Die baltischen Länder und Europa in der Frühen Neuzeit

Die baltischen Länder und Europa in der Frühen Neuzeit

Organisatoren
Baltische Historische Kommission e.V., Finnisch-Ugrisches Seminar, Georg-August-Universität Göttingen
Ort
Göttingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
06.06.2009 - 07.06.2009
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Von
Stephan Bitter, Mühlheim an der Ruhr; Heinrich Wittram, Hemmingen-Arnum

Das 62. Baltische Historikertreffen1 stand unter dem Oberthema „Die baltischen Länder und Europa in der Frühen Neuzeit“. Es wurde zusammen mit dem 1. Vorsitzenden der Baltischen Historischen Kommission Matthias Thumser (Berlin) von Norbert Angermann (Buchholz) und Erwin Oberländer (Mainz) vorbereitet und durch die Marga und Kurt Möllgaard-Stiftung, der Gerda Henkel Stiftung und dem Herder-Institut Marburg unterstützt.

Eingangs stellte STEFAN HARTMANN (Berlin) das inzwischen abgeschlossene Projekt des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz in Berlin Herzog Albrecht von Preußen und Livland (1525-1570) vor. Es vermittelt auf Grundlage des Herzoglichen Briefarchivs in sieben Bänden mit etwa 5000 Vollregesten ein eindrucksvolles Bild von den vielschichtigen Beziehungen Preußens zu Livland in den Jahren 1525-1570, das heißt von der Einführung der Reformation bis zum Abschluss des Friedens von Stettin. Die in den Regesten enthaltenen Belege machen die brandenburgisch-preußische Komponente der internationalen Livlandpolitik im 16. Jahrhundert transparent und liefern der Geschichtsforschung wichtige Informationen, die eine ausgewogene Betrachtung und Wertung der Ereignisse in ihrem kausalen Zusammenhang ermöglichen. Wichtige Quellen für die innerlivländischen Verhältnisse sind auch die Schreiben von Albrechts livländischen Gesprächspartnern, die erkennen lassen, welche Themen besonders aktuell gewesen sind.

PETER WÖRSTER (Marburg) gab einen informativen Einblick in die Quellen zur baltischen Geschichte der Frühen Neuzeit in der Dokumentesammlung des Herder-Instituts Marburg. Er nannte als Beispiele zentrale Quellen der Landesherrschaft bzw. Staatsverwaltung (Urkunden, Hakenrevisionen, Landtagsrezesse, Landkarten), Material zur Geschichte von Städten und Gesellschaften (Hasenpother Stadtrecht und Große Gilde zu Riga), Familienarchive (v. Campenhausen) und Nachlässe von Historikern der Frühen Neuzeit (Heinrich Laakmann, Herta v. Ramm-Helmsing).

In der traditionellen Rubrik „Neue Forschungen zur baltischen Geschichte“ berichtete zunächst ANJA WILHELMI (Lüneburg) über Stereotype und Stereotypenbildung in Bezug auf die baltische Frau. Anhand der Untersuchung von autobiographischen Schriften und publizistischen Äußerungen in deutschbaltischen Periodika bzw. Zeitschriften konnte sie eine Stereotypisierung der deutschbaltischen Frauen für das 19. und beginnende 20. Jahrhundert belegen. Die Entwicklung setze im Zuge zunehmender Thematisierung „der Frau“ in der Publizistik ein. In chronologischer Folge wurde in der Eigen- und Fremdzuweisung von einer regional besetzten Determinante zunehmend mehr eine überregional, „baltisch“ besetzte Ebene sichtbar. Diese Stereotypisierungen funktionierten in ihrer ersten Ebene in kultureller Abgrenzung innerhalb der deutschbaltischen Bevölkerung, in zweiter Ebene in ethnisch-nationaler Abgrenzung zur deutschen Frau im Deutschen Reich. Sodann trug die Politikwissenschaftlerin EVA-CLARITA ONKEN (Lüneburg/Tartu) Ergebnisse einer Analyse zeitgenössischer estnischer Geschichts-Schulbücher vor. Die Fragestellung galt den Lehrbüchern als „Repräsentanten eines politischen Gedächtnisses“ und stellte am Beispiel der Behandlung der II. Weltkrieges der vom staatlichen Lehrplan gewünschten Erziehung zur Multiperspektivität die faktisch in den Lehrbüchern (und ähnlich in durchgeführten Lehrerbefragungen) erkennbaren Intentionen gegenüber. Onken stellte ein Defizit fest: Tatsächlich zielten die Lehrbücher noch nicht genügend auf Diskurse, die eine multiethnische Integration eröffneten. Am Schluss stellte sie zu deren unterrichtlicher Förderung Anregungen zusammen und löste damit eine Debatte zu den hermeneutischen Voraussetzungen ihrer Analyse und Postulate aus.

Am Nachmittag des zweiten Konferenztages eröffnete ERWIN OBERLÄNDER (Mainz) den Reigen der Vorträge zum Hauptthema der Tagung. Die Frühe Neuzeit (16.-18. Jahrhundert), so legte er dar, sei im westlichen Europa durch einen die ganze Gesellschaft erfassenden Wandlungsprozess der Wirtschafts-, Gesellschafs-, Verwaltungs- und Verhaltensformen der Menschen gekennzeichnet, ohne den moderne Wirtschaftsformen gar nicht durchsetzbar gewesen wären. Im östlichen Europa hätten sich dagegen in diesen drei Jahrhunderten vorkapitalistische, teils feudale, teils feudalähnliche Produktionsweisen sowie kaum ausdifferenzierte Gesellschaften verfestigt. In diesem Sinne könnten die baltischen Länder nicht als eine typisch frühneuzeitliche Region gelten. Das gelte neben Estland und Livland grundsätzlich auch für das Herzogtum Kurland, dessen Geschichte jedoch ein faszinierendes Mit- und Gegeneinander der vom Adel zäh verteidigten feudalen Agrarverfassung östlichen Musters einerseits und von den Herzögen ausgehenden „modernen“ westlichen Impulsen andererseits biete.

Der Numismatiker IVAR LEIMUS (Tallinn) berichtete über die Münzbeziehungen zwischen Livland und seinen Nachbarn im 16. Jahrhundert. Er stellte Umrisse von Biographien vor, die erkennen ließen, dass die Beziehungen zwischen dem livländischen und den westlichen Münzsystemen aus persönlichen Faktoren resultieren konnten und sich etwa aus den von wandernden Münzgesellen, die in der Regel aus Deutschland stammten, gesammelten Kenntnissen herleiteten. Einige von ihnen hätten als Münzmeister auch Ruhm im Auslande erworben und sogar eine internationale Karriere gemacht. Daneben hätte währungsgeschichtlich die Orientierung des livländischen Münzwesens an westlichen Vorbildern (im 13./14. Jahrhundert waren dies besonders die Zentren des Ostseehandels Gotland und Lübeck) zu numismatischen Entsprechungen zwischen livländischen und fremdländischen Münzen geführt. Später, in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, habe es enge Beziehungen zu Schweden mit einer Koexistenz zweier verschiedener Münzsysteme in einem und demselben Wirtschaftsraum gegeben. Als das Land während des livländischen Krieges in politische Abhängigkeit von Schweden (Estland) bzw. Polen-Litauen (Livland) geriet, habe dies den Übergang zum schwedischen (Reval 1594) bzw. polnischen (Riga 1581) Münzsystem bedeutet.

INNA JÜRJO-PÕLTSAM (Tallinn) sprach, gestützt auf das Protokollbuch des Rats der Stadt Neu-Pernau der Jahre 1583-1602, über die Außenbeziehungen der Stadt Pernau in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts, insbesondere über die Handelsbeziehungen nach Holland. Demnach hatten diese Beziehungen zur Folge, dass in Neu-Pernau holländische Neusiedler eine neue Heimat fanden. Mit Hilfe der ausgedehnten Schifffahrt der Holländer in der Ostsee habe Pernau in dieser Zeit für die Stadt günstige Exporte tätigen können.

GUIDO STRAUBE (Riga) referierte über die von Polen-Litauen begonnene Gegenreformation in Livland; er stellte das tradierte Bild von der Vergewaltigung des Protestantismus in der Zeit der Herrschaft Polen-Litauens über Livland insofern infrage, als man angesichts der numerisch und physisch bescheidenen Kräfte, die tatsächlich den Jesuiten zur Verfügung gestanden hätten, nicht mit einer nachhaltigen Wirkung der gegenreformatorischen Maßnahmen rechnen könne; die Träume des Antonio Possevino von einer katholischen Missionierung Nordosteuropas von Riga aus seien unrealisiert geblieben; so müsse die Bewertung der jesuitischen Aktionen um 1600 revidiert werden. In der Aussprache wurde an die immerhin erhebliche missionarische Publizistik der Jesuiten und die Dichte ihrer Berichte nach Rom erinnert.

LEA KÕIV (Tallinn) stellte die besonderen kirchlichen Beziehungen zwischen Schweden und Reval im 17. Jahrhundert vor. Der Rat der Stadt Reval habe Wert auf eine vom übrigen Territorium abweichende eigene Position im Verhältnis zum schwedischen Kirchenregiment gelegt und habe daher bis zum Ende der Schwedischen Zeit auf der eigenen, seit der Reformationszeit geltenden, Kirchenordnung beharrt. Auch der letzte Versuch Karls XII., 1690/91 die Schwedische Kirchenordnung in Reval einzuführen, habe keinen Erfolg gehabt. Erst in der ersten russischen Zeit, als die russische Regierung die bisherigen Kirchenordnungen vorübergehend in Geltung belassen habe, habe die Schwedische Kirchenordnung auch in Reval Gültigkeit erlangt.

Am Sonntag sprach MARTIN KLÖKER (Osnabrück) über die deutsch-livländischen Literaturbeziehungen der Frühen Neuzeit. Er stellte kritisch das so genannte „koloniale Modell“ in Frage, nach dem „der Herzschlag des [deutschen] Mutterlandes“ für die deutschbaltische Literatur seit dem 16. Jahrhundert wesentlich gewesen sei. Man könne einerseits die Geschichte der deutschbaltischen Literatur nicht pauschal charakterisieren, da um 1800 eine Zäsur erkennbar sei, zum anderen müsse man für die Frühe Neuzeit die Prävalenz des Regionalen gegenüber dem Nationalen in der Frühen Neuzeit bedenken. Es habe keinen deutschen Nationalstaat und ebenso wenig eine deutsche Nationalliteratur gegeben. Die deutschbaltische Literatur sei deutschsprachige regionale Literatur gewesen wie anderenorts auch. Rücke man diesen regionalen Charakter der livländischen Literatur in den Blickpunkt, so könne ihr selbständiger Beitrag zur Entwicklung und Fortschreibung deutscher Literatur und der komplexe Prozess des Kulturtransfers wahrgenommen und untersucht werden.

VOLKER KELLER (Mainz) referierte über die Beziehungen des Herzogtums Kurland zu England im 17. Jahrhundert. Er legte dar, man könne im Dezember 1615 den ersten Einschnitt in der Geschichte der kurländisch-englischen Beziehungen ansetzen, denn die Korrespondenz zwischen beiden Ländern habe erst im Herbst 1617 wieder angehoben, als die neue, nun geklärte Lage Kurlands auch der englischen Seite deutlich geworden sei. Man müsse sehen, dass der erste Anlauf zur Instrumentalisierung der beiderseitigen Beziehungen wegen des Umbruchs im Herzogtum gescheitert sei. Das Fädchen nach Whitehall sei – noch – zu schwach gewesen. Dieser erste Anlauf sei aber auch wegen noch nicht vorhandener Gemeinsamkeiten fruchtlos geblieben, die ohnehin nur für Kurland einmal politischen Profit hätten abwerfen können, für England nicht.

ANDREAS FÜLLBERTH (Kiel) befasste sich mit den Beziehungen Kurlands zu den Niederlanden und brachte damit dem Historikertreffen ein Forschungsdesiderat vor Augen: Die Dichte und die Bedeutung der Beziehungen zwischen dem Herzogtum Kurland und der niederländischen Republik seien noch ganz unerforscht. Bislang habe man diese Beziehungen fast nur mit Blick auf kolonialgeschichtliche Verflechtungen näher beleuchtet – am stärksten sei dies in Otto Heinz Mattiesens monumentaler Monografie zur Kolonial- und Überseepolitik der kurländischen Herzöge von 1939/40 geschehen. Beachtlich sei, dass Jan van Herwaarden auf ein Ende des 17. Jahrhunderts erwogenes gemeinsames Kolonisationsprojekt auf Tobago hingewiesen habe, das Gegenstand von Verhandlungen zwischen Vertretern Kurlands und Rotterdams geworden sei. Mit dem Ziel einer umfassenden Gesamtdarstellung seien die Beziehungen zwischen Kurland und den Niederlanden bisher jedoch noch nicht analysiert worden. Welche Motivationen habe es von beiden Seiten gegeben? Bemerkenswert sei, dass Herzog Jakob, der 1634 bis 1636 die Niederlande bereist habe, gerne Berater an sich gezogen habe, die in dem berühmten Leiden studiert hätten. Man müsse aber auch für möglich halten, dass er damit an die schon ältere Präsenz von Holländern in Kurland angeknüpft habe. Erkennbar sei die Bedeutung der Handelsbeziehungen und der Anwerbung holländischer Bauhandwerker nach Kurland; andererseits sei in der lettischen Fachliteratur die Einwirkung der Holländer auf die konkreten Bauplanungen in Kurland vermutlich überschätzt worden, so dass hier eine Überprüfung angezeigt erscheine.

MĀRITE JAKOVĻEVA (Riga) schilderte die ungünstige Lage des Herzogtums Kurland im Großen Nordischen Krieg 1700 bis 1710. Sie wies darauf hin, dass das Land noch nicht wieder einen volljährigen Herzog besessen habe; die Ritterschaft sei zerstritten gewesen. In einer ersten Phase sei Kurland mit Unterstützung Preußens und Russlands Aufmarschgebiet gegen Schweden gewesen. Das habe jedoch in einer zweiten Phase nicht Karls XII. Kriegszug durch Kurland nach Polen verhindert. Der für die Schweden ungünstige Ausgang des Krieges habe Kurland in einer dritten Phase zum Zankapfel zwischen den siegreichen Russen und Polen werden lassen und in der Folgezeit eine Verstärkung des russischen Einflusses ermöglicht.

Konferenzübersicht:

Stefan Hartmann (Berlin): Herzog Albrecht von Preußen und Livland (1525–1570). Bilanz eines Regestenprojekts

Peter Wörster (Marburg): Quellen zur baltischen Geschichte der Frühen Neuzeit in der Dokumentesammlung des Herder-Instituts Marburg

Neue Forschungen zur baltischen Geschichte

Anja Wilhelmi (Luneburg): Die deutschbaltische Frau. Stereotype und Stereotypenbildung

Eva-Clarita Onken (Tartu): ‚Offizielle Geschichte’ und gesellschaftliche Integration: eine geschichtspolitische Analyse jüngerer estnischer Geschichtslehrbücher

Die baltischen Länder und Europa in der Frühen Neuzeit

Erwin Oberländer (Mainz): Das Konzept der Frühen Neuzeit und die Geschichte Estlands, Livlands und Kurlands 1561-1795

Ivar Leimus (Tallinn): Die Münzbeziehungen zwischen Livland und seinen Nachbarn im 16. Jahrhundert

Inna Jürjo-Põltsam (Tallinn): Die Außenbeziehungen der Stadt Pernau in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts

Guido Straube (Riga): Das Scheitern der von Polen-Litauen begonnenen Gegenreformation in Livland

Lea Kõiv (Tallinn): Kirchliche Beziehungen zwischen Schweden und Reval im 17. Jahrhundert

Martin Klöker (Osnabrück): Vom Geben und Nehmen in den deutsch-livländischen Literaturbeziehungen der Frühen Neuzeit

Volker Keller (Mainz): Das Herzogtum Kurland und England im 16. und 17. Jahrhundert

Andreas Fülberth (Kiel): Die kurländisch-niederländischen Beziehungen zur Zeit Herzog Jakobs

Mārite Jakovļeva (Riga): Das Herzogtum Kurland im Großen Nordischen Krieg 1700-1710

Anmerkung:
1 Dieser Bericht erscheint auch in den „Baltischen Briefen“ 7/8 (2009).