The transmission of health practices (1500-2000)

The transmission of health practices (1500-2000)

Organisatoren
Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung
Ort
Stuttgart
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.06.2009 - 27.06.2009
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Von
Bettina Blessing, Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung

Der alle zwei Jahre stattfindende „Anglo-Dutch-German Workshop“, der in diesem Jahr unter der Leitung von Robert Jütte und Martin Dinges tagte, beschäftigte sich mit den Vermittlungsstrategien medizinischen Wissens vom Beginn der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart.

ANGELA DAVIS (Coventry) eröffnete den Workshop mit einem Vortrag, der sich mit der Situation gebärender Frauen nach 1945 in Großbritannien beschäftigte. Dargestellt wurde, auf welchem Weg das Wissen um Schwangerschaft, Geburt und Säuglingspflege von Frauen erworben wurde. Waren es vor 1945 vor allem die Familien, insbesondere die Mütter, die den Gebärenden beratend zur Seite standen, boten nach dem Zweiten Weltkrieg Ärzte sowie Gesundheitsbehörden und Presse immer umfangreichere Beratungs- und Betreuungsprogramme an. Entgegen der vorherrschenden Annahme, dass Mütter sowie Freundinnen und Verwandte eine immer unbedeutendere Rolle im Wissens- und Vermittlungsprozess um Geburt und Säuglingspflege einnahmen, zeigte Davis, dass die Wissensvermittlung zu einem großen Teil in Laienkreisen verblieb und das soziale Umfeld weiterhin als wichtiger Ratgeber fungierte.

WILLEMIJN RUBERG (Utrecht) ging der Frage nach, wer im frühen 19. Jahrhundert in Holland über das notwendige Wissen verfügte, um das Vorliegen einer Vergewaltigung und die damit verbundenen gesundheitlichen Folgen beurteilen zu können. Ihrer Darlegung zufolge waren es vor allem die Mütter, die die Veränderungen am Körper ihrer Töchter feststellten und unter Umständen auch die ersten Anzeichen einer Geschlechtskrankheit wahrnahmen. Häufig behandelten die Mütter ihre Töchter aber auch selbst. Explizit wurde darauf verwiesen, dass die Medizingeschichte die Rolle der Mütter, deren Wissen zum Teil auf Empirie beruhte, zum Beispiel bei der Behandlung von Geschlechtskrankheiten, bisher außer Acht gelassen hat.

Ausgangspunkt des Beitrags von SUSANNE HOFFMANN (Stuttgart) war die Beobachtung, dass um 1900 die traditionelle Zahnpflege durch einen neuen Ansatz, die präventionsorientierte Zahnhygiene, abgelöst wurde. Die Referentin ging der Frage der Umsetzung dieses neuen Verhaltensstils in der Bevölkerung nach. Dieser Transformierungsprozess dauerte in der sozialen Unterschicht und in ländlichen Gegenden bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Dazu wertete Hoffmann 155 Autobiographien aus. Als Ergebnis zeigte sich, dass Kinder die treibenden Kräfte des Wandels waren. Sie trugen die neue Hygienepraktik in die Familien. Vermutlich hatten sie dieses Wissen in der Schule erworben.

EBERHARD WOLFF (Zürich/Stuttgart) untersuchte die Vermittlung medizinischen Wissens am Beispiel der naturheilkundlichen Sanatoriumskur. Anhand des Patientendossiers einer Anhängerin der so genannten „Ordnungstherapie“ des Schweizer Arztes Max Bircher-Benner zeigte er, wie Wissensformen und Praktiken verbreitet wurden. Hierzu zählten neben Druckmedien vor allem auch Institutionen wie das Sanatorium selbst, Personennetzwerke, letztlich aber auch Symbole und Praktiken. Das Beispiel konnte illustrieren, wie sehr der Prozess der Weitergabe medizinischen Wissens in einem Spannungsverhältnis von Aktivität und Passivität der Patientin, von Unterwerfung unter das angebotene Wissen, aber auch von Adaption und Weiterentwicklung des Wissens und der entsprechenden Praktiken stand, ganz zu schweigen von der Möglichkeit der Ablehnung.

GEMMA BLOK (Amsterdam) behandelte Suchtbehandlungen. Sie stellte zwei niederländische Organisationen vor, deren Zielsetzungen sich jedoch unterschieden. Der internationale Guttemplerorden – in gewisser Hinsicht ein Vorläufer der Anonymen Alkoholiker − war 1851 in Amerika gegründet worden und fand rasche Verbreitung in Europa. Um ein „Guttempler“ zu werden, musste der Alkoholiker ein Abstinenzgelöbnis unterschreiben. Die Therapie zielte darauf ab, ihn und seine Familie von einem Templermitglied unterstützen zu lassen. Durch ihre Erfahrungen konnten die Mitglieder ihr Wissen über den Entzug weiteren Mitgliedern vermitteln und ihnen so praktisch wie auch emotional beratend zur Seite stehen. Eine andere Strategie verfolgte die „Medizinische Hilfe für Benutzer harter Drogen“. Diese Institution war 1976, als Holland von einer „Heroin-Epidemie“ erfasst wurde, ins Leben gerufen worden. Ihre Intervention zielte auf die Reduzierung des Drogenkonsums.

Im Anschluss referierten STEPHEN SNELDERS und FRANS J. MEIJMAN (Amsterdam) über die medizinische Wissensvermittlung unter Laien in Holland zwischen 1900 und 2000. Aufgezeigt wurde, dass Laien keine passiven Empfänger medizinischen Wissens waren, sondern selbst entschieden, ob sie medizinische Konzepte annahmen oder ablehnten. Viele von ihnen emanzipierten sich laut Snelders und Meijman selbst.

SÜNJE PRÜHLEN (Hamburg) stellte am Beispiel des Arztes Bartholomäus Metlinger, der 1473 in Augsburg das „Regiment der jungen Kinder“ veröffentlicht hatte, dar, wie im 15. Jahrhundert medizinisches Wissen durch Medien verbreitet und Gesundheitskonzepte konstruiert wurden. Das Werk Metlingers gilt als das erste deutschsprachige Werk zur Pädiatrie und unterrichtete Eltern, wie sie ihre Säuglinge und Kleinkinder zu versorgen hatten. Zum Erfolg des Buchs trugen darüber hinaus seine Sprache sowie das Netzwerk der Augsburger Drucker bei. Metlinger griff nicht nur auf antike und mittelalterliche Autoren zurück, sondern ließ auch seine eigenen medizinischen Erfahrungen mit einfließen. So war er unter anderem zu der Erkenntnis gelangt, dass der Milchfluss der Ammen durch Brühe, Safran, Weißwein und Bier angeregt würde.

Das Thema von CARMEN M. MANGION (Manchester) war der Wissenserwerb katholischer Ordensschwestern in England im 19. Jahrhundert. Nur wenige Ordensangehörige hatten eine medizinische Ausbildung in einer Krankenpflegeschule erhalten. Die geltenden Kirchengesetze erlaubten den Schwestern keine formelle Ausbildung. Folge war, dass die Schwestern formlose „Wissensnetzwerke“ gründeten, das heißt das Wissen wurde entweder von Schwester zu Schwester oder vom Arzt zur Schwester vermittelt. Zugleich wurden lokale sowie auch internationale Wissensnetzwerke gegründet. Eine ganz entscheidende Rolle spielte die Pflege der Seelen, die unabhängig vom Arzt betrieben wurde.

Im Anschluss präsentierte KAREN NOLTE (Würzburg) die Gemeindearbeit der Diakonissen. Der deutsche Pastor Theodor Fliedner (1800-1864), der das erste Diakonissenkrankenhaus in der Nähe von Düsseldorf errichtete, sah – ganz in der Tradition des Protestantismus stehend − einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Krankheit, Armut und Unglaube und versuchte, mit einer gezielten Krankenpflege Zugang zu den Seelen der Armen zu finden. Die Auswertung der Briefe, die die Diakonissen an Fliedner und seine Ehefrau schrieben, unterrichten über die alltägliche Arbeit der Diakonissen in den Armutsvierteln. Aufgezeigt wurde, welcher Vermittlungsmechanismen sich die Diakonissen bedienten, um medizinisches Wissen zu transferieren und die materielle Not zu lindern. Die herangezogenen Quellen belegen ebenfalls, welch hoher Stellenwert die Pflege der Seelen einnahm.

ANDREAS WEIGL (Wien) beschrieb das Aufkommen und den „Fall“ der Fürsorgerinnen in Österreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Aufgrund der hohen Sterblichkeitsrate von Kleinkindern hatte die Regierung Fürsorgerinnen eingestellt. Grundlegendes Ziel war es, den Gesundheitszustand der Kinder und Jugendlichen zu verbessern. Im Nationalsozialismus trat an die Stelle der Fürsorgerin die „Volkspflegerin“, die zu einem reinen Kontroll- und Vollzugsorgan wurde und zugleich in gefährlicher Nähe zur NS-Vernichtungsmedizin stehen konnte. Nach dem Zweiten Weltkrieg führte neben dem durch die NS-Zeit bedingten Imageverlust unter anderem der Rückgang der Säuglingssterblichkeit dazu, dass die Zahl der Fürsorgerinnen rapide abnahm und sie in den 1970er-Jahren von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern abgelöst wurden.

Am Beispiel der niederländischen Tuberkulosebewegung demonstrierte ALICE JUCH (Velp/Niederlande), wie schwierig es in den unteren Sozialschichten war, dass medizinisches Wissen und damit verbundene Präventionsmaßnahmen akzeptiert wurden. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts wirkte in den Niederlanden eine „Tuberkulosebewegung“, die sich auf die Behandlung mittelloser Tuberkulosepatienten spezialisiert hatte. Der Bewegung war aber kein großer Erfolg beschieden. Obwohl Robert Koch im Jahre 1882 den Tuberkelbazillus entdeckte, akzeptierte nur ein Teil der Mediziner, dass es sich bei diesem Fund um den Krankheitserreger handelte. Eine Reihe von Ärzten hielt die Tuberkulose bis in die 1930er-Jahre noch für eine Erbkrankheit. Zudem waren die armen Patienten vielfach nicht an Präventionen interessiert und nicht bereit, entsprechende Hygienevorschriften einzuhalten.

JOHN STEWART (Glasgow) stellte die „Britisch Child Guidance“ vor und zeigte das Zusammentreffen von professionellem Wissen und Laienwissen auf. Bei dieser Organisation handelte sich um eine medizinisch-psychiatrische Initiative. Der Grundgedanke dieser Organisation war, dass jedes Kind – so ‚normal‘ es auch nach außen erscheinen mochte − im Laufe seines Lebens aus dem Gleichgewicht geraten konnte. Wurde das Problem nicht erkannt, konnte es im späteren Leben zu weiteren Störungen kommen. Als problematisch erwies es sich jedoch, dass die jungen Patienten mit Vertretern dreier unterschiedlicher Berufsgruppen in Kontakt kamen: mit Psychiatern, Psychologen und (psychiatrischen) Sozialarbeitern.

KAREN BUCKLE (London) berichtete, wie sich Optiker um die Mitte des 18. Jahrhunderts in England bemühten, ihren Kunden Informationen und Kenntnisse über die Sehschärfe zu vermitteln. Sie beschäftigte sich sowohl mit den Mitteln, die den Optikern zur Verfügung standen, um eine verminderte Sehkraft festzustellen, als auch mit den widersprüchlichen optischen Theorien. Buckle interpretierte die Entwicklung vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen Revolution des 18. Jahrhunderts.

VANESSA HEGGIE (Cambridge) zeigte, dass medizinisches Fachwissen trotz der medialen Verbreitung tabuisiert und von Mythen überlagert werden konnte. Am Beispiel des Sports in England erläuterte sie, dass der Einsatz professioneller medizinischer Beratung von der englischen Öffentlichkeit nicht wahrgenommen wurde und bis heute im Allgemeinen der Eindruck vorherrscht, Sportler wären ohne medizinische Hilfen ausgekommen. Mythologien über den Sport spielen, wie Heggie ausführte, für die Bildung der englischen Volksidentität eine bedeutende Rolle.

ANDREAS GOLOB (Graz) behandelte die Medien der Gesundheitserziehung zur Zeit der Spätaufklärung. Aus dem von ihm herangezogen Repertoire stach Johann Jakob Gabriel, ein katholischer Seelsorger und Katechet, mit seiner Sammlung von Erzählungen im sokratischen Stil hervor, die ein sehr frühes Beispiel für eine exklusiv der Gesundheit gewidmete Auswahl repräsentiert. Die Kontextualisierung erfolgte vor allem über die Skizzierung priesterlicher Aufgaben im Gesundheitswesen der Habsburgermonarchie um 1800. Abgesehen von der Spendung der Sakramente, insbesondere der Krankensalbung, postulierten aufgeklärte Priester auch zusätzliche, vorwiegend präventive Maßnahmen zur Erhaltung der Gesundheit sowie die Konsultation des zugelassenen Heilpersonals.

Abschließend legte HARRY OOSTERHUIS (Maastricht) dar, wie in der katholischen Gesellschaft Hollands der 1950er- und 1960er-Jahre Homosexualität eine veränderte Beurteilung erfuhr. Gezeigt wurde, wie die Diskurse der Mediziner die Sichtweise der katholischen Geistlichkeit beeinflussten. Ein von Priestern, Ärzten, Psychiatern, Psychologen sowie von katholischen Homosexuellen geführter Dialog führte dazu, dass die bis dahin als sündig und krankhaft eingestufte Homosexualität unter sozialen und psychologischen Aspekten neu bewertet wurde. Die Haltung der Priester war allerdings ambivalent; auf der einen Seite war ihr Verhalten moralisierend, auf der anderen Seite berieten sie die Homosexuellen wie Sozialarbeiter oder Psychotherapeuten.

Im Rahmen der Abschlussdiskussion wurde betont, dass die Thematik der Vermittlung und des Umsetzens medizinischen Wissens für künftige Fragestellungen der Medizingeschichte ein enormes Potential enthält. Zudem wurde der Begriff „Transmission“ und die damit verbundene Problematik erörtert. Einige Aspekte, die im Rahmen des Workshops nicht behandelt werden konnten, wurden als Desiderate benannt.

Konferenzübersicht:

Robert Jütte (Stuttgart): Begrüßung

1st session: Family and Kin
Chair and comments: Martin Dinges

Angela Davis (Coventry): ‘When I was young you just went and asked your mother’. The changing role of friends and kin in the transmission of knowledge about maternity in post-1945 Britain

Willemijn Ruberg (Utrecht): ‘Mother Knows Best’. The transmission of knowledge of the female body and venereal diseases in 19th century Dutch rape cases

Susanne Hoffmann (Stuttgart): Dental health care in the family: The revolution of a health practice in 20th century Germany (c. 1900-1950)

2nd session: Patients
Chair and comments: Anne Hardy

Eberhard Wolff (Zürich/Stuttgart): The Transmission of Health Practices in Naturopathic Patient Networks

Gemma Blok (Amsterdam): The role of addicts in the creation of Dutch addiction treatment

Stephen Snelders / Frans J. Meijman (Amsterdam): Early days of patient-empowerment - conspiracy of silence: Dutch lay coping with the transmission of health knowledge, 1900-2000

3rd session: Nurses and wetnurses
Chair and comment: Robert Jütte

Sünje Prühlen (Hamburg): Beer increases the lactation and thins down the milk. Bartholmäus Metlinger and his German Advices to Wet Nurses

Carmen M. Mangion (Manchester): ‘Give them practical lessons’: Catholic women’s religious congregations and networks of nursing knowledge

Karen Nolte (Würzburg): „Local Missionaries“: Community Deaconesses in Early 19th Century Health Care

4th session: non medical professionals, part one (social workers and educators)
Chair and comments: Hilary Marland

Andreas Weigl (Wien): The rise and fall of the „Fürsorgerin“ (female welfare officer) in Austrian public health policies. Theory and practice of an interlinked agent within a changing social and epidemiological framework

Alice Juch (Velp/NL): The impact of the transmission of health knowledge and skills. Tuberculosis in the Netherlands 1900-1930: a disappointing outcome

John Stewart (Glasgow): The medical mission of British child guidance, 1918-1950: theory and practice

5th session: Non medical professionals, part two (instrument-makers, sports trainers)
Chair and comments: Harry Oosterhuis

Karen Buckle (London): Artisan instructors in the optical instrument trade: Benjamin Martin (c.1705-1782) and the quest for public visual knowledge

Vanessa Heggie (Cambridge): Making sport scientific: training manuals and health advice c.1880-1953

6th session: Clergy
Chair and comments: Frank Huisman

Andreas Golob (Graz): Socratic Stories as Vehicles of Health Education.The Case of Johann Jakob Gabriel’s “Von den Mitteln, die Gesundheit zu erhalten”

Harry Oosterhuis (Maastricht): ‘Not very happy and mixed with a lot of nervousness’. The priest as therapist in Catholic mental health care

Summing up the workshop and concluding remarks