Wandel und Erfahrung als Kategorien umweltgeschichtlicher Forschung in Niedersachsen

Wandel und Erfahrung als Kategorien umweltgeschichtlicher Forschung in Niedersachsen

Organisatoren
Arbeitskreis für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts und Arbeitskreis für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen
Ort
Hannover
Land
Deutschland
Vom - Bis
07.03.2009 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Wolfgang Brandes, Stadtarchiv Bad Fallingbostel

Erstmals tagten die beiden Arbeitskreise der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen für Wirtschafts- und Sozialgeschichte und für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts gemeinsam. Diese Zusammenarbeit lag nahe, widmete sich die Tagung am 7. März im Niedersächsischen Hauptstaatsarchiv Hannover doch dem einen interdisziplinären Ansatz verlangenden Thema „Wandel und Erfahrung als Kategorien umweltgeschichtlicher Forschung in Niedersachsen“.

JOHANNES LAUFER (Göttingen) hob in seiner „Einführung“ hervor, dass die unterschiedlichen Potentiale der Naturräume seit jeher die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung in den niedersächsischen Territorien bestimmt hätten. Im Ringen des Menschen mit der Natur hätten sich besondere Kulturlandschaften vom Harz bis zur Heide und der Nordseeküste herausgebildet. Neue Vorstellungen von der Beherrschbarkeit der Natur und Veränderungen des Mensch-Natur-Verhältnisses würden sich etwa in der systematischen Erschließung der ausgedehnten Moorgebiete seit dem 18. Jahrhundert äußern. Der tief greifende Wandel von Landschaft und Umwelt werde zugleich als Verlust und Schädigung der Natur erfahren. Die Tagung wolle eine Auswahl von neuen Forschungen zu regionalen Faktoren des Umweltwandels sowie dessen Wahrnehmung und Bewältigung zur Diskussion stellen. Dabei fordere gerade die Umweltgeschichte thematische Interdisziplinarität, wie sie das Tagungsprogramm strukturierte.

NORBERT FISCHER (Hamburg) sprach zum Thema „Sturmfluten an der Nordseeküste – Über die Erfahrung von Katastrophen und ihre Folgen (17.-19. Jahrhundert)“. Er bezeichnete den Kampf gegen die „Wassernot“, also gegen Überflutungen, als die entscheidende Herausforderung für die Gesellschaften an der Nordseeküste. Bis in die Gegenwart hinein hätten die niedrig gelegenen Küstenmarschen unter den teilweise dramatischen und tragischen Folgen von Sturmflutkatastrophen gelitten. Sturmfluten und Deiche hätten über Jahrhunderte hinweg die Grenzen zwischen Wasser und Land verändert. So zeige sich die Küstenlandschaft als Ergebnis einer labilen Balance zwischen menschlichem Handeln und dem Wirken der Natur. Die Erfahrung der Katastrophe habe damit sowohl wasserbautechnische als auch mentalitätshistorisch aufschlussreiche Folgewirkungen hervorgebracht.

Katastrophen wie Sturmfluten seien eng mit Wandel und Veränderung verbunden. Bei ihrer Betrachtung stehe zumeist eine anthropozentrische Betrachtungsweise im Mittelpunkt. Handeln an der Natur und Wirken der Natur seien zu betrachten. In hydrographischen Gesellschaften sei der Deich auch ein Symbol der regionalen Gesellschaft. Das Verhältnis von staatlichem Zentralismus zu regionalem Partikularismus lasse sich an diesem Thema sehr gut beobachten. Katastrophen hätten sich dabei, wie 1663/64 in den Elbmarschen geschehen, als Katalysator staatlicher Vorherrschaft in den regionalen Gesellschaften auswirken können. Auch die Weihnachtsflut 1717 habe sich durch den Konflikt zwischen Küstengesellschaft und Obrigkeitsstaats ausgezeichnet: Der Staat sei in der Bewältigung der Flutfolgen dominanter geworden und habe Eingriffe in Alltag und Lebenswelt vorgenommen. Mentalitätsgeschichtlich aufschlussreich sei das Verhältnis Theologie versus Rationalismus. Während das Bedürfnis nach Erklärung und Sinndeutung von den Theologen mit dem Hinweis beantwortet worden sei, es handele sich um göttliche Strafe für menschliche Sünden, hätte es auch Stimmen wie jene des Nürnberger Kartografen J. B. Homann gegeben, von denen auf Versäumnisse im Wasserbau verwiesen worden sei.

ANSGAR HOPPE (Hannover) widmete sich dem „Wandel traditioneller bäuerlicher Kulturlandschaften am Beispiel der Bewässerungswiesen Nordwestdeutschlands“. Er arbeitete heraus, dass Bewässerungswiesen eine besondere Wirtschaftsform gebildet hätten. Diese seit dem 15. Jahrhundert in verschiedenen Regionen Nordwestdeutschlands weit verbreitete Wirtschaftsform gehe mit einer tief greifenden Umgestaltung ganzer Landschaften einher. Eingerichtet worden sei die Wiesenbewässerung fast ausschließlich auf Gebieten, die ursprünglich Allmenden gewesen wären, die nicht aufgeteilt, sondern von Genossenschaften bewirtschaftet worden seien. Ziel dieser Landnutzungsform seien eine Ertragssteigerung bei der Heugewinnung und damit verbunden eine allgemeine Produktivitätssteigerung in der Landwirtschaft gewesen. Dabei sei der Aspekt der Düngung vorrangig gewesen. Sie sei durch die Wiesenbewässerung einmal in Form der Steigerung der Heuproduktion mit der Möglichkeit der ganzjährigen Stallhaltung und einer verstärkten Stalldüngerproduktion erfolgt. Sie sei aber auch durch unmittelbare Düngung der Wiesen – sei es durch Sedimentation von Schwebstoffen, durch die Aufnahme von löslichen Nährsalzen oder die Einleitung von Haus- und Gewerbeabwässern – geschehen. Große Veränderungen im Landschaftsbild hätten sich durch den so genannten Rückenbau ergeben, wie er von der Suderburger Schule vertreten worden sei. Die künstlich erzeugten dachförmigen Rücken hätten zu einer fast vollständigen Umgestaltung von Flusstälern geführt. Die Anlage solch umfangreicher Komplexe habe die Bildung von Genossenschaften erfordert, da sie arbeitsintensiv in Anlage und Unterhaltung gewesen wären und auch einen erheblichen Kapitalaufwand erfordert hätten, weshalb die Finanzierung über Einrichtungen wie die hannoversche Landeskreditanstalt bedeutsam gewesen sei. Noch 1935 habe es mehr als 30.000 ha Wiesenbewässerungsanlagen gegeben, doch angesichts der intensiveren Nutzung von Mineraldünger und der fortschreitenden Mechanisierung der Landwirtschaft (Trecker mit Mähwerken hätten die Rücken der Bewässerungsanlagen nicht mehr befahren können), sei es bereits Ende der 1950er-Jahre zur Einstellung der Wiesenbewässerung gekommen.

MARTIN JANSEN (Göttingen) untersuchte „Das Gedächtnis der Böden – Langfristige Auswirkungen der Heidewirtschaft auf Wälder“. Er betonte, dass die traditionelle Heidewirtschaft in weiten Teilen Europas bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts eine verbreitete Nutzungsform gewesen sei. Die besondere Wirtschaftsweise auf den zumeist nährstoffarmen Sandböden sei mit einer drastischen Form der Nähstoffumverteilung einhergegangen. Die Heidewirtschaft sei kein in sich geschlossenes System ohne Nebenwirkungen gewesen, sondern sie führte längerfristig zur Versauerung und zur Bildung von Podsole. Durch die Plaggenakkumulation seien Eschböden entstanden. All das habe zu einer Devastierung geführt. Als extreme Folgen resultierten daraus großflächige Blößen und Wanderdünen. Am Beispiel der Lüneburger Heide werde deutlich, dass diese Veränderungen der Standorte heute noch in den Waldböden sichtbar seien. Die Geschichte der Heidewirtschaft biete darüber hinaus ein warnendes Beispiel für aktuelle und zukünftige Probleme der Nutzung natürlicher Ressourcen. Es stelle sich die Frage, inwieweit der wirtschaftliche Kollaps der Heidewirtschaft eine Folge der ökologischen Kollaps gewesen sei.

HEIKE DÜSELDER (Osnabrück) beschäftigte sich mit dem Thema „’Das Schöne mit dem Nützlichen verbinden‘ – Gestaltete Natur als Kulisse adeliger Lebenswelt und Symbol adeligen Herrschaftsverständnisses“. Sie befasste sich mit der Wahrnehmung, Nutzung und Funktionalisierung der Natur durch den landsässigen Adel in Nordwestdeutschland im 18. Jahrhundert. Der Umgang mit der Natur sei für das Selbstverständnis und die Legitimation des Adels in der Frühen Neuzeit von grundlegender Bedeutung gewesen, denn die Herrschaft über Land und Leute habe den adeligen Grundbesitzer stärker als andere Bevölkerungsgruppen in die Lage versetzt, seine naturräumliche Umgebung zu gestalten und zu nutzen. Mit der Errichtung von Landschaftsgärten sei die gelehrte Auseinandersetzung mit der „Nützlichkeit der Natur“ einhergegangen, die zudem eine Möglichkeit zur sozialen Aufwertung adliger Lebensformen geboten habe. Gärten seien also Bestandteil des adeligen Herrschaftsverhältnisses und der adeligen Ökonomie gewesen. Neben den ästhetischen seien auch praktisch-ökonomische Gesichtspunkte zu beachten. Repräsentation und Distinktionswille seien in den Gärten des Adels zur Anschauung gelangt, aber gerade auch die Nutzgärten hätten in den ländlichen Raum ausgestrahlt und Ertragssteigerungen angeregt. Die Gärten des Adels könnten somit als Nucleus betrachtet werden, der die gesamte Umgebung bestimmte. In gewissem Sinne käme ihnen eine Mittlerfunktion beim Wissenstransfer vom Adel zu den Bauern zu.

PETER-M. STEINSIEK (Göttingen) widmete sich der „Natur als ideologische Metapher in Kultur und Politik des ‚Dritten Reichs’“. Seinen Ausführungen lag die Beobachtung zugrunde, dass Natur ein weit verbreitetes Element in den Harmonisierungsmythen des „Dritten Reiches“, seinen Ritualen der Sinnstiftung und Gemeinschaftsbildung gewesen sei. Heimatliebe und Kampfbereitschaft, davon seien die NS-Ideologen überzeugt gewesen, hätten sich effektiv im gemeinschaftlichen Singen zusammenführen lassen. Das Frühlingserwachen der Natur habe zu den beliebtesten Motiven und Sinnbildern gehört – nicht nur in der Musik, sondern auch in der Malerei und Grafik. Steinsiek zeigte an einigen Beispielen, wie Natur in der Alltagswelt des „Dritten Reiches“ in Szene gesetzt und instrumentalisiert worden sei. Er warf auch einen Blick auf einige „ideale“ Natur-Landschaften jener „neuen Zeit“, um die Begriffsinhalte von Natur zu analysieren.

Die Natur sei als allwaltende Gottheit der monotheistischen Religion entgegengestellt worden. Lieder aus jener Zeit, wie jene von Hans Baumann, seien auch in der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft tradiert worden, ohne sich ihren geschichtlichen Kontext bewusst zu machen. Hitlers Lieblingslied „Im schönen Wiesengrunde“ zeige „urdeutsch“ die innige Verbundenheit mit der Natur. In vielen Liedern sei der NS-Aufbruch mit dem Frühling gleichgesetzt worden, so habe Heinrich Anacker den „Deutschen Frühling“ besungen. Besonders dem Wald sei eine große Rolle zugekommen. Göring habe behauptet, „ewiger Wald und ewiges Volk gehören zusammen“, wobei die Juden ausgegrenzt worden seien. Es wurde unterstellt, dass ihnen ein solches Naturempfinden nicht zueigen sei. Die Reichsautobahnen sollten schließlich das Einswerden, die Synthese von Natur und Technik zeigen und die Landschaft zum Kunstwerk machen. Dem Menschen wurde dabei das Recht zuerkannt, in der Natur ästhetisch nach dem Rechten zu sehen, also gestaltend in sie einzugreifen.

KAI HÜNEMÖRDER (Hamburg) sprach zum Thema „Im Fahrtweg der Castoren – Der Anti-Atomkraft-Protest im Wendland zwischen Naturerfahrung und Gemeinschaftsinszenierung“. Er setzte voraus, dass die Anti-AKW-Bewegung mit ihren Protestformen in den Sozialwissenschaften nicht mehr nur als Indikator, sondern als Motor des sozialen Wandels angesehen werde. Die Solarkollektoren und Windkraftanlagen der „Republik Freies Wendland“ hätten zwar nur wenige Wochen auf der „Tiefbohrstelle 1004“ gestanden, sie deuteten aber auf die Suche nach einem sanfteren Umgang mit der Natur hin. Hünemörder warf zum Abschluss der Tagung ein umwelthistorisches Schlaglicht auf das jüngste Kapitel des 40-jährigen wendländischen Anti-AKW-Protestes. Anhand von Bildbänden, polizeilichen Schulungsfilmen und Ausschnitten aus den „Castor-Filmen“ legte er Kontinuitäten und Brüche in der „doppelten Inszenierung“ von sozialem Protest und staatlicher Macht offen. Er machte deutlich, dass man gerade einem solchem Thema nur durch den methodischen Ansatz der Visual History gerecht werden könne. Ästhetische Suggestionswirkung sollen die Filme über die Republik Freies Wendland entfalten, aber auch die Schulungsfilme der Landespolizei Schleswig-Holstein hätten ein Bild von den Ereignissen geprägt. Es könne soweit kommen, dass die filmische Darstellung für realer gehalten werde als das tatsächliche Geschehen. Von daher sei eine symmetrische Betrachtung für die Geschichtsforschung unerlässlich.

Wie fruchtbar es ist, umweltgeschichtliche Forschung fächerübergreifend zu betreiben, belegte die lebhafte Diskussion der einzelnen Beiträge. Es erwies sich als richtig, historisch-sozialwissenschaftliche Ansätze mit naturwissenschaftlichen Untersuchungen zu verbinden. Wichtige Impulse wurden gegeben, um die Umweltgeschichte stärker in den Blick der Landesgeschichte zu rücken und dem Spannungsverhältnis von Naturwahrnehmung und Naturaneignung nachzugehen. Als Untersuchungsgegenstand eignet sich dafür das agrarisch geprägte, unterschiedliche Landschaftsformen aufweisende Niedersachsen gut.

Konferenzübersicht:

Arbeitskreise für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts und die Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen

Johannes Laufer (Göttingen): Einführung

Norbert Fischer (Hamburg): Sturmfluten an der Nordseeküste – Über die Erfahrung von Katastrophen und ihre Folgen (17.-19. Jahrhundert)

Ansgar Hoppe (Hannover): Der Wandel traditioneller bäuerlicher Kulturlandschaften am Beispiel der Bewässerungswiesen Nordwestdeutschlands

Martin Jansen (Göttingen): Das Gedächtnis der Böden – Langfristige Auswirkungen der Heidewirtschaft auf Wälder

Heike Düselder (Osnabrück): „Das Schöne mit dem Nützlichen verbinden“ – Gestaltete Natur als Kulisse adeliger Lebenswelt und Symbol adeligen Herrschaftsverständnisses

Peter-M. Steinsiek (Göttingen): Natur als ideologische Metapher in Kultur und Politik des „Dritten Reichs“

Kai Hünemörder (Hamburg): Im Fahrtweg der Castoren – Der Anti-Atomkraft-Protest im Wendland zwischen Naturerfahrung und Gemeinschaftsinszenierung