Der Historiker Hans Rothfels (1891-1976) - "ein Wanderer zwischen den Welten"?

Der Historiker Hans Rothfels (1891-1976) - "ein Wanderer zwischen den Welten"?

Organisatoren
"Centre Marc Bloch" Deutsch-Französisches Forschungszentrum für Sozialwissenschaften
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
15.07.2003 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Matthias Berg

Die Kontroverse um den Historiker Hans Rothfels erreichte im letzten Jahr im Zuge des Streits um die Rolle deutscher Historiker im Nationalsozialismus ein besonderes Maß an Heftigkeit. Ohne Frage kulminieren in der Person Rothfels’ und in seiner Biografie ungewöhnlich viele und ungewöhnlich relevante Fragestellungen, so dass eine breit gefächerte und sachlich geführte Debatte notwendig ist. Zudem handelt es sich, wie nur in der durch Hans-Peter Schwarz als noch „qualmende Geschichte“ so treffend popularisierten Zeitgeschichte möglich, um einen Forschungsgegenstand, der zugleich legitimes Objekt der Historiografie und Bestandteil der Lebensgeschichte beteiligter Historiker ist. Nachdem sich der „Qualm“ nun etwas verzogen hatte, begannen für einen verlängerten Nachmittag unter der Diskussionsleitung von Peter Schöttler (Berlin) und Michael Wildt (Hamburg) die knapp fünfzig Teilnehmer des Workshops „Der Historiker Hans Rothfels (1891-1976) – »ein Wanderer zwischen den Welten« ?“ im Berliner Centre Marc Bloch mit der Debatte.

Dass der Workshop nicht als „Anklageinstanz“ gegen eine einzelne Person zu verstehen sei, verdeutlichte Peter Schöttler in seinen einleitenden Worten. Auch „Historikerkollegen“ könnten als zu beschreibende, historische Objekte von Historikern mittels „zeitgemäßer und international kompatibler Maßstäbe“ bearbeitet werden. Die Teilnahme von Georg Iggers gab dem Workshop überdies eine besondere, lebensgeschichtliche Note, über welcher die für diese Debatte so bedeutsame Gleichzeitigkeit von Rothfels Person als historischem Objekt und erlebtem Subjekt zu keinem Zeitpunkt in den Hintergrund geriet. Der Workshop wurde entlang der Emigration von Rothfels im Jahr 1939 in zwei Abschnitte unterteilt.

I. Hans Rothfels in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus

In seinem Beitrag „Zum biografischen Profil bis zur Emigration“ lieferte Lothar Machtan (Bremen) einen Abriss des wissenschaftlichen und politischen Weges Rothfels’ bis zum Jahr 1939. Von der Herkunft aus einer jüdischen Bankiers- und Gelehrtenfamilie über den prägenden Fronteinsatz und der Erlangung erster wissenschaftlicher Meriten bei Friedrich Meinecke bis hin zur Berufung nach Königsberg kennzeichnete Machtan den erfolgreichen Aufstieg, welcher für Rothfels zu Beginn der 30er Jahre in einen „Spitzenplatz“ innerhalb der deutschen Historikerzunft mündete. Politisch sei Rothfels auch in der Weimarer Republik dem „Geist von 1914“ verhaftet geblieben und habe sich die vielfach ersehnte „Erneuerung“ als „Aufstieg eines neuen Reiches in welcher Form auch immer, als die Inthronisierung eines nationalstaatlichen Willens von autoritativer und zwingender Gestaltungskraft“ gedacht. Der neukonservativen „Jungen“ - Bewegung nahestehend unterschied er sich jedoch vor allem durch die stärkere Ausprägung eines „politischen Bewusstseins der Verantwortung vor dem unbedingten Machtwillen des Staates“ von der revolutionär orientierten Variante des Neukonservatismus. Der angestrebte „Wiederaufstieg des Reiches“ blieb daher „zuallererst staatspolitisch verschränkt“, nach Machtan ließ sich Rothfels erst am Ende der 20er Jahre vom Stellenwert der Volkstumspolitik überzeugen. Die parlamentarische Demokratie konnte, im Gegensatz zur „politischen Ideenwelt des »originären« Preußen“, für ihn „keine normgebende Realität werden“. In der Ablehnung der Habilitation Eckart Kehrs und der gleichzeitigen Protegierung Rudolf Craemers sah Machtan die „politisch-ideologische Verhärtung seines Selbstverständnisses als Historiker mit öffentlichem, politischem Auftrag“ in besonderer Weise illustriert. Den von Rothfels verwandten Begriff der „historia militans“ verortete Machtan „prinzipiell“ in der „Richtung“ der „kämpfenden Wissenschaft“ Walter Franks, auch wenn diese noch einen Schritt entfernt sei. Seine „nationalpolitischen Verdienste“ ermöglichten es Rothfels nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten, trotz seiner Stigmatisierung zum Juden, vorerst auf dem Königsberger Lehrstuhl zu verbleiben und auf eine bevorzugte Behandlung hoffen zu können. Dies erwies sich jedoch als Irrtum, auch wenn sich, laut Machtan, „Rothfels (...) 1935 noch in prinzipieller Übereinstimmung mit bestimmten politisch-pädagogischen Vorgaben des NS-Regimes glaubte“. Den Weg in die Emigration vermied Rothfels buchstäblich bis in die letzte Sekunde, erst im Sommer 1939 ging er nach England.

Mit der Feststellung, dass sich die aktuelle Debatte in Ermangelung neuer Quellen vor allem auf die „Bewertung von bereits Bekanntem“ beschränke, leitete Karen Schönwälder (Berlin) ihren Beitrag ein. Es handle sich zudem überwiegend um eine Auseinandersetzung um die heutige Geschichtswissenschaft und ihre Protagonisten, hier fragte Schönwälder nach einer eventuellen Parallele zur Revolte Rothfels gegen zeitgenössische Gepflogenheiten der Wissenschaft. In ihrer Darstellung erschien Rothfels nun auch, im Gegensatz zum Beitrag Machtans, stärker als „Exponent des Neuen“, der auf der Suche nach einer „neuen Staatlichkeit“ keineswegs das alte Reich wiederherstellen wollte. Diese Konsequenz habe Rothfels, den Schönwälder als außergewöhnlich charismatische Figur skizzierte, aus der Niederlage des Reiches im Krieg gezogen. Auf die Forderung der Nationalsozialisten nach einem besonderen politischen Engagement der Wissenschaft reagierte Rothfels, nach Schönwälder, zustimmend, für seine Wissenschaft lehnte er eine „standpunktlose Objektivität“ ab. Diese Zustimmung sei, so Schönwälder, als Antwort auf die bereits in den Jahren 1933 und 1934 erkennbaren Konturen des NS-Regimes zu lesen. Anhand seiner Vorschläge zur Neuordnung des östlichen Europas erläuterte Schönwälder die „innovativen“ Ordnungsvorstellungen Rothfels’, der die fraglichen Gebiete unter deutscher Ägide in eine Bestandsform jenseits der bestehenden Nationalstaaten führen wollte. Dass eine „friedliche“ Revision der bestehenden Nachkriegsordnung für Rothfels eine vorstellbare Option dargestellt haben könnte, bezeichnete Schönwälder als fraglich. Weitere Interpretationen müsse man sich jedoch versagen, da Rothfels aufgrund seiner erzwungenen Emigration hierfür keine Anhaltspunkte liefere.

Ingo Haar (Berlin) betitelte seinen Beitrag mit „Hans Rothfels als Historiker der Extreme: Zwischen Republik und Diktatur“ und suchte durch drei ausgewählte Beispiele seine Einschätzung von Rothfels zu untermauern. Dass dem „sozialen und gesellschaftspolitischen Kontext mehr Aufmerksamkeit einzuräumen“ sei und die zu Beginn der 30er Jahre evidenten Systembrüche eine „eingängige Diskursanalyse“ ohnehin erheblich erschwerten, schickte er seiner Analyse voran. Die Rolle von Rothfels als Mitglied der Historischen Kommission im Reichsarchiv kennzeichnete Haar als „Blockadepolitik“, die sich vor allem in der Verweigerung, den Aktenzugang bezüglich der „Sozialstaatsgeschichte im Bismarck-Staat“ nach dem Abbruch der eigenen Forschungen freizugeben, manifestierte. Als aufstrebender Historiker Preußens, dessen Position Haar am „rechten Rand“ ausmachte, habe Rothfels alle Möglichkeiten genutzt, missliebige Forschungen zu „torpedieren“, was letztlich im „offenen Bruch“ mit seinem Mentor Friedrich Meinecke eskalierte. Einer „sorgfältigen Prüfung“ bedürfe die Frage, inwieweit hiermit eine „Ablehnung des politischen Systems einherging“. Zur Beantwortung setzte sich Haar mit der Rolle Rothfels’ im „Herrenklub“ und in der „Ringbewegung“ auseinander. Bereits in einem frühen „Herrenklub-Aufsatz“ von 1925 habe er die Themen der 30er Jahre vorweg genommen. Dies beinhalte vor allem die „föderative Reichsidee, durch welche die neuen osteuropäischen Nationalstaaten unter deutscher Führung und unter Verlust ihrer nationalen Souveränität zusammengefügt werden sollten“. Als Mitglied der „Ring-Bewegung“ und Königsberger Vertrauensmann habe Rothfels zudem das zentrale Anliegen der Bewegung, die Verhinderung des „Rückfalls in das System der Parlamentsregierung“, aktiv unterstützt und sich letztlich im Januar 1933 „endgültig hinter die neue Reichsregierung mit Hitler als Kanzler“ gestellt. Für Haar ist sowohl die Frage nach der „Feindschaft gegen den ersten deutschen demokratischen Verfassungsstaat“ wie auch nach der Nähe Rothfels’ zu „nationalsozialistischen Positionen“ zu bejahen. In den auf dem Internationalen Historikertag in Warschau vorgetragenen, offen revisionistischen Positionen sah Haar einen weiteren Prüfstein für die Ablehnung „liberaler Positionen“ durch Rothfels. Kennzeichnend für Rothfels Ansichten sei die vorurteilsbeladene Darstellung der Deutschen als den Polen „kulturell und ethnisch überlegen“. Trotz der „Anpassung an das NS-Regime“ schied Rothfels jedoch aus dem Universitätsbetrieb aus und musste schließlich emigrieren.

In der Diskussion zum somit abgeschlossenen ersten Teil des Workshops wurde zu Beginn die „wissenschaftliche Innovationsleistung“ Rothfels’ erörtert und mehrheitlich verneint. Georg Iggers wies auf die besondere Spannbreite zwischen der durch Rothfels verfolgten herkömmlichen Geschichtsschreibung und den Arbeiten der durch ihn geförderten „Volkstumshistoriker“ hin. Auch Peter Schöttler sah die „Innovationsleistung“ Rothfels’ vor allem in der Integration von traditioneller Geschichtsschreibung und Volksgeschichte, somit ergab sich eine „zweigleisige Chance“ sowohl zur Innovation wie auch zur Wahrung der Tradition. Michael Esch (Berlin) beklagte die in den Vorträgen mangelhaft erfolgte Problematisierung des Verhältnisses von politischen Stellungnahmen und historiografischen Paradigmen, fraglich sei doch vor allem die eventuelle Verbindung zwischen Rothfels’ politischen Ansichten und seinen „Geschichtsauffassungen“. Die von Michael Wildt problematisierte „zentrale Stellung des Volkes als Ergebnis der von den Siegermächten gewollten Nachkriegsordnung“ führte zu einem kurzen Disput um die Einordnung sowohl der Nachkriegsordnung wie auch der Position Rothfels’. Die Mehrheit der Beiträge stimmte der Einschätzung Wildts zu, der das Recht als „Beginn der Option zur Homogenisierung“ bezeichnete. Allerdings gab Peter Schöttler zu bedenken, dass der Parlamentarismus ein integraler Bestandteil der Konzeption war, sich in der Realität jedoch kaum durchzusetzen vermochte. Dass die entwickelten Minderheitenrechte bereits Antworten auf den eklatanten Widerspruch zwischen heterogenen Bevölkerungsstrukturen und den auf Homogenität ausgerichteten Nationalstaatskonzeptionen darstellten, führte Michael Esch hierzu abschließend aus. Leider konnten Lothar Machtan sowie Ingo Haar ihre Beiträge nicht persönlich vortragen und diskutieren.

II. Hans Rothfels in der Emigration und in der Nachkriegszeit

Der Beitrag John L. Harveys (Pennsylvania State University) beschäftigte sich mit der Zeit der Emigration Rothfels’ und mit seinem erstaunlichen Erfolg in einem „fremden Land“. Bei der Ankunft 1940 in New York des Englischen kaum mächtig, konnte Rothfels bereits fünf Jahre später an der Chicagoer Universität einen der wichtigsten Lehrstühle der amerikanischen Geschichtswissenschaft besetzen. Sowohl Rothfels wie auch seine Familie wurden amerikanische Staatsbürger und integrierten sich vollauf in ihrem akademisch geprägten Umfeld. Harvey fragte sich daher: „Was this the mark of the Deutschen Sonderweg?“ Zur Erklärung dieses phänomenalen Erfolgs verwies Harvey nochmals auf den Unwillen Rothfels’ zur Emigration, der jedoch nach dem Erlass der „Nürnberger Gesetze“ zunehmend unter Druck geriet und sowohl England als auch die USA als mögliche Fluchtorte in Betracht zog. Die Übersiedlung der Familie Rothfels nach England erfolgte jedoch, so Harvey, in zu engem zeitlichen Kontext mit dem Kriegsausbruch, die angestrebte Integration wurde mit den offen ausbrechenden Feindseligkeiten unmöglich. Erst ein Angebot der amerikanischen Brown University beendete die Internierung Rothfels’ auf der Isle Of Man. Bereits seit den zwanziger Jahren verfügte Rothfels, zum einen durch amerikanische Stipendiaten im Reichsarchiv, zum anderen über die Rockefeller Foundation, über Kontakte zur amerikanischen Geschichtswissenschaft. Zwar strebte Rothfels laut Harvey zur Zeit der Weimarer Republik keine engen Beziehungen an, doch halfen ihm diese Kontakte bei seinem Eintreffen im Jahr 1940 durchaus. Zudem befanden sich ehemalige Schüler von Rothfels, die ebenfalls emigrieren mussten, bereits in den USA und unterstützen ihn bei den ersten Versuchen, Fuß zu fassen. Mit dem Verweis auf Rothfels’ außergewöhnliches Charisma wie auf die durch die Einberufung amerikanischer Historiker seit 1941 sich verbessernden Möglichkeiten begründete Harvey den schnellen und umfassenden Erfolg an der Brown University. Dem Bruch im Jahr 1945 folgte der Ruf nach Chicago. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Rothfels, trotz seines „conservative, anti-slavic and anti-socialist bias“, in der amerikanischen Geschichtswissenschaft als Mensch wie als Lehrer ein hohes Ansehen erworben. Die Entscheidung zur Remigration nach dem Krieg knüpfte Rothfels dann auch an die jederzeitige Möglichkeit zur Rückkehr nach Chicago. Harvey erklärte sich den Erfolg Rothfels’ jedoch keineswegs nur aus dem bestehenden Netzwerk und seinem enormen Charisma, vielmehr schätzte er die Bereitschaft der Amerikaner Rothfels’ „talent for leaning toward political winds“ willig zu akzeptieren als ebenso bedeutsam ein. Nach Harvey erscheint der Rothfels der Emigration als „Chamäleon“, das sich seiner Umwelt anzupassen vermochte. Ob spezifische „ideological tinctures“ westlicher Historiker ihm dabei entgegen kamen, bedürfe weiterer Forschungen.

Die besondere Stellung Rothfels’ nach seiner Rückkehr aus Amerika stand im Mittelpunkt des Beitrages „Hans Rothfels und die Konstruktionen der westdeutschen Zeitgeschichtsschreibung“ von Karl Heinz Roth. In seinem Vortrag führte Roth an Hand einer Vielzahl von Beispielen die neuerliche „Erfolgsgeschichte“ des Remigranten Rothfels aus, der aus verschiedensten Funktionen heraus den Lauf der westdeutschen Zeitgeschichtsschreibung bis zum Beginn der 70er Jahre entscheidend beeinflusst habe. Aus dem „Gravitationsviereck seines Wirkens“, welches das Institut für Zeitgeschichte in München und die Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, die Mitarbeit an der „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa“, die Tätigkeit als Hauptherausgeber der „Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik“ sowie seine Rolle als „Graue Eminenz“ des Historikerverbands umfasste, wurde Rothfels zum „Diskurssteuerer“, dessen allumfassender Einfluss „unsere Bereitschaft zum kritischen Verstehen in mancher Hinsicht auf die Probe“ stelle. Rothfels wurde zum Exponenten des für die Mehrzahl der deutschen Historiker am ehesten zu akzeptierenden Umgangs mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Nach Roth suchten sie „von ihrer nationalen Identität zu retten, was irgendwie noch zu retten war“, der Remigrant Rothfels wurde dabei zur „Brückenfigur“. In seinen zu Beginn der 50er Jahre veröffentlichten programmatischen Aufsätzen entwarf Rothfels das hierzu notwendige Argumentationsschema, das für die Zeit des NS-Regimes Deutschland als „besetztes Land“ ansah sowie die deutsche Nation und den Nationalsozialismus vollständig voneinander zu trennen suchte. Die „Wiederaufrichtung der Nation“ gelang nach dieser Interpretation nur durch die unbedingte „Frontstellung“ gegen den „östlichen Totalitarismus“. Im Prozess der Exkulpation der Historikerschaft wie auch der „erniedrigten Nation“ habe sich Rothfels als Evaluierer und Beichtvater, als Therapeut und Seelsorger betätigt. Nach Roth rückte in diesem „Selbstheilungsprozess“ die Beachtung der Opfer der NS-Politik in den Hintergrund, zuvorderst musste die Nation wieder aufgerichtet werden. An mehr als einem halben Dutzend Beispielen bemühte sich Karl Heinz Roth, die spezielle Art und Weise wie auch den durchschlagenden Erfolg der „Wissenschaftspolitik“ Hans Rothfels’ zu belegen. Abschließend verwies Roth auf die engagierte Mitarbeit Rothfels’ bei der Auseinandersetzung mit dem „Neo-Nazismus“ und seine Unterstützung des Verfassungsschutzes bei der Bewertung einschlägiger Publikationen. Diese Grenze sei bei Rothfels, trotz aller berechtigter Kritik, glasklar und unbestritten. Die spezifischen Ausprägungen der frühen westdeutschen Zeitgeschichtsschreibung sah Roth durch die Erlangung einer „transnationalen und transkulturellen Perspektive“ der heutigen Historiografie überwunden, so könne man nun mit „einem fast ethnologischen Blick“ auf die „merkwürdigen Verstrickungen und Diskurssteuerungen zurückblicken“.

Im letzten Beitrag referierte Nicolas Berg (Leipzig) unter dem Titel „Implizites Gedächtnis und unausgesprochene Geschichte: Hans Rothfels und der Gründungsdiskurs der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945“ die „Wirkungsgeschichte der Remigration“ Rothfels’ unter besonderer Berücksichtigung seiner wichtigsten Veröffentlichung: „Die deutsche Opposition gegen Hitler“. Einleitend skizzierte Berg eine kurze Doppelbiografie mit gänzlich unterschiedlichem Verlauf - die beiden Emigranten Hans Rothfels und Georg Iggers. Anhand der konträren Entwicklung zweier Lebensläufe illustrierte er prägnant die Besonderheiten beider Biografien, ein ausgesprochen packender Einstieg. Als Opfer der NS-Rassenpolitik kam Rothfels, der, wie ausgeführt, trotz seiner betont nationalkonservativen Einstellung letztlich emigrieren musste, in den zeitgeschichtlichen Kontroversen nach 1945 eine einzigartige Stellung zu, sein Wort erlangte „schlechthin konstitutive Bedeutung“. Als „Ausländer, Emigrant und vertriebener Jude“ „reimportierte“ er die „alten Perspektiven“ und formulierte als „deutscher Patriot (...) Positionen, die sich seine Kollegen gar nicht mehr leisten konnten.“ Wie Berg ausführte, erhellen weniger die gewaltigen Verwerfungen in der Biografie Rothfels’ als vielmehr die „über die biografischen Brüche hinwegzielenden Verbindungsversuche“ das Besondere dieser Vita. Ganz im Gegensatz zur exzeptionellen Position Rothfels’ war das Urteil gegenüber den Emigranten in Deutschland vorwiegend ressentimentgeladen und vom Versuch der „erkenntnistheoretischen Marginalisierung“ ihrer Beiträge gekennzeichnet. In der Beantwortung der Frage nach dem Umgang Rothfels' mit den an ihn gerichteten Erwartungen verwies Berg auf die Formulierung vom „besetzten Deutschland“, welche einen „ganzen Denkstil“ begrifflich fasste und zugleich die interpretatorische Eingangsvoraussetzung für die im Buch zum Widerstand zentrale Trennung zwischen „Deutschem und Nationalsozialistischem“ darstellte. Mit der Veröffentlichung von „Die deutsche Opposition gegen Hitler“ etablierte Rothfels nach Bergs Ansicht den „allgemeinen apologetischen Reflex der Deutschen nach 1945 als Wissenschaft“. Es handele sich jedoch keineswegs mehr ausschließlich um Geschichtsforschung - nach einer Formulierung Ulrich Raulffs schuf Rothfels eine „erträumte Autobiografie“, die für die Mehrheit der Deutschen anschlussfähig war. Die euphorischen Reaktionen illustrierte Berg an einer Vielzahl von Beispielen, die „Sehnsucht nach einem Widerstandsnarrativ“ fand in dieser „Gegenerzählung zum Nationalsozialismus“ ihre Heimat. Hingegen von „den Lagern zu sprechen hieß, eine Politik des Hasses und der Rache fortzusetzen“, Fragen nach den von Deutschen verübten Verbrechen wurden marginalisiert. Rothfels gelang in der Sichtweise Bergs somit die Rekonstruktion der durch seine Vertreibung zerstörten „Erlebnisgemeinschaft“, niemand habe so „kommunikativ geschwiegen“ wie Hans Rothfels. Die durch seine „schäbige und skandalöse Vertreibung“ offenen Fragen habe er weder öffentlich noch privat formuliert, seine „Wortmeldungen zum Nationalsozialismus waren Formen der Enthistorisierung“.

Der zweite Diskussionsteil wurde durch mehrere Beiträge zur Rezeption der von Rothfels eingeführten Widerstandskonzeption eingeleitet. Die vermutete Kritik von „linker Seite“ gestaltete sich nach Ansicht verschiedener Teilnehmer erstaunlich „marginal“. Anhand der Überlegung Michael Wildts, ob in der in den 80er Jahren brieflich geführten Kontroverse zwischen Martin Broszat und Saul Friedländer zur Trennung von Erinnerung und Analyse des Nationalsozialismus die bereits durch Rothfels implementierte Unterscheidung ihre Fortsetzung gefunden habe, entzündete sich eine kürzere Debatte. Der Zustimmung Bergs fügte Wildt selbst eine etwas versöhnlichere Interpretation hinzu, nach welcher eine derart „dialogisierende Erinnerung“ zumindest eine Möglichkeit der Annäherung darstellen könnte. Mit Verweis auf die Pionierstudie Max Weinreichs aus dem Jahr 1946 und auf Michael Burleighs 1988 erschienenes Buch „Germany turns eastwards“ wurde die für lange Zeit nicht erfolgte Übersetzung relevanter Beiträge und der Umgang mit ausländischen Darstellungen zum Nationalsozialismus diskutiert. Breiten Raum nahm im folgenden die Diskussion der „jüdischen Identität“ Rothfels’ und die durch ihn geprägte zeithistorische Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit ein. Die in diesem Zusammenhang durch Martin Broszat eingeforderte strikte Trennung von Erinnerung und Erforschung kritisierte Nicolas Berg deutlich, es handele sich hierbei um den „Ausschluss des »Jüdischen« aus dem wissenschaftlichen Diskurs durch die Diffamierung als »bloße Erinnerung«“. Karl Heinz Roth verwies auf das starke Engagement Rothfels’ für seine ebenfalls als jüdisch stigmatisierten Kinder und auf das durch Rothfels mit hohem Engagement begleitete Restitutionsverfahren. Dieses „paradoxe Bild“ fasste Berg mit der Einschätzung zusammen, dass Hans Rothfels unfreiwillig eine jüdische Geschichtserfahrung gemacht habe, ohne dass er dafür wissenschaftlich oder privat ein Narrativ gefunden habe. Dieser Widerspruch sei letztlich nicht auflösbar. Insgesamt verlief die zweite Diskussion deutlich lebhafter als die des ersten Teils. John Harvey konnte seinen Beitrag nicht persönlich vortragen, bedauerlicherweise blieb die Emigrationsphase daher im wesentlichen undiskutiert.

Die Ergebnisse der Veranstaltung in wenigen Sätzen zusammenzufassen, hieße den eigentlichen Sinn und Zweck eines „Workshops“ zu konterkarieren. Dass die Widersprüche einer Biografie nicht in einer Art Gesamtbilanz eingeebnet werden müssen, sondern als Ansatzpunkte der Annäherung dienen können, erscheint als Quintessenz dieser insgesamt gelungenen Veranstaltung. Neben der bereits vieldiskutierten Frage nach der Einstellung Rothfels’ zum Nationalsozialismus kann zukünftig vor allem für die Zeit der Emigration mit interessanten Beiträgen gerechnet werden. Die Kontroverse zur Rolle Rothfels’ als Initiator und wesentlicher Ideengeber der westdeutschen Zeitgeschichtsschreibung steht ebenfalls erst am Beginn. Auf eine sachliche und erkenntnisorientierte Fortsetzung der Debatte kann daher nur gehofft werden.


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