Neuere Forschungen zu hagiographischen Fragen

Neuere Forschungen zu hagiographischen Fragen

Organisatoren
Arbeitskreis für hagiographische Fragen
Ort
Stuttgart
Land
Deutschland
Vom - Bis
07.05.2009 - 09.05.2009
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Von
Miriam Czock, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Im Mai veranstaltete der Arbeitskreis für hagiographische Fragen seine sechzehnte Arbeitstagung. Die im jährlichen Rhythmus stattfindenden Treffen, die in jedem dritten Jahr von einer Studientagung zu einer spezifischen Forschungsfrage abgelöst werden, haben keine thematische Bindung, vielmehr sollen sie die Möglichkeit bieten, verschiedene Facetten hagiographischer Forschung auszuloten sowie den interdisziplinären wissenschaftlichen Austausch zu fördern. Dementsprechend vielfältig waren die Themen der Vorträge, die sich mit verschiedenen hagiographischen Phänomenen von der Spätantike bis zum Spätmittelalter beschäftigten.

Nach der Begrüßung durch KLAUS HERBERS (Erlangen) und DIETER R. BAUER (Stuttgart) sprach MARIO ZIEGLER (Erlangen) über die Familienbeziehungen in spätantiken lateinischen Heiligenviten vornehmlich des 4. Jahrhunderts. Zu Beginn seiner Ausführungen verwies er auf die Unterschiede der paganen Biographie zur Hagiographie. Pagane Werke hätten die Kindheit und Jugend der Hauptfiguren oft detailliert geschildert, jedoch keinerlei Aussagen zum Verhältnis der Kinder zu den Eltern gemacht, wohingegen in hagiographischen Schriften gerade dieses Verhältnis häufig thematisiert werde. Dabei hätten die Texte die Beziehung der Hauptpersonen zu ihren Eltern häufig als konfliktreich geschildert. Die Auseinandersetzungen hätten sich in aller Regel an einer unterschiedlichen Bewertung der Familie als Institution entzündet. Während Heilige zu einem geistigen Leben tendierten und sich daher aus den Bindungen der „diesseitigen Welt“ zu lösen versuchten, strebten die Eltern vornehmlich den Erhalt der Familie an. Die Eltern drängten zur Weiterführung des Familienkultes und der Verwaltung des Familienbesitzes, selbst wenn es sich um Christen handelte. In den Viten spiegele sich so die Spannung zwischen dem christlichen Ideal der Ehelosigkeit und dem Wert der Familie im Sozialgefüge der spätantiken Gesellschaft wider.

CLAUDIA ALRAUM (Erlangen) ging der Verbreitung des Andreaskultes anhand liturgischer Quellen und der Verbreitung von Andreaspatrozinien in Rom zwischen dem 5. und 8. Jahrhundert nach. Sie führte aus, dass sich erste Spuren des Andreaskultes im 5. Jahrhundert nachweisen lassen. Entscheidende Impulse seien von Papst Symmachus (498-514) ausgegangen; dieser weihte während des so genannten Laurentianischen Schismas Andreas eine Kultstätte. Schon im Laufe des 6. Jahrhunderts habe sich die Andreasverehrung auch in der Liturgie niedergeschlagen. Die Förderung des Kultes verdeutliche sich gegen Ende des 6. Jahrhunderts in der Gründung des Caeliusklosters S. Andreae in clivus scauri durch Gregor den Großen (590-604), die Einrichtung einer Mönchsgemeinschaft in der esquilinischen Andreasbasilika, des Klosters SS. Andreae et Luciae und im 7. Jahrhundert durch die Stiftung eines Klosters unter dem Patronat des Andreas und des Bartholomäus durch Honorius I. (625-638). Die Bedeutung der Andreasverehrung sei zudem durch die Sakramentare des gelasianischen und gregorianischen Typs zu belegen. Die Referentin machte deutlich, dass die Gründe für die Förderung zwischen persönlicher Verehrung und päpstlicher Politik oszillierten. So hätten gerade Gregor der Große, der gotische Heeresmeister und Stifter der ersten Andreaskirche Roms, Flavius Valila, sowie Papst Honorius offensichtlich aus persönlicher Andreasfrömmigkeit gehandelt, wohingegen die Maßnahmen des Papstes Symmachus vorrangig als politisch motiviert zu bewerten seien.

Anhand hagiographischer Zeugnisse untersuchte PETER GEMEINHARDT (Göttingen) die Bedeutung der antiken paganen Bildung für das Christentum. Mit dem Blick auf den Zugang der Christen zum heidnischen Bildungsideal zeichnete der Referent den Wandel des Christentums in der Spätantike nach. Er zeigte auf, dass Bildung als ein Merkmal sozialer Distinktion genutzt wurde, dabei die Bildung selber jedoch recht unterschiedlichen Bewertungen unterlag. In der Anfangszeit des Christentums sei häufiger festzustellen, dass Bildung zu Gunsten der göttlichen Inspiration verworfen werde. Daneben stehe die Auffassung, dass Bildung ganz selbstverständlich zum christlichen Leben gehöre. Vornehmlich im Gallien des 5. Jahrhunderts sei die Bildung der Bischöfe dann als Ausweis der soziokulturellen Integration dieser Gruppen in das römische Reich zu werten. Bei Caesarius von Arles würden diese Vorstellungen von einem anderen Bild abgelöst: Zwar sollten die Mönche und Nonnen des Lesens mächtig sein, um die Bibel lesen zu können, jedoch sei eine ausgefeilte Rhetorik der Vermittlung der Glaubensinhalte an die Gemeinde unangemessen. Der Referent konnte so zeigen, dass die Bewertung von Bildung nicht durchgängig gleich blieb, sondern von der Konstruktion der eigenen Identität abhing und somit die Vorstellung von Bildung einen Indikator einer sich verändernden Welt darstellen konnte.

CLEMENS M. M. BAYER (Bonn) beschäftigte sich mit dem hagiographischen Kontext des Annoschreins. Nach einigen allgemeinen Bemerkungen zum Leben Annos wandte sich der Referent der Frage zu, ob es eine Vorlage für die Bildtafeln auf den Dachschrägen des Annoschreins gegeben habe. Er führte aus, dass sich diese zwar nicht erhalten haben, doch auf einem Gemälde Johann Heinrich Fischers aus dem Jahre 1764 dargestellt seien. Dies lasse eine Rekonstruktion der Bildserie zu, die es gleichzeitig ermögliche Aussagen über die Vorlagen der Abbildungen zu machen. Indem er die Bilder der hagiographischen Textüberlieferung gegenüberstellte, konnte der Referent aufzeigen, dass als Vorlage die Vita Annonis maior wie auch die Vita Annonis minor gedient haben könnten. Allerdings sei eine Beeinflussung der Bildinhalte durch die Vita maior für wahrscheinlicher anzusehen, da sich die inhaltliche Ordnung der Bildserie ikonographisch an den in ihr enthaltenen Überschriften orientiere. Ein weiteres Indiz dafür seien Wörter, die aus den Überschriften in den ikonographischen Zusammenhang übernommen worden seien. Damit unterstrich der Vortrag, dass die Überschriften – über die Strukturierung der Vita hinaus – eine besondere Rolle bei der Ausgestaltung des Kultes hatten.

Auf Grund einer Erkrankung musste der Vortrag von FRANZ MACHILEK (Bamberg) leider entfallen. Allerdings wurde er den Tagungsteilnehmern in schriftlicher Form zugänglich gemacht, so dass er hier referiert werden kann. Ausgehend von der Schenkung von Sigismundreliquien durch Barbarossa an Bischof Wernher von Płock im Jahre 1163 ging der Vortrag der Verflechtung von Politik und Heiligenkult in gesamteuropäischer Dimension nach. Die Sigismundverehrung sei zwar bereits im Früh- und Hochmittelalter regional weit gestreut gewesen, jedoch könne eine deutliche Steigerung in der Luxemburgerzeit festgestellt werden. Eine Einbindung in die Staatsfrömmigkeit sei vor allem durch Karl IV. und seinen Sohn Sigismund vorangetrieben worden, welche die Verbreitung des Kultes auf Grund ihrer dynastischen und persönlichen Verbindungen besonders in Böhmen, Polen und Ungarn gefördert haben. So ist Sigismund beispielsweise durch die Initiative Karls IV. – der in ihm einen Vorgänger auf dem burgundischen Thron erblickte – zum böhmischen Landespatron geworden. Die besondere Anziehungskraft Sigismunds lasse sich auch dadurch belegen, dass neben den Luxemburgern auch die Habsburger die Sigismundverehrung in religiös-politischer Absicht genutzt hätten.

GIA TOUSSAINT (Hamburg) warf in ihrem Vortrag die Frage auf, inwiefern Kunigunde von Böhmen als Heilige zu betrachten sei, da sich kein zeitnaher Kult nachweisen läßt und sie erst im 17. Jahrhundert in einigen Schriften als Heilige ausgewiesen wird. Die Referentin entwickelte ihre Gedanken primär anhand des Dedikationbildes des Passionals der Kunigunde. Im Zentrum des Bildes ist die Äbtissin Kunigunde auf einer Thronbank sitzend dargestellt, während sie von zwei Engeln gekrönt wird. Diese Szene hat lange Zeit dazu Anlaß gegeben, das Passional auf die Zeit nach ihrem Tod in das Jahr 1321 zu datieren. Dagegen führte die Referentin jedoch ins Feld, dass im Passional selbst eine Entstehungszeit mit den Jahren 1312 und 1314 angegeben wird. Die von der Forschung vorgenommene fehlerhafte Datierung hängt wohl nicht zuletzt mit der Deutung der Krönungsszene zusammen. Ausgehend von der Überlegung, dass die Krone ein polyvalentes Zeichen sei, das Jungfräulichkeit, die Königskrone oder die Krone des Lebens und damit Heiligkeit symbolisieren könne, ging die Referentin zwei Wege, um die Bedeutung der Krone im spezifischen Bildkontext aufzudecken: Zum einen zog sie Vergleichsmaterial heran, zum Beispiel das Bildnis der heiligen Elisabeth von Thüringen auf dem Altenberger Altarretabel, zum anderen setzte sie das Dedikationsbild mit Textpassagen aus dem Passional in Zusammenhang. Dadurch konnte sie erhellen, dass Kunigundes göttliche Auserwähltheit schon zu Lebzeiten feststand und die Krone damit eindeutig als Zeichen der Heiligkeit Kunigundes zu verstehen ist.

Ihr Dissertationsprojekt stellt MARIA PRETZSCHNER (Dresden) vor. Dieses soll sich mit den unterschiedlichen Modellen weiblicher Heiligkeit, die von den Mendikanten entwickelt wurden, beschäftigen. Um den Formen weiblicher Heiligkeit auf die Spur zu kommen, stellte die Referentin drei Heilige vor: Humiliana Cerchi (1219-1246) aus Florenz, die ebenso aus städtischem Umfeld stammende Bologneserin Benvenuta Bojani (1255-1292) und Margareta (1242-1270), die Tochter des ungarischen Königs Bela IV. Die Referentin konstatierte die Ähnlichkeit der bei diesen Heiligen auftretenden Frömmigkeitsformen, die sich vor allem durch Askese und karitative Nächstenliebe auszeichneten. Gleichzeitig konnte sie jedoch zeigen, dass diese Heiligen völlig unterschiedlichen Milieus entstammten, in denen sie ihre Heiligkeit verankern konnten. Mit dem Verweis auf die verschiedenen Unterstützerkreise warf die Referentin gleichzeitig die Frage nach deren Beteiligung bei der Heiligsprechung der Frauen auf. Sie machte allerdings deutlich, dass nicht nur das Agieren verschiedener sozialer Gruppen in den Heiligsprechungsverfahren zu betrachten sei, sondern auch die Rezeption und Bedeutung der heiligen Frauen im Kanonisationsverfahren der Katharina von Siena (1347-1380) in die weiteren Überlegungen zu den „kleinen Heiligen“ einfließen müsse.

STEPHAN FLEMMIGs (Leipzig) Vortrag basierte auf einigen Aspekten seiner Dissertation, die sich komparatistisch mit Birgitta von Schweden und Hedwig von Polen befasst. Der Referent betonte, dass es nicht um einen Vergleich der Frömmigkeitsformen der beiden Heiligen gehen könne, da sich diese fundamental unterschieden, vielmehr solle ausgehend vom Kulturtransferkonzept die Verbreitung der Kulte im europäischen Raum in den Blick genommen werden. Er konnte plausibel machen, dass entgegen der Annahme der älteren Forschung – die Schweden und Polen als periphere Regionen betrachtete – Nord- und Ostmitteleuropa keineswegs als Randzonen gelten könnten. Dort seien im 14. und 15. Jahrhundert im religiösen und hagiographischen Bereich Gesetzmäßigkeiten und Strukturen wirksam gewesen, die in ganz Europa Relevanz besaßen. Zudem hätten Kulte weit über den nord- bzw. ostmitteleuropäischen Bereich hinaus ausstrahlen können. Damit seien hagiographische wie religiöse Phänomene ein Indikator für die Einbindung Nord- und Ostmitteleuropas in die lateinische Christenheit. Darüber hinaus skizzierte der Referent die Ausbreitung der Birgitta-Verehrung in Ostmitteleuropa, um damit beispielhaft zu verdeutlichen, wie hagiographisch-religiöse Impulse von den genannten Räumen selbst aufgenommen wurden.

Wie schon FRANZ MACHILEK (Bamberg) ging PETR KUBIN (Prag) im letzten Vortrag der Tagung der Frage der politischen Instrumentalisierung eines Heiligenkultes nach. Er beleuchtete die Einrichtung eines „Reichskultes“ um den Prager Bischof Adalbert durch Otto III. Der Versuch einer Etablierung eines reichsweiten Kultes sei nicht nur aus der auf seine Veranlassung hin entstandenen Vita Adalberts zu erschließen, sondern auch durch den Bau von Kirchen, die ein Adalbertspatrozinium erhielten. So ließ Otto an zentralen Orten seines Imperiums Kirchen mit einem Adalbertspatrozinium ausstatten, zu nennen seien Rom, Aachen, Affile bei Subiaco, Pereum bei Ravenna und die Reichenau. Nicht nur Otto III., sondern auch der ihm nahestehende Lütticher Bischof Notker habe sich um die Verbreitung des Kultes in dieser Weise bemüht, da er die Adalbertskirche in Lüttich errichten ließ. Der Referent kam zu dem Schluß, dass der Adalbertskult ein Teil des Programms der Renovatio imperii Romani gewesen sei. Der Tod Ottos III. habe zur Folge gehabt, dass der Anlauf zur Bildung eines wirkungsmächtigen „Reichskultes“ scheiterte.

Die Tagung endete mit einem Ausblick auf die vom 8. bis zum 11. April 2010 stattfindende Studientagung in Weingarten, die sich mit dem Thema des Märtyrertums beschäftigen soll.

Konferenzübersicht:

Mario Ziegler (Erlangen): Familienbeziehungen in spätantiken und lateinischen Heiligenviten

Claudia Alraum (Erlangen): Der Andreaskult im frühmittelalterlichen Rom zwischen päpstlicher Politik und persönlicher Verehrung

Peter Gemeinhardt (Göttingen): Bildung als Thema der spätantiken lateinischen Hagiographie

Clemens M. M. Bayer (Bonn): Zum hagiographischen Kontext des Anno-Schreins in Siegburg. Aus welchen Quellen speist sich die Bildserie zum Leben Annos auf den Dachschrägen des Schreins?

Franz Machilek (Bamberg): Die Verehrung des hl. Burgunderkönigs Sigismund, vor allem in Böhmen und Ungarn seit dem 14. Jahrhundert

Gia Toussaint (Hamburg): Kunigunde von Böhmen – eine Heilige? Inszenierung von Heiligkeit durch das Bild

Maria Pretzschner (Dresden): „Wessent volkumen als úwer himelscher vatter volkumen ist …“. Die Sancta moderna – Vom Umgang der Mendikanten mit weiblicher Heiligkeit

Stephan Flemmig (Leipzig): Birgitta Birgersdotter und Hedwig von Anjou als „periphere Heilige“? Schwedische und polnische Hagiographie im 14. Jahrhundert

Petr Kubin (Prag): Die Bemühungen Otto III. um die Einsetzung eines Reichskultes für den Prager Bischof Adalbert


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