Kulturelle Zentren der Frühen Neuzeit. Arbeitsgespräch des Handbuchprojekts 'Kulturelle Zentren der Frühen Neuzeit'

Kulturelle Zentren der Frühen Neuzeit. Arbeitsgespräch des Handbuchprojekts 'Kulturelle Zentren der Frühen Neuzeit'

Organisatoren
Handbuch Kulturelle Zentren der Frühen Neuzeit; Interdisziplinäres Institut für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit Universität Osnabrück
Ort
Osnabrück
Land
Deutschland
Vom - Bis
24.04.2009 - 25.04.2009
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Von
Claudius Sittig, Interdisziplinäres Institut für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit, Universität Osnabrück

Die große Bedeutung lokaler Zentren für die Kulturgeschichte des Alten Reiches ist sowohl von den historischen Zeitgenossen als auch von der späteren Forschung immer wieder registriert worden. Man hat oft auf die Vielzahl der politischen Territorien und die föderale Verfassung hingewiesen und von einer charakteristischen ‚Polyzentralität’ gesprochen. Darüber hinaus erscheint das Reich auch in wirtschaftlicher, konfessioneller und kultureller Hinsicht als heterogener Raum mit einer Vielzahl von Zentren. Die Zeitgenossen haben diesen Zustand nicht ausschließlich als Mangel wahrgenommen, denn man konnte, etwa mit Blick auf die vervielfachten Beschäftigungsoptionen, durchaus auch von einem Vorzug sprechen. In jedem Fall gilt die Feststellung, dass die Kulturgeschichte des frühneuzeitlichen Reiches unter diesen spezifischen Bedingungen einen charakteristischen Verlauf genommen hat. Interdisziplinäre Perspektiven auf die Zusammenhänge von Kultur und Zentralität in der Frühen Neuzeit standen am 24. und 25. April im Mittelpunkt eines Arbeitsgesprächs am Interdisziplinären Institut für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit (IKFN) der Universität Osnabrück. Die Veranstaltung diente zugleich auch der Vorbereitung eines Handbuchs der „Kulturellen Zentren der Frühen Neuzeit“, das derzeit unter Federführung von Prof. Dr. Wolfgang Adam und Prof. Dr. Siegrid Westphal am IKFN entsteht und in drei Bänden etwa 60 Orte des Alten Reiches von Augsburg bis Würzburg in ihrer Funktion als kulturelle Zentren vorstellen wird. Unter den 35 Teilnehmern der Tagung waren neben den Vortragenden auch viele Autorinnen und Autoren der einzelnen Beiträge.

Nach einer Begrüßung durch die beiden Herausgeber des Handbuchs führte CLAUDIUS SITTIG (Osnabrück) in die Thematik der Tagung ein. Am Anfang stand der Versuch, einen differenzierten Begriff von ‚kultureller Zentralität’ zu entwickeln: Zentren selbst sind keine isolierten Gebilde, sondern sie stehen immer in einer komplexen und dynamischen Relation zu einem umliegenden Raum. Die Aussagen über ein Zentrum hängen darum in vielfacher Hinsicht von der gewählten Untersuchungsperspektive und vom Beobachtungsmaßstab ab. ‚Zentralität’ ist mithin auch kein statischer, sondern ein variabler Zustand, der sich immer nur in graduellen Abstufungen beschreiben lässt. Die historische Perspektive erweitert den Begriff um eine weitere Dimension der Variabilität: Orte können sich durch das Zusammenwirken verschiedener Faktoren zu Zentren entwickeln, dieser Status kann aber auch im Vergleich mit anderen Orten auch wieder verloren gehen. Die Betrachtung von ‚kulturellen Zentren’ steht außerdem vor dem besonderen Problem, dass sich der Zentralitätsstatus auf dem Feld der Kultur, anders als auf dem politischen, wirtschaftlichen oder religiösen Feld, nicht ebenso prägnant an spezifischen Institutionen oder messbaren Kapitalakkumulationen festmachen lässt. Während der erste Teil der Einführung also exemplarisch die Probleme thematisierte, die aus der Komplexität des Untersuchungsgegenstands erwachsen, betonte der zweite Teil des Vortrags das außergewöhnlich hohe Erkenntnispotenzial von entsprechend differenzierten kulturgeschichtlichen Untersuchungen: Kulturelle Zentren sind diejenigen Orte, an denen sich ‚Kultur’ paradigmatisch in Aktion beobachten lässt; Orte der Verdichtung von Kommunikation und Interaktion; Orte, an denen Traditionen ausgebildet und gepflegt werden, aber gleichzeitig auch ‚Möglichkeitsräume’ für Innovationen. Abschließend stand die Frage nach einer angemessenen Bestimmung von kultureller Zentralität im Mittelpunkt: Brauchbar erscheint vor allem eine offene Definition, die etwa mit dem Begriffspaar der Anziehungs- und Ausstrahlungskraft im kulturellen Feld operieren könnte. Neben den externen Effekten von kultureller Zentralität, die sich damit fassen lassen, müssten darüber hinaus komplementär auch die internen Strukturen und Prozesse (etwa mit dem Instrumentarium der Diskurs- und Habitusanalyse) in den Blick genommen werden, um ‚Kultur’ unter den je spezifischen Bedingungen von Zentralität beschreiben zu können.

Im Mittelpunkt der ersten Sektion stand das Wissen von den frühneuzeitlichen Residenzen, die vielfach wichtige Funktionen als kulturelle Zentren erfüllten. VOLKER BAUER (Wolfenbüttel) betonte in seinem Vortrag die Medialität der höfischen Gesellschaft der Frühen Neuzeit in der zeitgenössischen Hofpublizistik. Er führte vor, wie das auf Performanz und lokale Präsenz angelegte Zeremoniell bei Hof im Distanzmedium des Druckes memorierbar und kommunizierbar gemacht wurde. Am Beispiel von zeitgenössischen Festbeschreibungen, Staatskalendern und genealogischen Werken zeigte er, wie Fragen des Decorums mit Hilfe von Format, Typographie und graphischer Gestaltung in den Druck überführt wurden. Dabei ließe sich in der Konkurrenz unter den Höfen neben der Aushandlung von repräsentativen Mindeststandards immer wieder auch ein Zug zur Prestigeprätention beobachten. Die Darstellungen seien oft idealisiert und hätten nur einen geringen Rückhalt in der Realität gefunden. Neben diesen Distanzmedien erster Ordnung, deren Herstellung noch von den Höfen kontrolliert wurde, entstanden in der Frühen Neuzeit zunehmend auch Kompilationen (z.B. Generalgenealogien), die von einzelnen Verlegern herausgegeben wurden und eine vergleichende direkte Gegenüberstellung der verschiedenen Residenzkulturen oder Dynastien – und damit zugleich auch eine relativierende und kritische Beurteilung – begünstigten.

Im zweiten Vortrag der Sektion fragte PETER-MICHAEL HAHN (Potsdam) exemplarisch nach dem Bild der Berliner Residenz im Spiegel der frühneuzeitlichen Überlieferung. Leitend war die Frage, welche Informationsquellen einem Höfling um 1700 potenziell zur Verfügung standen und welchen Eindruck sie vermittelten. Hahns Antwort auf die erste Frage fiel skeptisch aus: Es habe nur wenige Dokumente gegeben, die tatsächlich über die Berliner Residenz berichteten. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts habe der Nordosten des Reiches überdies nicht zum Reiseprogramm des adeligen ‚Grand Tour’ gehört, sodass man weder mit einer aussagekräftigen Reiseliteratur, noch mit einem breiten Grundwissen der Zeitgenossen aus eigener Anschauung rechnen könne. In den wenigen Fällen, in denen hochrangige Gäste die Hohenzollern-Residenz auf einer Reise besuchten, zeigen die Aufzeichnungen, dass sie ihr nur geringe Aufmerksamkeit schenkten. Das fragmentarische zeitgenössische Bild von der Residenz, das Hahn aus den verstreuten Nachrichten in diversen Quellen zusammensetzte, zeigt dagegen wiederum den Zug zur Idealisierung (etwa im Thesaurus Brandenburgicus aus dem Jahr 1696) und eine spezifische Zeitverschiebung in der Mitteilung (am Beispiel der Messrelationen konnte Hahn zeigen, dass sie in der Regel zum Zeitpunkt ihres Erscheinens einen Zustand dokumentieren, der in der Vergangenheit liegt). Erst die zeitgenössischen Zeitungen berichteten zeitnäher über die Ereignisse am Berliner Hof.

Die zweite Sektion war kunstgeschichtlichen Fragestellungen gewidmet. MARINA DMITRIEVA (Leipzig) betrachtete in kunstgeographischer Perspektive exemplarisch die Rolle von Buda, Krakau und Lublin als Kunstzentren im östlichen Mitteleuropa der Frühen Neuzeit. Ausgehend von Thomas DaCosta Kaufmanns Definition, dass in Kunstzentren kulturelle Paradigmen geprägt würden, und basierend auf den Überlegungen von Enrico Castelnuovo und Carlo Ginzburg zu Fragen von Zentrum und Peripherie stellte sie zunächst Kriterien vor, anhand derer sich Kunstzentren identifizieren und beschreiben lassen (große Zahl von Künstlern, Akkumulation von Macht und ökonomischem Kapital, Institutionen, Publikum). Anschließend arbeitete sie vor allem an Beispielen aus der Architekturgeschichte die Rolle von Buda und Krakau als wichtigen ostmitteleuropäischen Kunstzentren heraus. In Buda war es Matthias Corvinus, der in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts mit Hilfe von angeworbenen italienischen Künstlern einen Formenkanon der repräsentativen Architektur etablierte, der in Rom oder Urbino entwickelt worden war. Sein Nachfolger Vladislav II., der ebenfalls in Buda residierte, führte die Tradition weiter. Das ungarische Vorbild spielte anschließend, vermittelt über verschiedene Kanäle, eine bedeutende Rolle für die Aufnahme italienischer Architekturformen auch in Krakau. Dmitrieva verwies dabei auf den engen Zusammenhang von Transfer und Transformation: Während in vielen Fällen aktuelle Tendenzen der zeitgenössischen italienischen Kunst in Polen nur mit geringer Verzögerung aufgenommen wurden, zeigte sie am Beispiel der umfangreichen polnischen Produktion von Grabmälern des aus Italien importierten, dort aber bereits aus der Mode gekommenen Sansovino-Typus – ausgehend von Sigismunds I. Grabmal in der Sigismund-Kapelle – dass die Entwicklung in anderen Bereichen entkoppelt war. Ein knapper Blick auf die ebenfalls italienisch geprägte, bescheidenere Kunstproduktion in Lublin um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert zeigte im Vergleich noch einmal die Unterschiede zwischen den Zentren und ihre verschiedene Integrations- und stilbildende Ausstrahlungskraft, die eng mit der jeweiligen Funktion als politische Residenz zusammenhängt.

MATTHIAS MÜLLER (Mainz) diskutierte in seinem Beitrag über „Konkurrierende Modelle künstlerischer Zentralität im frühneuzeitlichen Europa“ die Angemessenheit des Begriffs „Zentralität“ zur Beschreibung von höfischer und städtischer Kunstproduktion. Er unterschied als Kriterien die Zentralisierung von künstlerischer Produktion (etwa in den Tapisseriewerkstätten in Brüssel), stilbildende Prozesse (etwa die Behandlung von Licht und Farbe in der venezianischen Malerei) und Innovationskraft (etwa mit Blick auf das Beispiel Nürnbergs in der Frühen Neuzeit). Die Bindungen von Künstlern an ein Zentrum hatten dabei einen unterschiedlichen Grad von Dauer und Exklusivität. Besonders deutlich wird eine enge Bindung etwa am Beispiel von Mantegnas Arbeiten für den Hof der Gonzaga in Mantua oder an Cranachs Verhältnis zum Wittenberger Kurfürsten. An der Entstehung des Kenotaphs für Kaiser Maximilian I. in der Innsbrucker Hofkirche im Rahmen des umfassenden ‚Gedechtnus’-Projekts lässt sich dagegen zeigen, dass damit für einen begrenzten Zeitraum in der Zusammenarbeit von Historiographen, Antiquaren, Entwurfszeichnern, Bronzegießern und anderen Künstlern und Handwerkern ein weithin sichtbares, aber nur temporäres kulturelles Zentrum entsteht. Während man dabei eher von einem hochkomplexen Produktionszentrum an einem Ort sprechen kann, zeigt das Beispiel Burgunds in der Frühen Neuzeit, dass die Produktion von Waren und Artefakten dezentral in Brüssel, Ghent, Brügge oder Tournai organisiert war und dass der Hof selbst eher als ein räumlich entferntes Zentrum des Konsums beschrieben werden kann. Der Blick auf die unterschiedlichen Strukturen von Bindung und Disponibilität schärft dabei zugleich den Blick für unterschiedliche Prozesse der Normierung und des Transfers, damit auch auf Interferenzen zwischen ‚bürgerlicher’ und ‚höfischer’ Kunst, wie Müller am Beispiel der Wahl von Portraitkonventionen und Stilmodi in Bernhard Strigels Diptychon für Cuspinian zeigen konnte.

Die dritte Sektion fokussierte auf die Bedeutung der Städte als kulturelle Zentren in der Frühen Neuzeit. Als Zentren der ‚Unterhaltungskultur’ standen sie im Mittelpunkt des Vortrags von ULRICH ROSSEAUX (Dresden). Er skizzierte in einem knappen Abriss drei große Entwicklungsschritte: In der ersten Phase beobachtete er einen Strukturwandel von einer korporativen Unterhaltungskultur, die an feste Räumlichkeiten und Zeitrhythmen gebunden gewesen sei und die verbindliche Teilnahme für die männlichen Mitgliedern bestimmter sozialer Teilgruppen reserviert habe, hin zu einer kommerzialisierten Unterhaltungskultur, die ein breiteres Publikum ansprach. Damit einher sei eine Ausdifferenzierung der Formen des Vergnügens gegangen, das Unterhaltungsangebot habe zunehmend den Charakter einer Dienstleistung erhalten. In der zweiten Phase ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts beobachtete Rosseaux am Beispiel professioneller Wandertheater ein quantitatives Wachstum sowie eine weitere Ausdifferenzierung des Angebots: So erhielten etwa die englischen Schauspielgruppen zunehmend Konkurrenz von deutschen Gruppen, der Fundus der wissenschaftlichen Darstellungsformen und Experimente sei als Lieferant für neue Attraktionen entdeckt worden (Ballonflüge, Panoramen, Wachsfigurenkabinette). In der dritten Phase konstatierte Rosseaux schließlich eine Verstetigung und ‚Veralltäglichung’ städtischer Unterhaltung. Die Wandertheater hätten sich vom Konzessionierungszwang befreit, und die stehenden Theater an kultureller Bedeutung gewonnen. Die Loslösung von Jahrmarktsterminen habe zur Einrichtung eines Saisonbetriebs geführt Kulturelle Unterhaltung sei in den frühneuzeitlichen Städten spätestens im 18. Jahrhundert eng mit dem Gedanken der Urbanität verknüpft gewesen.

Im zweiten Teil der Sektion entwarf RAINGARD ESSER (Bristol/Antwerpen) exemplarisch zwei Perspektiven auf Antwerpens Rolle als kulturelles Zentrum in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts: Anhand von zeitgenössischen Reiseberichte und historiographischen Bewertungen bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts zeigte sie, wie sich – vor allem im Kontrast zum Aufstieg Amsterdams – für Antwerpen die Diagnose des Bedeutungsverfalls seit 1585 in der Rede von einem „Unglücksjahrhundert“ verdichtet. Dieses ältere Niedergangsnarrativ, das in größere Erzählungen von der Krise des 17. Jahrhunderts eingebunden war, sei als Erklärungsmuster in der Forschung vor allem seit den 1990er Jahren kritisch hinterfragt worden, nicht zufällig zeitgleich mit der Emanzipationsbewegung der flämischen Belgier aus dem Schatten der Wallonen. Im Anschluss daran schlug Esser eine Umkehrung der Perspektive vor: Antwerpens kulturelle Bedeutung sei nicht in erster Linie im Vergleich mit Amsterdam zu ermessen, sondern eher mit Blick auf das spanische Imperium. Unter diesem Blickwinkel, so konnte Esser zeigen, lassen sich weniger Verfallserscheinungen beobachten als eine ungebrochen große Bedeutung als Druck- und Verlagszentrum insbesondere auf dem Feld liturgischer Publikationen. Ähnlich zentral war Antwerpen als Ort innerhalb jesuitischer Netzwerke als den wichtigsten Trägern der wissenschaftlichen Kommunikation in der katholischen Welt. Diese Transferwege in den katholischen Raum gelten schließlich auch auf dem Feld der Kunst, und auch der calvinistische Bildersturm der Jahre 1577 führte nur zu einer vorübergehenden Krise – die religiösen Bilder und Skulpturen wurden anschließend so flächendeckend ersetzt, dass sich die Zahl der Maler in der Stadt wegen der hohen Nachfrage verdoppelte.

Die abschließende Sektion der Tagung war der Vorstellung von drei aktuellen Forschungsprojekten gewidmet. Zunächst skizzierte ANNA KATHRIN BLEULER (München) die Umrisse eines umfangreichen literaturwissenschaftlichen Projekts, das im Rahmen des Münchner Sonderforschungsbereichs 573 „Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit“ die vielgestaltigen frühen Prozesse der Profilierung des Deutschen als Literatursprache vor Opitz untersuchen wird. Eine zentrale Rolle spielen dabei als Bezugsgrößen der lateinische Humanismus und die Literaturen in anderen europäischen Volkssprachen, an denen die literarische Qualität des Deutschen regelmäßig in überbietender Absicht gemessen werde. Am Beispiel von Kaspar Scheits „Lobrede von wegen des Mayen“ (1551), in der eine solche Überlegenheit des Deutschen gegen andere Sprachen mit verschiedenen Argumenten programmatisch formuliert wird, zeigte Bleuler, dass sich entsprechende Prozesse der Profilierung häufig an zentralen Orten lokalisieren lassen, im konkreten Fall am Heidelberger Hof zur Regierungszeit des Kurfürsten Friedrich II., der Scheit explizit auf eine polyglotte poetische Diskussion verpflichtet hatte. Mit dem heuristischen Begriff des ‚Laboratoriums’ versuchte Bleuler, sowohl die Lokalisierbarkeit als auch die offene experimentelle Qualität der zu beobachtenden Innovationsprozesse ansprechbar zu machen. Die geplanten Untersuchungen werden sich auf die kulturellen Milieus an Fürstenhöfen und Druckeroffizinen konzentrieren, die als zwei wichtige Typen solcher ‚Laboratorien’ gelten können. Der räumliche Fokus des Forschungsvorhabens ist der südwestdeutsche Raum, als paradigmatische Beispiele stehen der Heidelberger Hof des Kurfürsten Friedrichs II. und die Straßburger Offizin von Bernhard Jobin im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.

Im Anschluss stellten THOMAS KOSSERT und MARINA STALLJOHANN (beide Osnabrück) ihre Dissertationsprojekte vor, die gegenwärtig im Umfeld des Handbuchprojekts entstehen und vor dem Hintergrund der Frage nach der jeweiligen Kulturellen Zentralität verschiedene Perspektiven auf die Städte Erfurt und Frankfurt am Main einnehmen. Thomas Kossert betonte in seinem Vortrag, dass Erfurt während des 30jährigen Krieges im Gegensatz zu vielen anderen Städten eine kulturelle Blüte erlebt habe. Nach dem Einzug der Schweden im Jahr 1631 nutzte der Rat der mehrheitlich protestantischen Stadt die Gunst der Stunde, um sich aus der Mainzer Oberherrschaft zu lösen. Unter anderem habe eine grundlegende Reform der Universität, finanziert durch konfiszierte Mainzer Kirchengüter, zu einem sprunghaften Anstieg der Immatrikulationen geführt. Insbesondere habe auch die besondere machtpolitische Konstellation nach dem Prager Frieden 1635 dazu beigetragen, dass die kulturelle Anziehungskraft der Stadt, begründet durch ihre Schutzfunktion, noch größer geworden sei: Erfurt wurde offiziell wieder von Mainz regiert, war seit 1636 von Schweden besetzt und hatte von Kursachsen eine erneuerte Schutzzusage erhalten hatte, sodass sie de facto für alle Kriegsparteien unantastbar gewesen sei. Im Unterschied zu dieser politisch-administrativen Perspektive fokussierte Marina Stalljohann in ihrem Vortrag über das frühneuzeitliche Frankfurt am Main als kulturelles Zentrum auf die Bedeutung der lokalen und überregionalen Wahrnehmung der Zeitgenossen. Neben der zu konstatierenden tatsächlichen politischen oder wirtschaftlichen Zentralität eines Ortes seien insbesondere für kulturelle Zentren auch Beschreibungsmodi und entsprechende Traditionsbildungen für das Bild eines Zentrums relevant. So lassen sich bis in das späte 18. Jahrhundert in Aussagen über die Stadt Frankfurt immer wieder Rückgriffe auf die dominanten Topoi beobachten, die bereits im humanistischen Städtelob entwickelt worden seien. Gleichzeitig sei der Diskurs aber zunehmend auch durch die Artikulation eigener Wahrnehmungen bzw. durch die Pluralisierung von Wahrnehmungsmustern geprägt. Der Blick auf die entstehenden Diskrepanzen führte zur Frage, welche Funktion die alten Topoi in späteren Zeiten gehabt haben und ob sich etwa in Krisenzeiten bestimmte Konjunkturen beobachten ließen.

Die Diskussionen während des Arbeitsgesprächs haben gezeigt, dass eine Untersuchung von kulturellen Zentren und von Kultur unter den Bedingungen von Zentralität kaum anders als in interdisziplinärer Perspektive gelingen kann. Viele Aspekte, die während der zwei Tage in Osnabrück zur Sprache kamen, werden auch die Beiträge im neuen Handbuch ‚Kulturelle Zentren der Frühen Neuzeit’ prägen. Gleichzeitig ist eine Publikation der Vorträge in einem Sammelband ist geplant, um die möglichen theoretischen Perspektiven auf den Gegenstand und die methodischen Ansätze zu seiner Erforschung gebündelt vorzustellen.

Konferenzübersicht:

Claudius Sittig (Osnabrück)
Kulturelle Zentren der Frühen Neuzeit – zur Einführung

Volker Bauer (Wolfenbüttel)
Die Dezentralität der höfischen Gesellschaft und die Medialität der Hofpublizistik im Alten Reich. Ein Problemaufriss

Peter-Michael Hahn (Potsdam)
Die Berliner Residenzlandschaft im Spiegel gedruckter ‚relationen’ und handgeschriebener Zeitungen 1688-1740

Marina Dmitrieva (Leipzig)
Kunstzentren im östlichen Europa. Überlegungen zu Fragen von Zentrum und Peripherie aus kunstgeographischer Perspektive

Matthias Müller (Mainz)
Künstler zwischen Hof und Stadt. Konkurrierende Modelle künstlerischer Zentralität im frühneuzeitlichen Europa

Ulrich Rosseaux (Dresden)
Urbanität und Vergnügen. Die Städte als Zentren der Unterhaltungskultur in der Frühen Neuzeit

Raingard Eßer (Bristol/Antwerpen)
Antwerpens „Altweibersommer“. Kultur in der Scheldestadt in der ersten Hälfte des
17. Jahrhunderts

Kathrin Bleuler (München)
Laboratorien der Volkssprachigkeit zur Zeit der Renaissance. Fürstenhöfe und Druckeroffizinen

Thomas Kossert, Marina Stalljohann (beide Osnabrück)
Werkstattberichte: Erfurt, Frankfurt am Main

Kontakt

Dr. des. Claudius Sittig
Kulturelle Zentren der Frühen Neuzeit
Interdisziplinäres Institut für
Kulturgeschichte der frühen Neuzeit
Universität Osnabrück
Neuer Graben 19/21
49074 Osnabrück
e-mail: claudius.sittig@uni-osnabrueck.de
Homepage: www.ikfn.uni-osnabrueck.de


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