Untergrundkommunikation. Spione, Räuber, Freidenker und Separatisten

Untergrundkommunikation. Spione, Räuber, Freidenker und Separatisten

Organisatoren
Graduiertenschule „Untergrundkommunikation 1600 – 1800. Heterodoxie, Dissidenz und Subversion“
Ort
Gotha
Land
Deutschland
Vom - Bis
28.05.2009 - 29.05.2009
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Von
Michael Multhammer / Andrew McKenzie-McHarg, Forschungszentrum Gotha für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt

Am 28. und 29. Mai 2009 fand am Forschungszentrum Gotha für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt ein Workshop zum Thema „Untergrundkommunikation. Spione, Räuber, Freidenker und Separatisten“ statt. Den Rahmen der Veranstaltung bildete dabei die neu gegründete Graduiertenschule „Untergrundkommunikation 1600 – 1800. Heterodoxie, Dissidenz und Subversion“ in Gotha unter der Leitung von Martin Mulsow.1

Das erklärte Ziel des Workshops war es, anhand von Einzelfällen aus der Sicht verschiedenster Disziplinen, der Philosophiegeschichte, Literaturwissenschaft, Theologie und Geschichtswissenschaft, mit Kollegen ins Gespräch zu kommen, und mögliche Zugangsweisen zu im Untergrund kommunizierten Gedanken und den dazugehörigen, oftmals schwer nachzuvollziehenden, Lebensläufen zu erörtern.

MARTIN MULSOW (Erfurt/Gotha) erläuterte in seinem kurzen Eröffnungsvortrag, wie es zu der „zugegeben, etwas ungewöhnlichen Aufforderung“ an die Teilnehmer des Workshops kam, sie sollen die „wildeste“ der ihnen bekannten Geschichten aus dem Untergrund der Frühen Neuzeit erzählen. „Fröhliche Wissenschaft“ war dabei das erste Stichwort, nicht allerdings eine wie auch immer geartete „Untergrund-Romantik“. Die einzelnen Vorträge sollten dabei Möglichkeiten vorstellen, wie Geschichten aus dem Bereich des Untergrunds „erzählt und inszeniert“ (was passierte wirklich?), Spannungen zwischen Untergrund und Oberfläche dargestellt werden können und welche Konsequenzen sich aus den einzelnen Geschichten für die Bedingungen einer Geschichtsschreibung eben dieser ergeben. Auf Rückgriffe auf Sekundärliteratur sollte dabei weitestgehend verzichtet werden, die „Geschichten“ sollten für sich sprechen. Lässt sich aus den einzelnen Beiträgen zu clandestinen Schriften und Lebensläufen eine „Map of the Underground“ (Robert Darnton) skizzieren? Wie funktionierte diese „Kommunikation unter Abwesenden“, wie muss man sich eine „Kunst des Verbergens“ vorstellen? Mit diesen Leitfragen wurde der Workshop eröffnet.

Der erste Vortrag, gehalten von MARTIN SCHMEISSER (München), stellte sogleich clandestines Schriftgut der späten französischen Aufklärung in den Mittelpunkt. Ausgehend vom Geheimbundwesen im Frankreich der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Allgemeinen erläuterte Martin Schmeisser Darstellungen geheimer Gesellschaften in der fiktionalen Literatur der Zeit. Besonderes Augenmerk wurde dabei auf die erotische Literatur, insbesondere den „roman libertin“, gelegt. Anhand dreier Beispiele (Pidesant de Mairobert, Marquis de Sade und Andréa de Nerciat) wurde sowohl die Darstellung von Geheimbünden in der Literatur als auch ihre Funktion im Hinblick auf die Kommunikation subversiven philosophischen Gedankenguts erläutert. In allen drei Beispielen fungieren die hierarchischen Ordnungen der Geheimgesellschaften als Gestaltungsprinzip des Genres und laufen dem propagierten egalitären Verständnis, wollte man sie denn als Kritik der absolutistischen Herrschaftsverhältnisse ansehen, geradezu entgegen, so Schmeisser. Dieser performative Widerspruch, wie er in der erotischen oder pornographischen Unterhaltungsliteratur der späten Aufklärung angelegt ist, lässt zwei Schlussfolgerungen zu: zum einen, dass diese Form der Unterhaltungsliteratur tatsächlich wenig bis keine politischen Implikationen enthält, oder aber zum anderen, dass die aufgenommenen Strukturen aufklärerischer Geheimbünde mit ihrem eingeforderten Egalitarismus persifliert werden. Um diese beiden Punkte entspann sich anschließend die Diskussion.

HERMANN STOCKINGER (Wien) erzählte vom unsteten Leben des Grafen-Pascha Alexandre Bonneval, der als Militär in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts mehrere Seitenwechsel zwischen europäischen Mächten vollzog, bevor er schließlich Unterschlupf bei der Hohen Pforte fand. In dem Maße, in dem sich seit dem 17. Jahrhundert die alte Berechenbarkeit der auf Religion oder Konfessionen beruhenden Allianzen auflöste und in dem der christliche Moralkodex seine Verbindlichkeit für politisches Handeln einbüßte, wurde Information zu einer begehrten, ja überlebensnotwendigen Ware. Die Beschaffung von Informationen wurde institutionalisiert und ließ Geheimdiplomatie in größerem Ausmaß entstehen, als ein Untergrund der offiziell gepflegten staatlichen Außenbeziehungen. Dieser Untergrund bot wiederum äußerst günstige Entfaltungsbedingungen für eine neue Art Abenteurertum, dessen Logik das Leben des Grafen Bonneval exemplarisch demonstriert, wie der Referent darlegte. Diese Logik nimmt sich aus wie eine auf die individuelle Biographie übertragene Staatsräson. Alte religiöse oder konfessionelle Loyalitäten werden dem Überlebenswillen und der eigenen Karrierebeförderung rücksichtslos untergeordnet – drei Jahren nach seiner Ankunft im osmanischen Reich konvertiert Bonneval zum Islam. Die Kenntnisse, die man bei der Einstellung im Staatsdienst einer Macht gewann, bot man feil an jene Macht, die den Schutz des Lebens und beruflichen Aufstieg am überzeugendsten in Aussicht stellte. Auf diese Art überlebte Bonneval mehrere Attentatsversuche, die von Venedig und Wien ausgingen und nahm eine wichtige Beratungsfunktion im ottomanischen Heer wahr.

Militärische Kenntnisse waren aber nicht die einzige Ware, die über die verschlungenen Wege der Geheimdiplomatie zirkulierte. In seinem Beitrag legte ALEXANDER SCHUNKA (Stuttgart) die Rolle dar, die ungarischer Wein zu spielen vermochte, der im frühen 18. Jahrhundert in der diplomatischen Kommunikation als Bestechungsmittel in reichlichen Mengen floss. Nach der habsburgischen Unterdrückung des ungarischen Aufstands im Jahre 1711 nahm sich der Berliner Hofprediger Jablonski der ungarischen Sache an, da man sich von ihr die Entstehung eines protestantischen Bündnisses versprach, das sich gegen die kaiserliche Macht richtete. Angesichts des katholischen Bekenntnisses seitens der ungarischen Führer des Aufstands war deren vermeintlich protestantischer Charakter weitgehend Wunschdenken. So lässt sich die allgemeine Herabwertung konfessioneller Gesichtspunkte dadurch dokumentieren, dass, wo konfessionelle Loyalität als Beweggrund nicht länger ausreichte, mit Tokaier Wein aus Ungarn nachgeholfen werden musste, wie Schunka zu berichten wusste. In eben jener Situation erspähte ein gewisser Johann Michael Clement seine Chance. Gemeinsam mit Jablonski trat er für die Ungarn ein. 1718 erhöhte er die Einsätze in der Mobilisierung von Unterstützung für Ungarn, indem er das Gerücht eines Komplotts streute, dessen Ziel die Entführung des preußischen Königs und die Plünderung des Staatsschatzes war. Es stellte sich später heraus, dass Clement sein Talent für Betrug bereits an anderen europäischen Höfen erprobt hatte. Der Betrug flog auf und der Sog des Skandals zog das Verhör mehrerer Beamter und die Amtsenthebung Jablonskis nach sich. Clement wurde schließlich hingerichtet und hinterließ der Nachwelt das Rätsel seiner eigentlichen Motivationen hinter seinem Handeln.

Gelegentlich gelingt es doch, kohärente Thesen zur Entschlüsselung der Motivgrundlage zu entwickeln, wie ANSELM SCHUBERT (Berlin) in seinem Vortrag über den Messiasprätendenten David Reubini demonstrierte. Reubini tauchte als ein völlig Unbekannter zum ersten Mal 1523 in Venedig auf und stellte sich als jüdischer Prinz vor, dessen Bruder als jüdischer König von Arabien den verlorenen Stämmen Israels vorsteht. Tatsächlich schaffte er es nach einigen Umwegen, eine Audienz beim Papst zu erhalten. In dieser versuchte er den Papst zu einer Friedensinitiative in den konfliktreichen Beziehungen zwischen Karl V. und Franz I. von Frankreich zu bewegen. Dieses Bündnis sollte dann Voraussetzung für einen Kreuzzug gegen die Türken werden. In den folgenden Jahren sollte Reubini durchaus als ein Betrüger und Abenteurer entlarvt werden, dennoch entbehrte weder sein Auftreten, noch sein Gebaren einer gewissen inneren Logik, wie Schubert zeigen konnte; dass der Werbung um Unterstützung für diese Mission eine gewisse Konsequenz zukam, sobald man sein Handeln aus der Perspektive der jüdischen Eschatologie interpretiert, wurde bisher in der Forschung nicht wahrgenommen. Die Vorstellung eines ersten Messias, der dem zweiten den Weg bereitete, indem er einen Endkampf zwischen den Ungeheuern des Leviathan und des Behemoth, also zwischen Christentum und Islam einfädelte, erlaubte es Reubini, so legte Schubert dar, zumindest vor sich selbst glaubhaft zu sein, was seinem Auftreten offensichtlich nur genützt hat.

Was muss geschehen, dass man an einem güldenen Galgen aufgeknüpft wird oder eben auch nicht? Dieser Frage ging DIETRICH KLEIN (München) nach und eröffnete den folgenden Tag mit einem Vortrag zu den Lebensgeschichten zweier Alchemisten des ausgehenden 17. Jahrhunderts, deren Lebenswege sich an neuralgischer Stelle kreuzten. Johann Konrad Dippel war der eine, stets bemüht seinen alchemistischen Studien ein wissenschaftliches Fundament zu geben, grenzte er sich schon von Beginn an von Scharlatanerien ab, Alchemie war ihm Zeit seines Lebens keine „bloße Goldmacherei“, sondern eine intime Verbindung aus Spiritualismus und Medizin. Geradezu konträr in seinem Selbstverständnis befindet sich der Graf Cajetano, er „erarbeitete“ sich den zweifelhaften Ruhm einer der größten und meist gesuchten Betrüger des beginnenden 18. Jahrhunderts zu sein. Als es in Berlin 1708 zum Prozess gegen den nun von allen Seiten übel beleumdeten Cajetano kam, war es Dippel, der als Gutachter mit hinzugezogen wurde. Warum der um seine wissenschaftlich fundierte Alchemie so besorgte Dippel seinen „Kollegen“ allerdings über weite Strecken deckte, und nicht gegen ihn Stellung bezog, bleibt ein Rätsel, wie Klein betonte. Weniger unklar bleibt hingegen, warum Cajetono, wenngleich als Betrüger europaweit bekannt, sich trotzdem am preußischen Hof etablieren konnte: Informationen über Personen waren immer spärlich und blieben vorläufig. Und manchmal ließ die Neugierde alle Vorsicht bei Seite treten.

Die letzte „wilde Geschichte“ zu erzählen blieb JOHANNES BRONISCH (Berlin/Leipzig) vorbehalten, der mit seinem Thema auch chronologisch den Abschluss bildete: „Untergrund und öffentliche Debatte. Johann Conrad Franz von Hatzfeld und die Wolffianer 1742-1747.“ Besagter von Hatzfeld ist heutzutage, auch unter Aufklärungsforschern, weitestgehend unbekannt. Das kann allerdings kaum verwundern, wenn man bedenkt, dass sein radikal religionskritisches Hauptwerk „La découverte de la verité, et le monde detrompé [...]“, erschienen 1745 in Den Haag, nur vier Tage nach der Veröffentlichung verboten wurde und beinahe alle Exemplare verbrannt wurden, lediglich drei Ausgaben sind heute noch nachweisbar. Soweit wäre das ein Fall unter vielen in der Zeit, ihre eigene Brisanz erhält die Geschichte erst in dem Moment, da der Bezug zu einem der bedeutendsten Philosophen der Zeit, Christian Wolff, erkenntlich wird. Nachdem von Hatzfeld bereits in den 1720er-Jahren in London versucht hatte sich einen Namen mit kritischen Schriften gegen Newton und Descartes zu machen, erfüllte sich 1741 der lang gehegte Wunsch mit Christian Wolff und seiner Schule in Berührung zu kommen. Wolff, in diesen Jahren ein wenig ins wissenschaftspolitische Abseits geraten, wiederum erhoffte sich von Hatzfeld publizistische Unterstützung im Monadenstreit und subskribiert Hatzfelds Werk, allerdings nicht ahnend, dass ein Eklat bevorstehen würde. Einmal mit von Hatzfeld in Berührung gekommen, konnte dessen gefährliches Werk, in dessen Entstehungsgeschichte die Wolffianer verwickelt waren, nicht einfach stillschweigend übergangen werden, sondern verlangte eine Stellungnahme. Auch hier waren die Erwartungshaltung einerseits und die Motivation andererseits so konträr, dass man konstatieren kann, dass die Wolffianer noch mit einem blauen Auge „davongekommen“ sind; Hatzfeld hingegen wird zur Kuriosität, und als solche sogar an den Gothaer Hof eingeladen.

Die abschließende Diskussion widmete sich der Frage, was diese „wilden Geschichten“ denn eigentlich vereine, und ob es grundlegende Momente gäbe, die das weite Feld des „Untergrunds“ durchziehen sowie strukturieren und somit überhaupt erst vergleichbar machen. Als auffälligstes gemeinsames Merkmal all der vorgestellten Fälle wurde die Kategorie der Glaubwürdigkeit, und damit einhergehend natürlich auch der Unglaubwürdigkeit festgestellt. Wie haben es alle diese Spione, Betrüger, Alchemisten und Scharlatane eigentlich zu Stande gebracht, sich in den Hierarchien der Höfe und besseren Gesellschaften zu weit nach oben vorzuarbeiten. Zur Beantwortung der Frage wurden mehrere Vorschläge gemacht: Dreistigkeit; der Umstand, dass die meisten Protagonisten sprichwörtlich nichts mehr zu verlieren hatten oder auch Sensationsgier seitens der Höfe. Als Bedingung der Möglichkeit für diese teilweise aus heutiger Sicht offensichtlichen Betrügereien wurde ein allgemeines Informationsdefizit identifiziert. Martin Mulsow beschrieb es mit dem Ausdruck „fehlende Qualitätssicherung“. Glaubwürdigkeit gegenüber Personen, durchaus auch suspekten, war, zumindest solange keine detaillierteren Informationen vorlagen, scheinbar Usus. Erzeugung von Glaubwürdigkeit war daher die Aufgabe beider Seiten, der Schwindel flog immer erst dann auf, wenn der Betrüger seine Position nicht mehr glaubhaft halten konnte, aber in den meisten Fällen bedurfte dies eines hohen Aufwands, und vor allem Zeit.2 Konsens unter den Teilnehmern war, dass sich das Forschungsinteresse primär auf Kommunikationswege und -strukturen richten sollte, will man verstehen können, wie Scharlatane, Räuber, Spione und in geringerem Maße auch Freidenker ihre Ziele verfolgten, und unter günstigen Umständen auch erreicht haben.

Konferenzübersicht:

Martin Mulsow (Forschungszentrum Gotha/Erfurt): Begrüßung und Einführung. Vom Wert wilder Geschichten.

Martin Schmeisser (LMU München): Erotische Geheimgesellschaften in der fiktionalen Literatur des ausgehenden Siècle des Lumières: Pidesant de Mairobert, Marquis de Sade und Andréa de Nerciat.

Hermann Stockinger (Wien): Die Ermordungspläne des Grafen-Pascha Bonneval

Dietrich Klein (LMU München): Alchemistische Charlatanerien um 1700: Johann Konrad Dippel und der Graf Cajetano.

Anselm Schubert (Berlin/ Georg-August-Universität Göttingen): Der Messiasprätendent David Reubeni.

Alexander Schunka (Universität Stuttgart): Abwege eines Hofpredigers. Wie Wein und falsche Freunde ins Gefängnis führen.

Johannes Bronisch (Leipzig): Untergrund und öffentliche Debatte. Johann Conrad Franz von Hatzfeld und die Wolffianer 1742 – 1747.

Anmerkungen:
1 Seit 1. April 2009 existiert die Graduiertenschule „Untergrundkommunikation 1600 – 1800. Heterodoxie, Dissidenz und Subversion“ als Teil des Graduiertenkollegs „Religion in Modernisierungsprozessen“ der Universität Erfurt. Für nähere Informationen zu Zielsetzungen und Mitgliedern siehe <http://www.uni-erfurt.de/forschungszentrum-gotha/> (16.07.2009). Alle Mitglieder der Graduiertenschule waren bei der Tagung anwesend.
2 Michael Multhammer (Forschungszentrum Gotha) brachte den Begriff der „synthetischen Glaubwürdigkeit“ ins Spiel, der den beiderseitigen Konstruktionscharakter unterstreichen sollte.


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