemeinsamen Tagung des Jena Center Geschichte des 20. Jahrhundert und des Zentrum für Zeithistorische Forschungen (ZZF) nach Potsdam, um über die "Sozialgeschichte der Arbeit 'nach dem Boom'. Deutschland und Europa seit den siebziger Jahren" zu diskutieren und neue Forschungsperspektiven zu entwickeln.

In seiner Einführung betonte WINFRIED SÜß (Potsdam) die Bedeutung von Arbeit als strukturierender Faktor sozialer Beziehungen. Der Wandel von Arbeitsverhältnissen wirke sich auch auf gesellschaftliche und sozialstaatliche Zusammenhänge aus. Eine Sozialgeschichte der Arbeit "nach dem Boom" verstehen die Veranstalter zum einen als Thema internationaler Vergleichsstudien, die Länder West- und Osteuropas trotz der Systemunterschiede gleichermaßen betrachten. Zum anderen plädieren sie für den Ansatz einer sozialwissenschaftlich informierten, eng auf die Wirtschaftsgeschichte bezogenen Sozialgeschichte, die zeitgenössische Daten und Konzepte anderer Disziplinen zu nutzen und zu historisieren weiß.

Das erste Panel stellte den „Formenwandel der Arbeit“ in den Mittelpunkt. ANDRÉ STEINER (Potsdam) diskutierte die bekannte These, dass sich die Arbeits- zur Dienstleistungsgesellschaft gewandelt hat, am Beispiel der Bundesrepublik und der DDR. Der wachsende Bereich der Dienstleistungen in der Industrie - das haben Forschungen zur DDR-Wirtschaft gezeigt - lässt sich mit dem klassischen Drei-Sektoren-Modell jedoch nicht abbilden. Steiner stellte damit die Tragfähigkeit der Modelle und Konzepte anderer Disziplinen in Frage und schlug vor, eine alternative Kategorisierung zur Untersuchung der Epoche „nach dem Boom“ zu entwickeln, um als Historiker nicht dort zu verharren, wo Ökonomen und Sozialwissenschaftler vor Jahrzehnten stehen geblieben sind. Auch DIETMAR SÜß (Jena) forderte, bisherige Selbstverständlichkeiten zu dekonstruieren und setzte sich mit dem Begriff der Arbeit auseinander. Er zeigte, wie sich dieser in den siebziger Jahren veränderte. Die Humanisierungsdebatte der sozialdemokratisch-gewerkschaftlichen Reformpolitik, die Forderung nach alternativem Arbeiten und Wirtschaften der neuen sozialen Bewegungen und nicht zuletzt die massenhafte Erwerbslosigkeit führten zu einer Pluralisierung von Vorstellungen. Arbeit blieb jedoch ein zentraler Faktor gesellschaftlicher Integration Und ein soziokultureller Bezugspunkt. Die von Andreas Wirsching jüngst vorgebrachte These von der Ablösung des Arbeiters durch den Konsumenten in den 1970er- und 1980er-Jahren ist so gesehen zumindest fragwürdig. Auf eine kurze Formel gebracht, galt weniger „Konsum statt Arbeit“ als „Konsum durch Arbeit“.

Für die Mehrheit der Arbeitenden waren vor allem Veränderungen auf dem Feld der Arbeitszeitpolitik spürbar. WOLFGANG SCHROEDER (Kassel) gab einen Überblick über das Ringen der Gewerkschaften und der Unternehmer um das kostbare Gut Zeit, wobei er den Zuhörern seine Sympathien nicht verheimlichte. In seinem Referat wurde deutlich, dass eine „Sozialgeschichte der Arbeit“ gut daran tut, die Unternehmer und Betriebe nicht als anonyme Kollektivakteure zu betrachten. Ohne die Scheuklappen der alten Arbeitergeschichte müssen Historiker diese in die Untersuchung einbeziehen und differenzieren, wie auch der Kommentator GEORG ALTMANN (Frankfurt am Main) hervorhob. Die anschließende Diskussion drehte sich um drei Fragenkomplexe, die im weiteren Verlauf des workshops immer wieder zur Sprache kamen. Erstens: Kann man wirklich eine Krise konstatieren oder gibt es auch Entwicklungen, die für eine Erfolgsgeschichte sprechen? Zweitens mahnten einige Diskutanten an, nicht aus den Augen zu verlieren, dass es sich bei den Analyseerkenntnissen wie dem Bedeutungsverlust des Industriesektors um eurozentrische Perspektiven handele. Drittens wurde klar, dass es künftiger Forschungen bedarf, die sich Branchen, einzelnen Betrieben oder bestimmten Beschäftigtengruppen widmen, um die Ungleichzeitigkeit des Strukturwandels zu erfassen.

Die zweite Sektion bündelte die geschlechtssensiblen und migrationsgeschichtlichen Fragestellungen. MONIKA MATTES (Potsdam) konzentrierte sich auf Frauenerwerbsarbeit in West- und Ostdeutschland und plädierte dafür, das sozialwissenschaftliche Ernährer-Hausfrau/Zuverdiener-Modell für die historische Forschung stärker nutzbar zu machen. Allerdings wurde in der anschließenden Diskussionen angeregt, dieses Konzept mitsamt seinen Vorannahmen zu historisieren. Zukünftige Studien sollten über die seit langem vorherrschenden Einsichten hinausgehen. Fest steht: Immer mehr Frauen arbeiteten und waren deshalb in West- und auch in Osteuropa, wie MALGORZATA MAZUREK (Potsdam) am polnischen Beispiel skizzierte, mit geschlechtsspezifischen Ungleichheiten konfrontiert. Aber was bedeutete dies für Familienarrangements? Gab es den männlichen Normalarbeiter überhaupt, der meist als Kontrastfolie fungierte? Wie wirkte sich die Konfliktlinie zwischen Männern und Frauen in der Arbeitswelt aus, wenn die Geschlechter im Privaten meist in Kooperation leben? Das große Erkenntnispotential, das der geschlechtssensible Ansatz bereithält, ist bei Weitem noch nicht ausgeschöpft, wie CHRISTIANE KULLER (München) in ihrem Kommentar betonte.

JENNY PLEINENS (Trier) Vortrag wies einen Weg zur Operationalisierung von Untersuchungen, die Arbeit als einen Faktor im lebensweltlichen Gesamtkontext begreifen. Kollektivbiographisch näherte sie sich der Gruppe der Gastarbeiter in Belgien und der BRD. Für diese Gruppe stellte die Arbeit häufig das Zugangsticket zur aufnehmenden Gesellschaft dar. Aber auch innerfamiliäre Arrangements hingen davon ab, insbesondere der Nachzug von Angehörigen. Der Blick vom Standpunkt der Arbeitenden machte deutlich, dass sich deren Erfahrungen nur in Verbindung von Politik-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte erfassen lassen.

Wer von der Arbeitsgesellschaft spricht, kann von der Arbeitslosigkeit nicht schweigen. Mit Blick nach West- und Osteuropa widmete sich die dritte Sektion den Erscheinungsformen von Erwerbslosigkeit und den Bewältigungsstrategien in verschiedenen Staaten. Unter den Vorzeichen des Strukturwandels und der ansteigenden Massen- und Langzeitarbeitslosigkeit in den westlichen Staaten seit der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre rückte Erwerbslosigkeit nicht nur als innergesellschaftliches Problemfeld, sondern auch als Aspekt des Ost-West-Konflikts in den Vordergrund. Im Rahmen der Systemkonkurrenz galt die Abwesenheit von Arbeitslosigkeit als Beweis für die Legitimität und Qualität der eigenen Wirtschaftsordnung. Da in den Staaten des Obstblocks das "Recht auf Arbeit" Verfassungsrang hatte und der Staat über darüber ebenso wachte wie über die Pflicht des Einzelnen zur Arbeit, waren die RGW-Staaten gegenüber dem Westen zumindest statistisch gesehen im Vorteil: Hier gab es weder offene noch versteckte Arbeitslosigkeit. PETER HÜBNERs (Potsdam) Vortrag über die Beschäftigungsproblematik in den Ländern des sowjetischen Blocks behandelte diese Dimension und sensibilisierte aus systemübergreifender Perspektive für Definitionen von Arbeit, Arbeitslosigkeit, Nicht-Arbeit, Unter- und Überbeschäftigung.

In den sich wandelnden westlichen Arbeitsgesellschaften entstanden in den siebziger Jahren neue Formen der Inklusion und Exklusion. Der innerwestliche Vergleich zwischen der Bundesrepublik und Italien (THOMAS SCHLEMMER, München) bzw. Großbritannien (WINFRIED SÜß) im Umgang mit Arbeitslosigkeit zeigte, wie dabei staatliche Akteure auf soziale Strukturgefüge einwirkten. So waren in Italien die Arbeitnehmer in Großbetrieben durch einen Spezialtarif abgesichert, der weit über den Sätzen der regulären Arbeitslosenversicherung lag, mit dem die meisten Arbeitslosen auskommen mussten. Hier verlief die Grenze also weniger zwischen Erwerbstätigen und Erwerbslosen, sondern teilte die Gruppe der Arbeitslosen in besser und schlechter gestellte Personenkreise – letzere hatten keine politische oder gesellschaftliche Lobby. In der Bundesrepublik zementierte das System der Arbeitslosenversicherung hingegen bestehende Wohlstandspositionen durch hohe Lohnersatzraten und sicherte vornehmlich lückenlose Erwerbsbiographien ab. In Großbritannien garantierten die staatlichen Leistungen nur eine Grundsicherung auf niedrigem Niveau. In der Krise traten die unterschiedlichen wohlfahrtsstaatlichen Traditionen und Erfahrungen wieder deutlich zutage und prägten die jeweilige Krisenpolitik.

Für den Aspekt der Arbeitsmarktentwicklung traf angesichts dieser neuen Probleme zu, was die Tagungsteilnehmer als Gesamtsignatur der "Sozialgeschichte der Arbeit nach dem Boom" ablehnten: In der Wahrnehmung der Mitlebenden handelte es sich in diesem Bereich um eine Krisengeschichte. Damit schwand jedoch, so betonte BERTHOLD VOGEL (Hamburg) in seinem Kommentar, keinesfalls die Hoffnung auf politische Gestaltbarkeit im Arbeitsmarktbereich. Vielmehr ging mit der zunehmenden Staatsbedürftigkeit ein gesteigertes Vertrauen in die innovationspolitischen Möglichkeiten und Problembewältigungskompetenzen des Staates einher.

Die vierte Sektion behandelte "Reaktionen auf den Wandel der Arbeitsgesellschaft". TOBIAS GERSTUNG (Tübingen) zeigte, dass dieser Strukturwandel nicht nur Reaktionen im Bereich der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik erforderte, sondern auch in andere Lebensbereiche hineinwirkte. In mikrogeschichtlicher Perspektive führte er am Beispiel Glasgows aus, dass die Stadt sich angesichts der fundamentalen Veränderungen im Arbeitsbereich neue Arbeitsplätze schaffen und sich quasi neu erfinden musste. Eher übergreifend war demgegenüber RÜDIGER HACHTMANNs (Potsdam) Vortrag angelegt, der in einer Langzeitperspektive Rationalisierungsdiskurse in den Gewerkschaften von den 1920er- bis in die 1980er-Jahre untersuchte. Damit geriet abschließend noch einmal die Frage nach Kontinuitäten und Brüchen, mithin nach den Zäsuren der Zeit "nach dem Boom" in den Blick.

Die Geschichtswissenschaft befindet sich angesichts dieser noch nicht abgeschlossenen und tiefgreifenden Wandlungsprozesse in einer Suchbewegung, wie dieses neue Feld zu vermessen und zu analysieren ist. Der Workshop zeigte Themen und Perspektiven künftiger Forschungen auf. Erstens sollten überkommene Begriffe und Modelle historisiert und auf ihre Reichweite sowie ihren analytischen Wert kritisch überprüft werden. In engem Zusammenhang damit steht, die vielfältigen Diskurse zum Thema "Arbeit" und zu verschiedenen Begriffen von Arbeit ausfindig zu machen und in ihrer Langzeitwirkung zu untersuchen.

Zweitens gilt es, einen neuen und unverstellten Blick auf die Akteure einer Sozialgeschichte der Arbeit zu entwickeln und zu fragen, inwiefern sich mit der Arbeitsgesellschaft auch die Binnendifferenzierungen der zu untersuchenden Akteure veränderten. Gefordert wurde insbesondere, den arbeitenden, arbeitgebenden oder -suchenden Menschen stärker als bisher in den Mittelpunkt zu stellen und besonders erfahrungsgeschichtliche Dimensionen zu berücksichtigen. So sollte sich die künftige Forschung verstärkt mit bisher vernachlässigten Gruppen wie Frauen und Migranten beschäftigen, Unternehmer, Selbständige und Beschäftigte im Dienstleistungsbereich untersuchen, aber auch die "Überzähligen" (Robert Castel) der sich verändernden Arbeitsgesellschaften.

Drittens stellt sich die Frage nach den räumlichen Bezugspunkten. Positiv hervorzuheben ist, dass sich die Vorträge nicht auf Westeuropa beschränkten, sondern auch die Staaten des Ostblocks als Arbeitsgesellschaften unter anderen politischen Vorzeichen einbezogen. Grundsätzlich ließe sich jedoch fragen, ob die Europazentrierung angesichts der vielfältigen Außenbeziehungen gerade im Sektor Arbeit nicht aufgebrochen werden muss. Über Migration, Produktion und Konsum sind die europäischen Arbeitsgesellschaften weltweit verflochten. Künftige Forschungen müssen in globaler Perspektive verstärkt nach solchen internationalen und transnationalen Rückkopplungen und wechselseitigen Verflechtungen fragen.

Die Umsetzung dieser Ansätze, so lassen die anregenden Diskussionen der Konferenz hoffen, wird neue Akteure und Lebensbereiche einbeziehen, die bislang nur selten unter dem Aspekt der Arbeit betrachtet wurden, und dadurch auch bisher angenommene Zäsuren relativieren. Die künftige Sozialgeschichte der Arbeit "nach dem Boom" verlässt die engen Bahnen der alten Arbeitergeschichte. Sie verknüpft sozial-, wirtschafts- und kulturgeschichtliche Ansätze und will sie transnational vergleichend einordnen.

Konferenzübersicht:

I. Formwandel der Arbeit
Moderation: Winfried Süß

André Steiner: Wirtschaftlicher Strukturwandel und Wandel der Arbeit (BRD/DDR)

Dietmar Süß: Die Politische Semantik der Arbeit

Wolfgang Schröder: Arbeitszeitpolitik

Kommentar: Georg Altmann

Moderation: Ralf Ahrens

Monika Mattes: Frauen und Arbeit (BRD/DDR)

Malgorzata Mazurek: Weibliche Arbeit im Dienstleistungssektor. Polen in europäischer Perspektive

Jenny Pleinen: Arbeitsmigration (BRD/Belgien)

Kommentar: Christiane Kuller

II. Arbeitslosigkeit
Moderation: Friederike Sattler

Peter Hübner: Versteckte Arbeitslosigkeit in den RGW-Ländern?

Thomas Schlemmer: Langzeitarbeitslosigkeit (BRD/Italien)

Winfried Süß: Arbeitslosigkeit und Armut (BRD/GB)

Kommentar: Berthold Vogel

III. Reaktionen auf den Wandel der Arbeitsgesellschaft
Moderation: Dietmar Süß

Tobias Gerstung: Strukturwandel in altindustriellen Gebieten (GB/BRD)

Rüdiger Hachtmann: Gewerkschaften und Rationalisierung (BRD/DDR)

Kommentar: Jan-Otmar Hesse


Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts