Die Chronik des Gallus Anonymus im Kontext zeitgenössischer Narrativität

Die Chronik des Gallus Anonymus im Kontext zeitgenössischer Narrativität

Organisatoren
Exzellenzcluster „Religion und Politik in der Vormoderne und Moderne“, Universität Münster; Deutsches Historisches Institut Warschau
Ort
Münster
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.06.2009 - 26.06.2009
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Von
Grischa Vercamer, Deutsches Historisches Institut Warschau

Vom 25. bis 26. Juni 2009 fand ein vom Exzellenzcluster „Religion und Politik in der Vormoderne und Moderne“ der Universität Münster und dem Deutschen Historischen Institut Warschau ausgerichteter Workshop „Die Chronik des Gallus Anonymus im Kontext zeitgenössischer Narrativität“ statt. Geladen war eine ausgewogene Zahl vor allem polnischer und deutscher Historiker. In der Begrüßung und Einleitung betonte der Gastgeber und Sprecher des Excellenzclusters, Gerd Althoff, dass historiographische Texte nicht nur für die Nachwelt geschrieben wurden, sondern auch für die zeitgenössischen Höfe und geistlichen Zentren. Dementsprechend müsse man gerade an zunächst fiktiv wirkende Textstellen in den Chroniken nunmehr anders herangehen als dies die Geschichtswissenschaft bis in die letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts getan habe. Diese Stellen dienten im hohen Grade zur Unterhaltung eines anspruchvollen Publikums, daher wurden sie unter diesem Aspekt textlich und inhaltlich verformt und ausgeschmückt. Auf vielerlei Weise konnte diese Verformung vor sich gehen – sei es durch die stilistischen Mittel der Aufzählung, der Alliteration, der direkten Rede, der Gedichte in den Texten etc. oder sei es durch die narrativen Mittel der Übertreibung, der Ironie, der Mystifizierung etc. Gerade diese Stellen verdienten vermehrt Aufmerksamkeit – gestatteten sie doch Aufschluss über Vorstellungswelten und Gebräuche eines zeitgenössischen Publikums. In diesen vermeintlich fiktiven Stellen konnte der Autor unterhaltend und moralisierend auf sein Publikum einwirken. Da der Autor aber für diese narrativen-epischen Einschübe historisch verbürgte Personen als Protagonisten seiner Erzählungen benutzte, sei es die Aufgabe des Historikers drei Zeitschichten – die des Historikers, die des Erzählers, die des Erzählstoffes – voneinander zu trennen. Wurde Gallus doch allzu lange von der Forschung als Gewährsmann für das piastische Polen des 10./11. Jahrhunderts genutzt, sei man sich der Problematik nun bewusster. Sicherlich kann die neue Maxime nicht sein, dass sämtliche von Gallus und anderen Chronisten als vergangen geschilderten Zeitschichten von den Historikern hinfort als fiktiv, sprich frei erfunden, interpretiert werden. Dennoch müsse man wohl in Zukunft wesentlich vorsichtiger und argumentativ besser begründet an solche Stellen gehen und nach ihrem Stellenwert im Gesamtwerk der jeweiligen Chroniken fragen.

Vor diesem Hintergrund stellte JOHANNES FRIED (Frankfurt am Main) zunächst die nach wie vor ungeklärte Frage nach der Herkunft des Autors. Er vertrat mit gewichtigen Argumenten (aufgrund von Ausbildung, Rezeption anderer in Bamberg liegender Werke in der Chronik, eventuell Briefwechsel mit Hildebert von Lavardin etc.) die These, dass Gallus aus Bamberg stammte; vielleicht sogar Bischof Otto von Bamberg selbst war. In der Diskussion stieß diese These allerdings auf einigen Widerstand – vor allem vor dem Horizont, dass derzeit zwei weitere Herkunftsorte (der Mönch vom Lido in Venedig, St. Gilles in der Provence und anschließend längerer Aufenthalt in Ungarn) in der Diskussion sind.

Der folgende Vortrag von ANDRZEJ PLESZCZYŃSKI (Lublin) beschäftigte sich mit den deutsch-polnischen Beziehungen im 10. Jahrhundert in der Chronik des Gallus Anonymus. Er kam zu dem Schluss, dass das Volk der Deutschen für Gallus nicht existierte, sondern dieser immer sorgsam zwischen zumeist Sachsen und Bayern unterschieden habe. Demgegenüber erschien es Pleszczyński fast so, als würde Gallus das piastische Polen dem Reich des 10. Jahrhunderts gleichberechtigt gegenüberstellen.

Auch KNUT GÖRICH (München) betonte in seinem Vortrag über die piastisch-ottonischen Beziehungen im 10. Jahrhundert vor dem Hintergrund der sächsischen Quellen die Vielfältigkeit der Kontakte im grenznahen Bereich. Eine mittelalterliche Staatlichkeit gab es so gesehen nicht, die Herrschaft war personenbezogen und wurde mit dem Begriff der ‚Ehre‘ charakterisiert. Ein Herrschaftswechsel von Otto III. zu Heinrich II. brachte einen starken Wechsel von Eliten im Reich mit sich, der auf das Verhältnis zwischen polnischer und deutscher Aristokratie Wirkung zeigen musste. Heinrich II., als Herzog von Bayern, war Bolesław I. Chrobry zunächst formal gleichgestellt, aber mit dem Statuswechsel 1002/1014 stand er klar über dem polnischen Fürsten, was zu den bekannten Problemen führte.

ZBIGNIEW DALEWSKI (Warszawa) ging den Ritualen in der Chronik des Gallus nach und zeigte, dass die Anschaulichkeit von geschilderten Ritualen (adventus regis, deditio etc.) von Gallus dazu genutzt wurde, ein farbiges Bild der piastischen Vorzeit zu entwerfen. Darüber hinaus, so Dalewski, wurde aber auch ein aus der Sicht der Herrschaft korrektes (korrigiertes) Bild Bolesławs III. Schiefmund entworfen, da dessen Reputation in dem erst kurz zuvor beendeten Konflikt mit dem älteren Halbbruder Zbigniew stark gelitten hatte.

GRISCHA VERCAMER (Warszawa) analysierte in seinem Vortrag das Kapitel 1,13 der Chronik näher, in welchem die polnische Königin Emnilda mehrere vom König Bolesław I. Chrobry zum Tode Verurteilte zurückhielt und eigenmächtig ein Treffen zwischen König und Delinquent in der nicht-öffentlichen, intimen Atmospähre des königlichen Bades vermittelte, wo der König dem Adeligen vergab und ihn wieder in Amt und Würden einsetzte. Sowohl die übersteigerte Rolle der Königin als auch die nicht-öffentliche Situation im königlichen Bade lassen, so Vercamers Interpretation, auf ein besonderes Herrschaftsverständnis (zumindest in der Vorstellungswelt des Chronisten) schließen, das seinesgleichen im europäischen Kontext sucht.

TOMASZ JASZIŃSKI (Poznań) stellte aufgrund der poetischen und stilistischen Mittel, die Gallus in seiner Chronik anwendete – Jasziński bezog sich vor allem auf die bei Gallus so zahlreich und systematisch auftretenden cursus – überzeugend heraus, dass man Gallus als Dichter und vielleicht sogar Musiker betrachten müsse, der mit seiner Chronik eine Gesamtkomposition für den höfischen Vortrag mit musikalischer Untermalung anstrebte.

KLAUS BRAND (Münster) betrachtet die Chronik aus der Perspektive eines Literaturwissenschaftlers, der vorwiegend mit neuzeitlichen Texten arbeitet. Er hob hervor, dass an inhaltlich wichtigen Stellen in der Chronik auch eine Häufung von stilistisch-poetischen Mitteln (Gedichte, bestimmte Reimformen, Aufzählungen usw.) anzutreffen sei. Daher wäre es gewinnbringend, eine Matrix der stilistischen Mittel für die Chronik zu entwerfen, um so auf weitere stilistische Hervorhebungen von Stellen zu stoßen, die bislang von der Forschung aber nicht als inhaltlich wichtig wahrgenommen würden.

JACEK BANASZKIEWICZ (Warszawa) erweiterte in gewisser Weise die gestellten Fragen nach ausschmückender Narrativität auf den Konflikt zwischen Otto II. und Lothar von Frankreich. Er zeigte – anhand der Darstellung der Plünderung Aachens durch Lothar sowie dem Vergeltungsschlag Ottos II. gegen Paris – wie sehr Chronisten aus verschiedenen politischen Lagern (Chronik Richer von St. Reims vs. Gesta episcoporum Cameracenium) Gefühle (Tränen Ottos II. bei dem Überfall auf Aachen) und ausschmückende Taten (Verhaltens Lothars bei der Plünderung) für ihren Zweck hinzunahmen, wegließen oder anders interpretierten.

GERD ALTHOFF (Münster) meldete in seinem Vortrag gegenüber der Historizität des ersten Buches starke Bedenken an, bestritt auch die Nutzung einer passio, wie sie im Text von Gallus selbst angesprochen wird, da die passiones als eine stark formalisierte Literaturgruppe stark an dem Leiden des jeweiligen Märtyrers ausgerichtet seien und man dort Beschreibungen von säkularen Festen (wie beispielsweise des Hoffestes Boleslaw I. Chrobrys zu Ehren Otto III.) nicht finden würde. Es gehe Gallus, dessen Darstellung des 1. Buches aus einem narrativen Guß sei, vielmehr um die Darstellung der Goldenen Zeit und hierfür deformiere er den Text. Das erreiche er auch, und nach Althoff zum großen Teil über das Mittel der Ironie (Bolesławs Küchenschergen auf dem Feldzug gegen den Großfürsten der Kiewer Rus‘, Gewicht der Goldketten der Hofdamen an Bolesławs Hof etc.). Diese komplette Neudeutung des Textes, die gleichzeitig eine Neudeutung des frühpiastischen Polens wäre, bewirkte unter den Teilnehmern des Workshops eine lebhafte Diskussion.

WOJCIECH FAŁKOWSKI (Warszawa/Paris) ging in seinem Beitrag auf den Brief Bruns von Querfurt an König Heinrich II. ein. Die ranghöhere Position Heinrichs II. werde durch die moralische Position Bolesławs I. Chrobrys ausgeglichen. Heinrich II. ging die via regia, folgte der Tradition der karolingischen Königsherrschaft, während Bolesław die im Brief bezeugte via ad paganos verfolgte, also über die Aufnahme von Missionaren an seinem Hof neue Maßstäbe setzte. Da Brun das Bündnis Heinrichs II. mit den Liutizen deutlich kritisierte, interpretierte Fałkowski den Brief als politisches Testament Bruns, der folglich davon ausgehen musste, wie sein Vorbild Bischof Adalbert den Märtyrertod bei den Prußen zu erleiden.

Im nächsten Beitrag verglich KATHARINA VAERST (Münster) die Erzählstrukturen von Hrotsvit von Gandersheim und Adalbert von Weissenburg anhand des narratologischen Modells von Ansgar Nünning, welcher in textinterne und textexterne Kommunikationsebenen unterscheidet. Dabei stellte sich heraus, dass die Gesta Ottonis der Hrotsvit, obgleich als Heldengedicht Ottos I. verfasst, auf höherer Erzählebene doch immer wieder Kritik am Herrscher anbringe, bzw. dessen politischen Gegner verteidige, während Adalberts Continuatio der Chronik von Regino von Prüm voll und ganz auf der Seite des Herrschers stehe. Die Autoren mussten, da sie innerhalb von zehn Jahren nach den geschilderten Geschehnissen für andere Zeitgenossen schrieben, in ihrem Schrifttum sehr bedacht auf eventuell angebrachte Kritik sein, da diese sich negativ gegen sie auswirken konnte.

ANNA AURAST (Hamburg) untersuchte in ihrem Vortrag die Fremdbilder bei Gallus Anonymus. Es gab sowohl positiv besetzte Fremdbilder (die drei Fremden bei Piast, die ottonischen Fremden an Bolesławs I. Chrobry Hof usw.), die den Rezipienten – allen voran Bolesław III. – als Vorbilder für Gastfreundschaft dienen sollten. Aber es gab auch das negative Bild der Fremden (der feindlichen Böhmen und Pommeranen), die als Schuldige für die Krisen (in der Zeit Mieszkos II. und Zbigniews) des Landes zu gelten hätten.

DANIEL BAGI (Pécs) nahm in seinem Vortrag einen Vergleich zweier Herrscher (Koloman der Bücherfreund von Ungarn und Bolesław III. Schiefmund von Polen) aufgrund ihres Alleinherrschaftsanspruchs vor. Einerseits verschafften sie sich über die Chronistik (Hartwig-Legende und Gallus Anonymus) die nötige Legitimität (Nachfolge von Stefan dem Heiligen bzw. Bolesław I. Chrobry) und andererseits auch die nötige Idoneität (aufgrund ihrer eigenen Taten waren sie würdig in die Fußstapfen ihrer berühmten Vorfahren zu treten). Beide Herrscher mussten sich gegen eine innere Opposition unter der Führung ihrer Brüder (Álmos und Zbigniew) durchsetzten und strebten in Folge nach stärkerer Legitimation und Rechtfertigung ihrer Taten durch die in Auftrag gegebenen Texte.

Die Schlussdiskussion wurde durch kurze Statements von EDUARD MÜHLE (Warszawa) und STEFFEN PATZOLD (Tübingen) eingeleitet. Eduard Mühle betonte, aus den Referaten sei unter verschiedenen Blickwinkeln gut hervorgegangen, dass Gallus seinen Text in Hinsicht auf Legitimation von Herrschaft geschrieben habe. Dennoch sei diesbezüglich in Zukunft noch stärker nach den genauen Formulierungen im Text zu fragen, welche auf die Erwartungshaltungen am Hofe schließen ließen. Darüber hinausgehend sollte auch die Absicht des Autors nach allgemeiner Belehrung seiner Adressaten stärker in das Blickfeld geraten. Die verformenden Kräfte im Text könnten auch auf die dichterischen Ambitionen des Autoren zurückgeführt werden, wie es in dem Referat von Tomasz Jasiński gut hervorgehoben wurde.

Auch Steffen Patzold bezeichnete die Tagung als gelungen – vor allem, und damit nahm er ein Wort Gerd Althoffs aus der Einleitung der Tagung wieder auf, da sich polnische und deutsche Historiker ohne nationale Voreingenommenheiten begegneten und völlig frei miteinander diskutierten. Das spiegelte sich auch in der Wahl der Themen wider: Diskussionen über den cursus, Rituale und Narrativität, über Identität und Fremdbilder sind von Anfang an internationale Diskussionen und Fragestellungen gewesen und eignen sich wenig zum nationalen Schlagabtausch. Es handele sich letztlich bei der Chronik des Gallus Anonymus um die Taten der piastischen Dynastie und ihrer Nachbarn und nicht der Polen im Allgemeinen. Gerade vor diesem Hintergrund sei Patzold zufolge aber zu wenig über den höfischen Kontext der piastischen Herrscher des 12. Jahrhunderts gesprochen worden.

In der Schlussdiskussion wurde aber dennoch von verschiedenen Seiten hervorgehoben, dass die Landeschroniken des 12. Jahrhunderts eben doch wichtige frühe Quellen für die jeweiligen Nationalgeschichten darstellen. Dabei dürfe man selbstverständlich keinesfalls den Fehler machen, Geschichte so anachronistisch-national auszudeuten, wie es im 19. Jahrhundert geschehen ist.

Einzelne Beiträge sind für die Publikation in einem Themenheft der Frühmittelalterlichen Studien vorgesehen.

Konferenzübersicht:

Begrüßung der Teilnehmer und Einführung in die Thematik durch Jerzy Strzelczyk (Poznań) und Gerd Althoff (Münster)

Johannes Fried (Frankfurt am Main): War Gallus Anonymus ein Bamberger?

Andrzej Pleszczyński (Lublin): Die deutsch-polnischen Beziehungen im 10. Jahrhundert in der Betrachtung des Gallus Anonymus

Knut Görich (München): Die deutsch-polnischen Beziehungen im 10. Jahrhundert in der Betrachtung der sächsischen Quellen

Zbigniew Dalewski (Warszawa): Die Rituale in der Chronik des Gallus Anonymus

Grischa Vercamer (Warszawa): Beschreibt Gallus ein genuin piastisch-polnisches Ritual? Zu Kapitel I, 13

Tomasz Jasiński (Poznań): Die Poetik in der Chronik des Gallus Anonymus

Klaus Brand (Münster): Die poetische Funktion der Gallus-Chronik aus literaturwissenschaftlicher Perspektive

Jacek Banaszkiewicz (Warszawa): Erzählungen über Aachen und Paris in der Zeit Ottos II.

Gerd Althoff (Münster): Zur Beachtung von Spielregeln und zur Ironie im Gallus Anonymus

Wojciech Fałkowski (Warszawa/Paris): Brun von Querfurt und die Vita der fünf Brüder

Katharina Vaerst (Münster): Die Darstellung der Gegner Ottos des Großen in ‚ottonischer‘ Historiographie

Anna Aurast (Hamburg): Fremdbilder in der Chronik des Gallus Anonymus

Daniel Bagi (Pécs): Legitimität und Idoneität. Gallus Anonymus und die Hartwig-Legende über den Erwerb der Alleinherrschaft von Koloman dem Bücherfreund und Bolesław III. Schiefmund

Schlussdiskussion mit Eingangsstatements von Eduard Mühle (Warszawa/Münster) und Steffen Patzold (Tübingen)


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