Religion für die Sinne. I. Teil: Zur religiösen Bedeutung von Musik, Prozessionen und bildender Kunst in Antike und Mittelalter

Religion für die Sinne. I. Teil: Zur religiösen Bedeutung von Musik, Prozessionen und bildender Kunst in Antike und Mittelalter

Organisatoren
Internationales Kolleg für Geisteswissenschaftliche Forschung (IKGF), Ruhr-Universität Bochum
Ort
Bochum
Land
Deutschland
Vom - Bis
24.06.2009 - 25.06.2009
Url der Konferenzwebsite
Von
Philipp Reichling / Meret Strothmann / Görge Hasselhoff, Ruhr-Universität Bochum

Der erste von insgesamt drei Workshops zum Thema „Religion für die Sinne“ beschäftigte sich mit Musik, Prozessionen und bildender Kunst in Antike und Mittelalter zwischen Asien und Europa. In Form von einzelnen Fallstudien sollte zwei Fragestellungen nachgegangen werden:

1. Welche Bedeutung haben Sinnlichkeitsattraktoren der verschiedenen ästhetischen Ausdrucks- und Darstellungsformen für Religionen? Diese Frage hat zu tun mit der Untersuchung sinnlicher Elemente und Motive von Religion und ihrer nach innen wie nach außen gerichteten Funktion und berührt das Themenfeld Konstitution von Religionen des Forschungskollegs.

2. Welche Elemente der verschiedenen ästhetischen Ausdrucks- und Darstellungsformen sind geeignet, um religionsübergreifend verwandt zu werden? Hier wird der Religionsaustausch aufgrund von sinnlichen Wahrnehmungen untersucht und bezieht sich auf das Themenfeld der Ausdehnung von Religionen des Forschungskollegs.

Eine erste Sektion des Workshops widmete sich der Gattung Musik. YASEMIN GÖKPINAR (Bochum) begann mit einer Präsentation islamischer und gregorianischer Musik und beschrieb ihre gemeinsamen Wurzeln und ihre Wechselwirkungen. Nach einem historischen Überblick über beide Musikrichtungen und ihre je individuelle von Umbrüchen geprägte Entwicklung, zeigte sie Parallelen der einstimmigen Melodieführung und der Melismatik auf. Gerade in Byzanz und in Spanien mit der Entwicklung einer mozarabischen Liturgie kam es zu Berührungen und Einflussnahmen auf christliche Gesänge durch islamische Musik. Seit dem 9. Jahrhundert wurden umgekehrt in der arabischen Welt in der Musiktheorie christliche Überlegungen rezipiert.

CHRISTIAN AHRENS (Bochum) wandte sich der Konstruktion und dem Gebrauch von Musikinstrumenten anhand des Beispiels der Orgel zu. Das in der westlichen Tradition als „Königin der Instrumente“ betitelte Instrument diente ursprünglich der Motivation von Athleten, zum Beispiel den Gladiatorenkämpfern in Rom, oder wurde in der Antike zur Untermalung von Festen verwendet und stammt daher aus einem profanen Kontext. Kaiser Konstantin V. von Konstantinopel überreichte als ein außergewöhnliches Geschenk 757 Pippin eine Orgel, womit das Instrument Eingang in den westeuropäischen Kulturraum erhielt. Die sich entzündende Diskussion, ob die Orgel in der lateinischen Liturgie verwendet werden darf oder nicht, wurde schon bald sehr kontrovers geführt. Allein die Tatsache, dass die Orgel durch einen Windhauch (spiritus) zum Klingen gebracht wird, machte sie für diese Funktion aufgrund der göttlichen Konnotation des heiligen Geistes (Spiritus Sanctus) akzeptabel, so dass sie sich schnell in der lateinischen Christenheit durchsetzte. Der türkische Dichter Evliya Çelebi (1611-1682) war fasziniert von der Orgel, die er bei einer Europareise kennen lernte. In der arabischen Welt wird die Nay als das Musikinstrument für den Gottesdienst angesehen, vergleichbar der Orgel im lateinischen Christentum. Die Begründung für die Stellung als liturgisches Instrument, so Ahrens, ist ähnlich wie im Christentum, gilt der Klang dieses Instruments als göttlich, was mit dem Atemhauch des Musikers zu tun hat, vergleichbar dem Windhauch der Orgel.

ROBERT C. PROVINE (Maryland) spannte einen mit zahlreichen Klangbeispielen untermalten Bogen von buddhistischer, daoistischer, konfuzianischer bis hin zu animistischer und schamanistischer Musik in China, Japan und Korea. Allen Musikformen gemeinsam seien ihr meditativer Charakter und der reduzierte Einsatz von Instrumenten (Flöten und Rhythmusinstrumente), so Provine. Gerade die Einfachheit der Melodien hat eine lange Tradition ausgeprägt, welche für die jeweilige Religion bis in die Gegenwart hinein identitätsstiftend wirkte und ihre Attraktivität ausmacht.

Eine theoretische Annäherung unternahm ANJA HEILMANN (Jena) mit kritischen Stimmen zur Musikrezeption bei den antiken christlichen Philosophen Augustinus und Boethius. In Augustins Bekenntnissen wird zwischen sensus und ratio unterschieden. Die Musik als sinnliches Geschehen steht nach Augustinus in der Gefahr den Verstand zu irritieren und so von der Suche nach Gott abzulenken. Umgekehrt räumt er ein, dass die Musikwahrnehmung der Anfang eines anagogischen Weges sein kann, der den Zuhörer zu Gott führt. Boethius unterscheidet in seinem Buch „De institutione musica“ in der Musik zwischen einer inneren Harmonie im Menschen und einer kosmischen Harmonie. Eine Funktion der Musik ist die Möglichkeit, durch sie grundsätzliche Teilnahme an Gott zu erlangen. Beide Theorien haben in der Religionsgeschichte lange nachgewirkt, so Heilmann.

Die Leitidee der zweiten Sektion bildeten Prozessionen und ihre Wege in den Metropolen. Grundsätzlich durchmessen Prozessionen eine Strecke, die von zwei Endpunkten begrenzt wird, wobei die Eckpunkte eine besondere Rolle einnehmen, sei es dass die Prozessionen innerhalb einer Stadt durchgeführt werden oder von Stadt zu Stadt führen. Durch Prozessionen werden personelle und räumliche Einheiten generiert, gleichzeitig werden Grenzen gezogen. Dabei können Prozessionen völlig unterschiedliche Funktionen erfüllen. Sie können exklusiv eine Demonstration von Macht vonseiten der Herrschenden sein, aber auch inklusiv Akteure und Zuschauer miteinander in Beziehung setzen, Bindungsverhältnisse abbilden, stabilisieren oder installieren.

Eine historische Dimension gewann die Thematik durch die Ausführungen von KUNIBERT BERING (Düsseldorf), in dessen Beitrag Prozessionswege Roms im Mittelalter untersucht wurden. Bering verfolgte die Prozessionswege Pauls III. vom Lateran zum Teil entlang der alten via sacra zur Peterskirche des Vatikan und nahm dabei vor allem Sichtachsen und Konstruktionen von Prozessionswegen in den Blick. Dabei machten Modifikationen von Prozessionswegen auf besondere Punkte aufmerksam und verknüpften tradierte memoria mit neuen Bezügen. Analogien und kulturelle Aneignungen machten hier einen diachronen Religionsaustausch deutlich.

ANDREAS MÜLLER-LEE (Bochum) führte die Teilnehmer des Workshops ins Korea des 15. bis 19. Jahrhunderts und arbeitete heraus, dass durch Prozessionen der durchschrittene Weg aktuell und punktuell in Besitz genommen und politisch-sakral aufgeladen wurde. Sinn und Ziel war eine Herrschaftsrepräsentation, die sich dadurch manifestierte, dass im perfekten Einhalten einer kosmischen Ordnung im Vollzug einer Prozession sich die perfekte Regierung ausdrückte. In einem der fünf verschiedenen Prozessionstypen lassen sich glücksverheißende bzw. Opferriten für Gottheiten ausmachen, was seinen ausgesprochenen Religionsbezug deutlich macht. Die Dokumentation der Prozessionen in Korea spricht für ihre Attraktivität und kann Rückschlüsse auf die Intentionen der Prozessionen in Japan und China ermöglichen, so Müller-Lee in seinen Ausführungen.

JENNY RAHEL OESTERLE (Bochum) setzte sich mit Prozessionen im Mittelalter auseinander und verglich die Ziele und Hintergründe der Prozessionen bei Ottonen und Fatimiden. In beiden Beispielen, bei Muslimen und Christen, verkörpern Prozessionen eine Repräsentation der Machthabenden und bilden allein durch die Durchführung die Gesellschaft ab. Prozessionen schaffen durch die physische Nähe zum Herrscher – besonders im muslimischen Umfeld – Vertrauen und Akzeptanz. Der Blick des Herrschers oder gar seine Berührung zeigen die individuelle Fürsorge, die durch die regelmäßige Wiederholung der Prozessionen gefestigt und verstetigt wird. Diese Fürsorge wird im Christentum und im Islam durch den Akt der Prozession sogar sakral überhöht und damit einhergehende Verbindlichkeiten sowohl seitens des Herrschers als auch der aktiven und passiven Prozessionsteilnehmer gespiegelt. So wird im Prozessionszug ein differenziertes Abbild der jeweiligen Gesellschaft mit all ihren Bezügen unter den besonderen Parametern eines punktuell oder dauerhaft sakralisierten Raumes gegeben. Die Formbarkeit der Prozessionen seitens der Akteure eröffnet die Möglichkeit zur Stiftung und zum Erhalt einer gesellschaftlichen Identität, indem zum Beispiel auf aktuelle Ereignisse reagiert werden kann. Dieser dynamische Charakter macht neben der Identitätsstiftung die Attraktivität von Prozessionen in den behandelten Religionen aus.

Eine dritte Sektion widmete sich der bildenden Kunst zunächst mit einer Ausstellung des jordanischen Kalligrafen IYAD SCHRAIM (Münster), der in die Techniken der Kalligrafie einführte und den engen Zusammenhang von religiösem Text und künstlerischer Gestaltung desselben verdeutlichte. Die Schrift ersetzt das figürliche Bild, kann zugleich aber die Funktion eines Bildes annehmen, indem es Figürliches darstellt und damit das Bilderverbot unterläuft. Im zweiten Teil der Präsentation erklärte Schraim die von ihm gestalteten Koranverse im Detail.

HELGA SCHOLTEN (Essen) näherte sich dem Thema „Akkulturation und Visualisierung der Religionen in Dura Europos“, indem sie zunächst auf die methodischen Probleme, die mit der Analyse der Ausgrabungen von Dura Europos verbunden sind, einging. So müsse zwischen der Intention des Auftraggebers und Künstlers, dem Adressatenkreis und dem heutigen Betrachter unterschieden werden. Eine Frage ergebe sich darin, ob in den Überresten von Dura Europos Hinweise auf eine Akkulturation, eine Assimilation oder eine Segmentation gefunden werden können. Die Überreste der 315 v.Chr. errichteten Stadt lassen auf alle drei Kategorien zurückschließen. Am Beispiel des vormaligen Stadtgottes Aflad aus Anaf zeigte sie die Transformation des Kultes von einer Religion in eine andere, anhand der Bebilderungen der Hauskirche und der Synagoge zugleich die Segmentation durch Rückzug in den privaten Bereich und die Akkulturation durch die Aufnahme der Bildwelten der Umgebung. Aufs Ganze betrachtet lasse sich an Dura Europos eine Akkulturation an die mesopotamische Kultur aufzeigen.

HEHN-CHU AHN (Gießen) wandte sich in ihrem Vortrag „Die visuelle Neuordnung nach neokonfuzianischem Vorbild: Holzschnitt-Illustrationen aus der frühen Chosôn-Dynastie“ der koreanischen Kultur des 14. und 15. Jahrhunderts zu. Das bis dahin buddhistisch geprägte Korea wurde unter dem Einfluss der Chosôn-Dynastie konfuzianisiert. Als pädagogisches Mittel wurden unter anderem Illustrationen in Erziehungsschriften verwendet, die eine buddhistische Bildwelt in einen schriftlichen konfuzianischen Kontext einfügten. Dabei ließ sich aufzeigen, dass in der ersten Phase der Darstellung noch von einem matriarchal geprägten Erziehungstypus ausgegangen werden kann, während das konfuzianische Modell von einer von Vaterfiguren geprägten Erziehung ausgeht. Mit der Bebilderung der Handschriften sollte die Propaganda für das neue weltanschauliche Konzept geleistet werden.

ULRICH REHM (Bochum) zeigte durch den Vergleich zweier Buchillustrationen, die kurz nach der osmanischen Eroberung Konstantinopels angefertigt wurden, wie ein politischer Anspruch mittels der Kunst untermauert werden sollte. Die Religion diente dabei allenfalls als Mittel zum Zweck, da die Eroberer nicht oder nicht erkennbar als Muslime dargestellt wurden und die Hagia Sophia als christliche Hauptkirche der Stadt lediglich im Hintergrund erschien.

Der gesamte Workshop wurde über die Vernissage kalligrafischer Werke noch ergänzt durch weitere unmittelbare Erfahrungen sinnlicher Eindrücke, vermittelt durch den Besuch der neuen Moschee in Duisburg-Marxloh mit ihrer Zentralarchitektur und kalligrafischen Ausschmückungen und einem Konzert in der Liebfrauenkirche in Duisburg-Mitte mit ostasiatischer, gregorianischer und islamischer Musik vom Orden der Mevlevi.

Die verschiedenen Fallbeispiele ästhetischer Darstellungsformen haben trotz aller Unterschiedlichkeit zum einen deutlich gemacht, dass die Sinnlichkeit vor aller theoretischen Reflektion einen unmittelbaren und affektiven Zugang zur Religion ermöglicht, worin ihre Stärke und ihre Schwäche liegt (Augustinus). Zum anderen macht ihre Anpassungsfähigkeit an neue gesellschaftliche, politische und auch religiöse Kontexte sie zu einer identitätsstiftenden Größe, was ihre Attraktivität als religiöse Kontakttypen begründet. Die Bedingungen, unter denen diese variablen Kontakttypen sich bewähren, welche modalen Veränderungen sie erfahren, und welche Folgen das für die Konstitution und Ausbreitung von Religionen hat, muss noch weiter untersucht werden, und das Spektrum der zu behandelnden Kunstgattungen ausgeweitet werden, was Ziel der nächsten Workshops der Reihe „Religion für die Sinne“ ist.

Konferenzübersicht:

Sektion: Musik

Yasemin Gökpinar
Arabische und gregorianische Musik – Wurzeln und Wechselwirkungen

Christian Ahrens
Instrumentenbau und -verwendung im Vergleich am Beispiel des Orgelbaus

Robert C. Provine
Musiktraditionen Ostasiens: Konfuzianismus, Schamanismus, Buddhismus

Anja Heilmann
Per musicam ad Deum? Spätantike Stimmen zur Rolle der Musik im Kult und bei der Gotteserkenntnis

Sektion: Prozessionen

Kunibert Bering
Prozessionen und ihre Wege im christlichen Rom

Andreas Müller-Lee
Prozessionen in Korea

Jenny Rahel Oesterle
Prozessionen im christlich-islamischen Vergleich

Sektion: Bildende Kunst

Iyad Shraim
Kalligrafien

Helga Scholten
Akkulturation und Visualisierung der Religionen in Dura-Europos

Hehn-Chu Ahn
Die visuelle Neuordnung nach neokonfuzianischem Vorbild: Holzschnitt-Illustrationen aus der frühen Chosôn-Dynastie

Ulrich Rehm
Zur bildlichen Präsenz der Eroberung Konstantinopels am Hof Philipps des Guten