Interpersonale Kommunikation im 19. und 20. Jahrhundert (Göttingen, 28.02.-02.03.2002)

Interpersonale Kommunikation im 19. und 20. Jahrhundert (Göttingen, 28.02.-02.03.2002)

Organisatoren
Arbeitskreis Geschichte und Theorie
Ort
Göttingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
28.02.2002 - 02.03.2002
Url der Konferenzwebsite
Von
Moritz Föllmer, Berlin

AUSTAUSCHBEZIEHUNGEN

Tagung des
28.2.-2.3.2002 in Göttingen, Haus am Hagenberg
Gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius

Nicht nur in der Ethnologie, Mikrosoziologie und Frühneuzeitforschung, sondern auch bei Historikerinnen und Historikern des 19. und 20. Jahrhunderts hat das Interesse an interpersonaler Kommunikation in den letzten Jahren zugenommen. Neben Briefen und Telefonaten spielten und spielen face-to-face-Kontakte in der Moderne unbestreitbar eine wichtige Rolle. Den Status der Kommunikation zwischen Personen präzise zu bestimmen, gestaltet sich allerdings oft schwierig und wirft verschiedene konzeptionelle Probleme auf. Diese Probleme zu diskutieren, dabei Veränderungen und Kontinuitäten herauszuarbeiten und die Brücke zu übergreifenden kultur- und gesellschaftsgeschichtlichen Entwicklungen zu schlagen, war das Ziel der Göttinger Tagung über "Austauschbeziehungen. Interpersonale Kommunikation im 19. und 20. Jahrhundert". Der "Arbeitskreis Geschichte und Theorie" setzte damit seine längerfristige Beschäftigung mit der Historisierung von Kommunikationsverhältnissen fort, die in den nächsten Jahren Gegenstand weiterer Tagungen sein wird.

Die erste Sektion über "Kommunikationsräume" begann mit einem Vortrag von Habbo KNOCH (Göttingen), der dem europäische Palasthotel der "langen Jahrhundertwende" gewidmet war. Hier etablierte sich eine neue Form repräsentativer, aber durchlässiger Öffentlichkeit mit eigenen Distinktionsstilen, die das Hotel für bürgerliche Gesellschaften (z.B. Abendveranstaltungen) in großstädtischen Zentren attraktiv werden ließ. Das von Georg Simmel und Siegfried Kracauer thematisierte Spannungsverhältnis von Individualität und Entpersonalisierung läßt sich, so Knoch, an diesem Beispiel konkret untersuchen und in eine bestimmte historische Konstellation einordnen.
Armin OWZAR (Münster) begann seinen Vortrag mit einigen Überlegungen zu den Bedingungen gesellschaftlicher Integration, die einen normativen Grundkonsens und eine alltägliche Kommunikation auch zwischen unterschiedlichen Gruppen und politischen Lagern erfordere. Dieser Problematik ging der Referent am Beispiel von Kneipen in ausgesuchten Stadtvierteln nach, wobei er zu dem Ergebnis kam, daß die intersegmentäre Kommunikation bei wenigen thematischen Berührungspunkten ganz überwiegend negativ verlaufen und nicht selten eskaliert sei. Eine formale Dialogfähigkeit sei nicht festzustellen, was Owzar als eine unter mehreren Ursachen für das Scheitern der Weimarer Republik bezeichnete.
In der Diskussion wurden Zweifel an der normativen Begrifflichkeit von Owzars Beitrag laut; zudem wurde vorgeschlagen, das negative Bild sozialmoralischer Milieus, wie es wegweisend von Lepsius formuliert worden ist, zu überdenken. In Bezug auf den Vortrag von Knoch regten verschiedene Stimmen an, eine Typologie des Hotels zu entwerfen und Besucher wie Personal genauer zu untersuchen. Generell wurde eine stärkere Berücksichtigung der räumlichen Strukturierung von interpersonaler Kommunikation gefordert.

Im Rahmen der folgenden Sektion über "Betriebskommunikation zwischen Expertenwissen und Eigensinn" ging Ruth ROSENBERGER (Trier) dem Zusammenhang zwischen der Entstehung und Etablierung der Betriebspsychologie und der Kommunikation in westdeutschen Unternehmen nach. Viele Unternehmer reagierten auf den Bedeutungsgewinn von Arbeitnehmervertretungen nach 1945, indem sie im Zeichen der "sozialen Partnerschaft" akademisch geschulte Experten eine neue Kultur des dialogischen Gesprächs entwickeln ließen, die sich von der nationalsozialistischen "Betriebsgemeinschaft" abhob. Dabei waren sie jedoch nicht immer erfolgreich: Während sich z.T. eine ungleichgewichtige Aushandlung zwischen verschiedenen Akteursgruppen etablierte, nutzten die Meister in einem anderen Fall die Gespräche, um ihren Unmut über das Betriebsklima zu artikulieren und die Einbeziehung höherstehender Unternehmensangehöriger zu fordern.
Götz BACHMANN (Berlin) präsentierte die Ergebnisse seiner ethnologischen Untersuchung von Arbeitspausen im Kaufhaus "Wertpreis", die auch im Zeichen von Personaleinsparungen, "Flexibilisierung" und verlängerten Ladenöffnungszeiten die Chance zu horizontaler Gemeinschaftsbildung bieten. Der Pausenraum stellt eine Bühne dar, die es den Verkäuferinnen ermöglicht, Arbeit und Sexualität zu thematisieren, konfrontativ zu diskutieren und "sich hochzuziehen" oder einträchtig zu schimpfen, "spinnen" und schweigen. Diese Kommunikation ist zwar von wechselseitiger Aushandlung, aber auch von einem asymmetrischen Beziehungsgewebe geprägt, in dem bestimmte Frauen die Rolle integrierter Führerfiguren übernehmen, d.h. eine Machtbalance herstellen und definieren, was jeweils als "gerecht" gilt.
Verschiede Diskutantinnen und Diskutanten fragten Rosenberger nach Herkunft und Interessen der Betriebspsychologen und nach Kontinuitäten zwischen "Betriebsgemeinschaft" und "sozialer Partnerschaft". Bachmann wurde aufgefordert, seine Stellung als männlicher Ethnologe in einem fast ausschließlich weiblichen Umfeld zu erläutern. An die Referentin wie den Referenten richtete sich der Vorschlag, die jeweiligen Fallbeispiele noch stärker historisch einzuordnen und in Beziehung zu betriebsexternen Faktoren (Wirtschaftskonjunktur, Gewerkschaften, Medien) zu setzen. Schließlich wurde erneut gefordert, die räumlichen Bedingungen der interpersonalen Kommunikation zu thematisieren.

Gerüchte in der sozialwissenschaftlichen Theorie und in der ländlichen Gesellschaft des frühen 19. Jahrhunderts waren das Thema des Vortrags von Tobias KIES (Bielefeld) unter dem Rubrum "Öffentlichkeit und Autorität". Vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs entstand eine sozialwissenschaftliche Forschung zu Gerüchten, die diese als Reaktion auf strukturelle Nachrichtendefizite in Gestalt von "improvised news", als Rationalisierung von Zweifeln und Ängsten und als Form der sozialen Konsensbildung und kollektiven Problemlösung interpretierte. Am Beispiel der katholischen Sekte der Salpeterer zeigte Kies, wie mit Hilfe von Gerüchten eine ländliche Frömmigkeitskultur erfolgreich gegen den Veränderungsdruck der kirchlichen Hierarchie verteidigt werden konnte.
In der Diskussion wiesen verschiedene Stimmen auf ein ungeklärtes Spannungsverhältnis zwischen allgemeinen Überlegungen zum Charakter des Gerüchts und der konkreten historischen Konstellation im Baden des frühen 19. Jahrhunderts hin. Weiterhin wurde vorgeschlagen, die an "Katalysatoren" und "Ventilen" orientierte sozialwissenschaftliche Begrifflichkeit der 1960er und 1970er Jahre kritischer zu bewerten, die Beziehung zwischen kollektiver und interpersonaler Kommunikation genauer zu klären und stärker zwischen den jeweiligen Kontexten der Entstehung von Gerüchten zu differenzieren.

Frank BÖSCH (Göttingen) sprach über den Zusammenhang von Kommunikation, "Institutionen und Politik", konkret über den Parteivorstand der CDU bis 1970, in dem zwar selten wichtige Entscheidungen getroffen wurden, der aber als Raum diente, in dem sich die Repräsentanten unterschiedlicher Gruppen in einer relativ offenen Gesprächssituation begegneten. Konrad Adenauer gelang hier eine bemerkenswerte Integrationsleistung, die er durch meisterhafte Diskussionsleitung, die geschickte Herstellung von Hierarchie und Vertrautheit und nicht zuletzt die Nutzung seines Humors als politische Führungsressource erreichte. Seit Mitte der 1960er Jahre zeichnete sich ein Wandel hin zu informelleren Umgangsformen und einer professionelleren Rhetorik ab, den sich schließlich Helmut Kohl zunutze machte.
Verschiedene Diskutantinnen und Diskutanten fragten nach einem kommunikativen Wandel bereits vor 1965 und nach dem Vergleich zur SPD. Weitere Anregungen bezogen sich auf die neuen Formalisierungstendenzen, die gegenüber dem Trend zu einer offenen Kommunikation seit Mitte der 1960er Jahre nicht übersehen werden dürften. Schließlich wurde vorgeschlagen, den Parteivorstand weniger von der Person Konrad Adenauers sondern stärker von der Kommunikationsgeschichte der CDU her zu betrachten.

Der Vortrag von Anke BAHL (Bonn/Frankfurt a.M.) war unter dem Oberthema "Kommunikationstechnologien" den Beziehungen passionierter Internetnutzer gewidmet. Die sog. MUDs sind anonyme Schutzräume, in denen persönliche Interaktionen nicht face-to-face stattfinden und deshalb von physischer Präsenz, Visualität, überhaupt der unkontrollierten Preisgabe von Informationen befreit sind. Gerade junge Menschen, die mit ihrem Körper unzufrieden sind, sehen im rein sprachlich-kognitiven Charakter dieser Kommunikation die Chance, sich selbst zu offenbaren und vertrauensvolle Beziehungen zu knüpfen, wobei sich daraus jedoch oft der Wunsch entwickelt, sich am Ende face-to-face kennenzulernen.
In der Diskussion wurde darauf hingewiesen, daß sich der Innerlichkeitskult der Internetnutzer in eine längerfristige historische Kontinuität einordnen lasse. Weitere Beiträge bezogen sich auf die strukturierende Rolle von Regeln, moralischen Normen und kollektiven Vorstellungen. Schließlich wurde nach Zugangsbarrieren zur digitalen Kommunikation und der sozialen Herkunft der Nutzer gefragt.

Die letzte Sektion zum Thema "Kommunikation, Subjektivität und Krisenerfahrung" begann mit einem Vortrag von Moritz FÖLLMER (Berlin) über den Zusammenhang von Kommunikationskrise und Selbstmord in der Weimarer Republik. Entscheidend war dabei das Aufeinanderprallen älterer kommunikativer Praktiken wie der pädagogischen Ermahnung oder des elterlichen Schlagens mit neuen Persönlichkeitsstilen von Jugendlichen, die von einem existentiellen Pathos oder einer phantasievollen Mehrdeutigkeit geprägt waren. Des weiteren stellte die massenhafte Arbeitslosigkeit ebenso eine schwerwiegende Belastung für die persönlichen Beziehungen dar wie die Kluft zwischen gesellschaftlicher Normerfüllung und dem Anspruch auf individuelles Glück; dieses biographische Scheitern konnte nicht selten nur noch in Abschiedsbriefen kommuniziert werden.
Daniel MORAT (Göttingen) widmete sich den Rechtsintellektuellen nach 1945, die ihre biographische Krise durch die Kommunikation in kleinen, esoterischen Zirkeln zu bewältigen suchten. Er verband dies mit Reflexionen über den Status des Gesprächs in der intellectual history und die Renaissance von Oralität in der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Die kommunikative "Behauptung aus eigener Kraft" von Heidegger, Jünger und anderen trugen gleichzeitig defensiven und offensiven Charakter, denn die Gespräche boten sowohl ein Refugium als auch den Ansatzpunkt für eine Rückkehr in die Öffentlichkeit.
An Föllmer richtete sich verschiedentlich die Forderung, den Zusammenhang von allgemeiner Krise der Weimarer Republik, konkreter biographischer Krise und Selbstmord genauer zu klären. Gefragt wurde weiterhin nach der quantitativen Entwicklung des Suizids und den Varianten seiner Durchführung, sowie den Rückwirkungen des literarischen und medialen Diskurses auf die Selbstmörder. Morat wurde gebeten, die Beziehungen zwischen interpersonaler Kommunikation und medialer Öffentlichkeit und die Rolle von Generationen innerhalb der intellektuellen Rechten näher zu erläutern. An beide Referenten ging der Vorschlag, ihre jeweiligen Fallbeispiele stärker in die Geschichte der - insbesondere bürgerlichen - Kommunikationsformen einzuordnen.

Die Schlußdiskussion kreiste um drei Pole: Erstens forderten verschiedene Diskutantinnen und Diskutanten, den Status von interpersonaler Kommunikation methodisch präziser zu bestimmen, wobei einerseits auf deren materiale (etwa körperliche oder technische) Voraussetzungen und Aspekte und andererseits auf die Rolle von Regeln, Diskursen und ihrer Verdichtung zu bestimmten kommunikativen Regimes hingewiesen wurde. Zweitens war das Verhältnis von anthropologischen Grundtatsachen und der jeweiligen historischen Konstellation umstritten: Während einige Stimmen anregten, Konstanten des Kommunikationsverhaltens herauszuarbeiten und anschließend als Ausgangspunkt für die Historisierung zu nehmen, insistierten andere auf der Historizität von Gesprächsformen. Dies leitete - drittens - zur Periodisierungsfrage über. Dabei wurde - neben der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und den Umbrüchen seit den 1990er Jahren - die Bedeutung der Zeit um 1900 unterstrichen, die durch einen Wandel der Verkehrsformen, die Rückwirkung von Massenmedien auf die Beziehungen zwischen Personen und einen neuen kommunikativen Gleichheitsanspruch bestimmt gewesen sei. Um 1960 wurde eine weitere Zäsur in Form eines Informalisierungsschubs und eines Wandels der räumlichen Bedingungen von interpersonaler Kommunikation bei gleichzeitiger Veränderung der Reflexion über sie (Stichwort "Streitkultur") ausgemacht.

Insgesamt zeigte die Tagung, daß es lohnend aber gleichzeitig auch schwierig ist, die Analyse interpersonaler Kommunikation in bestimmten Konstellationen mit der Diskussion übergreifender Periodisierungsfragen zu verbinden. Wie und warum sich Gesprächsformen im 19. und 20. Jahrhundert wandelten, bliebe noch genauer zu klären. Darüber hinaus erscheint es nötig, die Wechselbeziehungen von interpersonaler Kommunikation und Gesellschaft theoretisch präziser zu erfassen. Immerhin gelang es, solche Fragen auf der Grundlage vielfältiger und methodisch wie inhaltlich interessanter Vorträge zu diskutieren. Eine Publikation der Beiträge ist vorgesehen.

Kontakt

Dr. des. Moritz Föllmer
Institut für Geschichtswissenschaften
Humboldt-Universität zu Berlin
Unter den Linden 6
10099 Berlin
moritzfoellmer@aol.com

www.geschichte-und-theorie.de