Europa in der Schweiz – grenzüberschreitender Kulturaustausch im 18. Jahrhundert

Europa in der Schweiz – grenzüberschreitender Kulturaustausch im 18. Jahrhundert

Organisatoren
Heidi Eisenhut, Kantonsbibliothek Appenzell, Außerrhoden; Anett Lütteken, Universität Bern; Carsten Zelle; Ruhr-Universität Bochum
Ort
Trogen, Schweiz
Land
Deutschland
Vom - Bis
10.06.2009 - 13.06.2009
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Von
Hannah Dotzauer, Universität Bern

„Grenzen sind immer auch Schwellen, sie trennen und verbinden zugleich – Grenzraum sein heißt Schwellenraum sein“, hieß es im Konzept der interdisziplinären Tagung, die von Heidi Eisenhut (Leiterin der Kantonsbibliothek Appenzell Außerrhoden), Anett Lütteken (Universität Bern) und Carsten Zelle (Ruhr-Universität Bochum) organisiert wurde. Während drei Tagen beleuchteten unter anderem Musik- und Literaturwissenschaftler, Historiker und Kunsthistoriker solche Grenzen und Schwellen in und um die Schweiz des 18. Jahrhunderts aus verschiedenen Perspektiven.

Eröffnet wurde die Tagung mit der Präsentation des im Frühjahr 2009 erschienenen Tagungsbandes des 1. Trogener Bibliotheksgesprächs Der Kanon im Zeitalter der Aufklärung. Darauf folgte ein öffentlicher Vortrag von Ulrich Pfister (Münster) über den Textilhandel der Familie Zellweger im europäischen Kontext von kommerzieller Revolution und Konsumrevolution. Aus dem Handel der Trogener Dynastie mit Leinwand und später Rohbaumwolle sowie bedruckten Baumwollstoffen resultierten Beziehungen nach Lyon und Genua, wo zellwegersche Filialen entstanden. Im Zusammenhang mit dem bedruckten Tuch wurden etwa Mülhausen im Elsass und im Zusammenhang mit der Geldwirtschaft Augsburg wichtig. Ein grenzüberschreitender Austausch entstand. Weitere Schwellensituationen und Grenzüberschreitungen im Verhältnis der Schweiz zu Europa waren das Thema der vier Sektionen, die in den folgenden drei Tagen den Schwerpunkt der Tagung bildeten.

Diskurse ohne Grenzen

Die erste Sektion „Diskurse ohne Grenzen“ begann mit einem Vortrag von ALAIN CERNUSCHI (Lausanne) über „Die Enzyklopädie als Generator grenzüberschreitenden Wissenstransfers“: Die Aufklärung hatte verschiedene Enzyklopädien hervorgebracht, die sich während des 18. Jahrhunderts weiter veränderten, weil sich das Verständnis von Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen neu definiert habe. Zusammenarbeit löste Individualleistung ab, interkulturelles Denken trat an die Stelle nationalen Denkens. Die besondere Rolle, die Basel als Knotenpunkt in diesem neuen Rahmen des Wissensaustauschs einnahm, erläuterte ANDREAS URS SOMMER (Freiburg/Breisgau) in seinem Referat „Ideentransfer und Ideentransferverweigerung – Basel zwischen Hochorthodoxie und Aufklärung“. Die Hierarchien im intellektuellen Gefüge Basels begannen sich im 18. Jahrhundert zu verschieben. Eine der wichtigen Gestalten dieser Umbruchphase sei der Theologe Samuel Werenfels, gewesen, der erkannte, dass der Ideentransfer nicht nur zugelassen sondern vielmehr habe integriert werden müssen. Denn die Weitergabe von Ideen und Gedanken über Grenzen hinweg habe bereits nicht mehr aufgehalten und schon gar nicht verhindert werden können. Der theologische und konfessionelle Einfluss auf den Diskurs der Gelehrten wurde auch im Anschluss an den Vortrag von DANIELA KOHLER (Bern) über den Lavater-Schüler Georg Müller (1759-1819) diskutiert: Die Grenzziehungen um 1780 seien wohl weniger national oder sprachlich bestimmt gewesen als vielmehr theologisch, konfessionell begründet. So sei es Müller nach seinem Aufenthalt bei Lavater in Zürich schwergefallen, an der Universität in Göttingen Fuß zu fassen. Erst später sei er zu einer objektiveren Perspektive gelangt und habe versucht, zwischen Herder und Lavater, zwischen Weimar und Zürich zu vermitteln. Antipoden wie Herder und Lavater waren auch das Thema des Vortrags von ULRICH PFARR (Frankfurt am Main). Er legte den Schwerpunkt auf die Suche nach Spuren, die James Parsons’ Traktat „Human Physiognomy explained“ (1747) in Lavaters „Fragmenten“ hinterlassen hatte und zeigte dabei große Ähnlichkeiten aber auch große Gegensätze auf.

Die Schweiz als kulturelles Geberland

Nach diesem ersten Teil, der zeigte, dass dem intellektuellen Austausch, entgegen dem Titel „Diskurse ohne Grenzen“ sehr wohl Grenzen gesetzt waren, folgte die zweite Sektion zum Thema „Die Schweiz als kulturelles Geberland“. Eingeleitet wurde sie von CHRISTOPH GOOD (St. Gallen) mit einem Referat über den Schweizer Völkerrechtler Emer de Vattel. Die Komplexität des Themas wurde hierbei sehr deutlich, da Emer de Vattel zwar Schweizer war, jedoch in sächsischen Diensten stand und aus Neuchâtel kam, das sich damals unter preußischer Herrschaft befand. Daher kann nach Good in diesem Fall nicht pauschal von einem Wissenstransfer von der Schweiz ins Ausland gesprochen werden. Ähnlich ambivalent stellte sich der Frankfurter Komponist Philipp Christoph Kayser dar, dessen musikalische Pilgerfahrt von Zürich nach Italien der Vortrag von CRISTINA URCHUEGUÍA (Zürich) zum Thema hatte. Kayser habe gegenüber der italienischen Oper nicht mit Häme gespart – zum Teil aus anachronistischem Verständnis der Oper. Nach Urchueguía gab ihm erst seine Wahlheimat Zürich und damit die Schweiz später die notwendige ›Neutralität‹ gegenüber der Musikkultur. Umgekehrt vollzog sich der Lebensweg Johann Georg Sulzers, über dessen europäische Vermittlungsaktivitäten ELISABETH DÉCULTOT (Paris/ Berlin) referierte: Sulzer stand an der Schwelle zwischen Aufklärung und Empfindsamkeit, zwischen Zürich und Berlin. Er habe ein beachtliches Netzwerk geschaffen und versucht, Bodmers Lehre gegen die Angriffe der Gottschedianer in Berlin zu verbreiten sowie Lavater und Füssli nach Berlin zu holen. Um Aufklärung und Gegenaufklärung ging es im Vortrag von MARKUS WINKLER (Genf): „Zum Verhältnis von Natur und Geschichte in Idyllen von Gessner und Goethe“. Während er anhand Gessners „Daphnis und Micon“ die Frage stellte, ob Zivilisation, Eigentumsvorstellungen und Sozialsysteme nicht ebenso ursprünglich sind wie die Natur selbst oder sogar älter, zeigte er an Goethes „Der Wandrer“, wie vergänglich die Harmonie ist und wie unvereinbar mit der Natur.

Die europäische Aufklärung in Trogen

Im dritten Teil der Tagung nahmen die Vorträge und Diskussionen einen noch kleineren Ausschnitt genauer unter die Lupe. ANETT LÜTTEKEN (Bern) eröffnete die dritte Sektion „Die europäische Aufklärung in Trogen“ mit einem Beitrag über die Facetten europäischer Landschaftsdichtungen bei Ewald Christian von Kleist. Auch er stand um 1750 an einer Schwelle – am Übergang zwischen zwei Generationen: Gellert und Lessing. Bei den Zeitgenossen als „der Dichter des Frühlings“ bekannt, wurde er auch in der deutschsprachigen Schweiz rezipiert. Und Gessners Buchillustrationen zu Kleists Landschaftsdichtungen zeigen, dass das einfache Landleben und die idealisierten Idyllen damals durchaus vereinbar waren. Die Referate von BÄRBEL SCHNEGG (Trogen) und MARLIS STÄHLI (Zürich) hatten die Briefwechsel Laurenz Zellwegers zum Thema: Bärbel Schnegg legte den Schwerpunkt auf Zellwegers Lehrer, Berater und Vertrauten Johann Jakob Scheuchzer. Und sie wies auf den Briefwechsel der beiden als mögliche Quelle für einen Alpendiskurs hin, der im Zusammenhang mit der Alpenbegeisterung zu sehen ist, die Anfang des 18. Jahrhunderts einsetzte. Marlis Stähli zeigte anhand der Quellen der Zentralbibliothek Zürich, wie viele weitere fruchtbare Korrespondenzen Laurenz Zellweger mit Bodmer, Breitinger, Haller, Sulzer und vielen anderen führte. Dabei spielte Zellwegers Heimatort Trogen als Rückzugsgebiet fern der Stadt, aber auch als Knotenpunkt eines regen Kulturaustauschs eine wichtige Rolle. Bedeutend war Trogen auch für den Appenzeller Kalender. ALFRED MESSERLI (Zürich) zeigte, wie transnationale Medienereignisse visuell und textuell dargestellt wurden: Der damals sehr populäre Kalender, der in seinen Anfängen von Amerika aus redigiert und in St.Gallen gedruckt sowie über die engen lokalen Grenzen hinaus Verbreitung fand, enthält Abbildungen im Zusammenhang mit James Cooks Weltumsegelung, der Erfindung der Montgolfiere und dem Sturm auf die Bastille – allesamt damals weltbewegende Ereignisse, die im jährlich erscheinenden Periodicum eine popularisierte, aber aktuelle Rezeption erfuhren. Dieser dritte, vom Medium Bild geprägte Teil der Tagung wurde durch die öffentliche Abendveranstaltung „Öl auf Leinwand – Fakten und Fiktionen“ abgerundet: Einige Porträts aus der Gemäldesammlung der Kantonsbibliothek Appenzell Außerrhoden wurden im ehemaligen zellwegerschen Fest- und Bibliothekssaal präsentiert; eine musikalische und literarische Annäherung an das 18. Jahrhundert.

Zu Gast in der Schweiz

LAURA BENZI (München) leitete den vierten und letzten Teil der Tagung ein, der unter dem Motto „Zu Gast in der Schweiz“ stand. Ihr Thema war der junge Klopstock, der von Bodmer in die Schweiz eingeladen und sehnlich erwartet worden war, dessen Erwartungen aber bitter enttäuschte. Welchen Eindruck die Schweiz auf ihre Gäste machen konnte, wird am Beispiel Klopstocks erkennbar, der nach Bodmers Verständnis sein Talent nicht nutzte, nach eigener Aussage jedoch in Zürich erst »in die Welt gekommen« war. BENEDIKT JEßING (Bochum) belegte am Beispiel eines anderen Gastes in der Schweiz Parallelen und Spannungen zwischen „Werthers Briefen aus der Schweiz“ (1796) von Goethe und dem Werther-Roman von 1774 auf. Er arbeitete verschiedene Werte bzw. Wertverschiebungen heraus, die das Thema der Idyllen wieder aufgreifen und zur Frage führen: Ab wann ist die erhabene Landschaft selbst nicht mehr Natur sondern Konstruktion? Um Konstruktion und Stilisierung ganz anderer Art ging es im Vortrag von GERNOT GRUBER (Wien). Er dekonstruierte das stilisierte Ereignis „Salomon Gessner empfängt den jungen Mozart“, indem er die strategischen, wirtschaftlichen, medialen Interessen Leopold Mozarts herausarbeitete, der ein Netz webte, um seine Kinder und vor allem seinen Sohn Wolfgang Amadeus bekannt zu machen. Nach Gruber war das Treffen zwischen Leopold Mozart und Salomon Gessner also nicht das Treffen zweier Seelenverwandter sondern zweier Geschäftsleute. Doch das tut der Begegnung als Beispiel für einen grenzüberschreitenden Austausch keinen Abbruch, im Gegenteil. Den Abschluss der Tagung bildete der Vortrag von KLAUS MANGER (Jena) „‘vierzehn glückliche Tage in der förenen Hütte‘ – Wieland in der Schweiz“: Wieland wurde mit Laurenz Zellweger bekannt gemacht und nahm viele Einflüsse des friedlichen, genügsamen, gelassenen Einsiedlers in Trogen auf. Zellwegers „förene Hütte“ muss auf Wieland wie der Gegenpol zu den Palästen des Spätabsolutismus gewirkt haben. Die sich daraus ergebenden Gegensätze Sein – Scheinen, Mensch – König und Natur – Kultur finden sich immer wieder in Wielands späteren Werken.

Die Beiträge der Tagung haben die Schweiz als ein Zentrum vielfältigen Austauschs gezeigt, der immer traditionelle, konfessionelle, nationale oder kulturelle Hürden zu überwinden hatte. Das Trogen des 18. Jahrhunderts kann als ein Knotenpunkt eines solchen Kommunikations- und Erkenntnisnetzes gesehen werden, von dem aus kulturelle Beziehungen überall hin nach Europa gesponnen wurden, wertvoll wie die Gewebe, mit denen die Zellweger handelten.

Konferenzübersicht:

I. Sektion: Diskurse ohne Grenzen
Moderation: Anett Lütteken

Alain Cernuschi (Lausanne): Die Enzyklopädie als Generator grenzüberschreitenden Wissenstransfers

Andreas Urs Sommer (Freiburg/Breisgau): Ideentransfer und Ideentransferverweigerung. Basel zwischen Hochorthodoxie und Aufklärung

Daniela Kohler (Bern): Zwischen Zürich, Göttingen und Weimar. Der Lavaterschüler und Göttingen-Student Johann Georg Müller als Vermittler zwischen Lavater und Herder

Ulrich Pfarr (Frankfurt am Main): James Parsons als versteckter Antipode Lavaters. Spuren in den Fragmenten und in der bildenden Kunst

II. Sektion: Die Schweiz als kulturelles Geberland
Moderation: Carsten Zelle

Christoph Good (St. Gallen): Emer de Vattel. Völkerrecht – Droit des Gens – Law of Nations

Cristina Urchueguía (Zürich): Musikalische Pilgerfahrt von Zürich nach Italien: Philipp Christoph Kaysers Reise nach Italien

Elisabeth Décultot (Paris/z.Zt. Berlin): Von Winterthur nach Berlin. Zu Sulzers Europäischen Vermittlungsaktivitäten

Markus Winkler (Genf): Zum Verhältnis von Natur und Geschichte in Idyllen von Gessner (Daphnis und Micon), Goethe (Der Wandrer) und André Chénier (La liberté)

III. Sektion: Die europäische Aufklärung in Trogen
Moderation: Livia Knüsel

Anett Lütteken (Bern): »Einladung aufs Land« – Facetten europäischer Landschaftsdichtungen im Werk Ewald Christian von Kleists

Bärbel Schnegg (Trogen): Der Briefwechsel zwischen Laurenz Zellweger und Johann Jakob Scheuchzer. Zur Dynamik eines Alpendiskurses im Innern

Marlis Stähli (Zürich): Kulturaustausch in Briefen: Laurenz Zellweger an Bodmer/Breitinger und weitere Zürcher nach den Quellen in der Zentralbibliothek

Alfred Messerli (Zürich): Illustrationen/Holzschnitte des Appenzeller Kalenders (1723–1800) bezogen auf Europa

IV. Sektion: Zu Gast in der Schweiz
Moderation: Maya Zellweger

Laura Benzi (München) Klopstock auf dem Zürchersee

Benedikt Jeßing (Bochum): Werthers Briefe aus der Schweiz (1796)

Gernot Gruber (Wien): Salomon Gessner empfängt den jungen Mozart

Klaus Manger (Jena): »vierzehn glückliche Tage in der förenen Hütte« – Wieland in der Schweiz