Epoche im Widerspruch. Ideelle und kulturelle Umbrüche der Adenauerzeit. 25. Rhöndorfer Gespräch

Epoche im Widerspruch. Ideelle und kulturelle Umbrüche der Adenauerzeit. 25. Rhöndorfer Gespräch

Organisatoren
Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus
Ort
Bonn
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.03.2009 - 31.03.2009
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Von
Hans-Ludwig Buchholz, Universität Passau

Es gibt historische Epochen, die sich mit Klischees verbinden, denen auch durch differenzierte Forschung kaum beizukommen ist. So bezeichnen Historiker die Ära Adenauer seit längerem als Phase „aufgeregter Modernisierung“ (Hans-Peter Schwarz) bzw. einer „Modernisierung unter konservativen Auspizien“ (Christoph Kleßmann). In der öffentlichen Wahrnehmung haftet den 1950er-Jahren aber noch immer das Etikett einer Zeit geistiger Enge und der „Restauration“ an. Ob die Adenauer-Ära im Gegensatz dazu nicht viel eher als Epoche geistig-kulturellen Wandels verstanden werden könne, war die erkenntnisleitende Frage des 25. Rhöndorfer Gesprächs der Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus. In diesem Sinne führte Tagungsleiter MICHAEL HOCHGESCHWENDER (München) aus, dass jenseits des Bildes vom „Mief der 50er-Jahre“ die Aufmerksamkeit auf das „gesellschaftliche Umfeld“ und seine zukunftsweisenden Akzente zu lenken sei.

Die erste Sektion beschäftigte sich mit den weltanschaulichen Alternativen zum Gründungskonsens der Bundesrepublik. GEORG BOLLENBECK (Siegen) stellte in diesem Zusammenhang linke Kulturkritiker der Adenauerzeit am Beispiel Theodor Adornos und Max Horkheimers vor. Es sei verwunderlich, dass diese in die frühe Bundesrepublik remigriert seien – in einen ruinierten Staat, in dem „reaktionäre Stimmungen“, Verdrängung und die Last der jüngsten Vergangenheit vorherrschten. Noch verwunderlicher jedoch sei der Erfolg der linken Kulturkritik. Bollenbeck führte als Begründung für die Rückkehr Horkheimers und Adornos nicht nur ihre Sehnsucht nach der „geistigen Heimat Deutschland“ an, sondern auch das Verlangen nach einem herausragenden gesellschaftlichen Status. Zur Erklärung ihres Erfolges entwickelte er eine These, die im Plenum sowohl heftigen Widerspruch als auch Zustimmung fand: Adorno und Horkheimer hätten ihre Gesellschaftskritik abgedämpft und ihren Marxismus verschleiert. Die Kulturkritik sei dabei das wesentliche Medium eines „Undercover-Marxismus“ gewesen. Dessen Rezeption in der Öffentlichkeit hätte zwar das Zutrauen der Autoren in die junge Bundesrepublik nicht enttäuscht, jedoch auch ein Bild der deutschen Gesellschaft zur Folge gehabt, das dem der linken Kulturkritik eigentlich nicht entsprach.

In manchem daran anknüpfend entwickelte AXEL SCHILDT (Hamburg) seine Thesen zur Rolle der Protestbewegungen in der ausgehenden Adenauerzeit. Diese seien „Ausdruck, nicht Grund von beginnenden Veränderungen“ gewesen. Als Beispiele stellte Schildt die Anti-Atom-Tod-Bewegung und die öffentliche Reaktion auf die Spiegel-Affäre vor. Hiervon ausgehend schloss er auf einschneidende gesellschaftliche Veränderungen gegen Ende der Ära Adenauer: Zunehmender Wohlstand und Festigung der Bundesrepublik schufen die Rahmenbedingungen für die Genese größerer Protestbewegungen. Gleichzeitig verschob sich das Ursachenspektrum von sozioökonomischen zu ideellen und ethischen Motiven. Schildt hob die gewachsene Bedeutung der Massenmedien in dieser Zeit hervor. In diesem Sinne seien die Wurzeln der 68er-Bewegung schon gut ein Jahrzehnt früher zu suchen.

Auch DOMINIK GEPPERT (Berlin/Bonn) beschrieb die Adenauer-Zeit als Phase gesellschaftlicher Umbrüche. Seine Thesen entfaltete er am Beispiel des von Hans Werner Richter initiierten Grünwalder Kreises. Dieser sei gegründet worden, um den so empfundenen „Mief der 50er-Jahre“ zu lüften und eine unter der Regierung Adenauer befürchtete „Refaschisierung“ zu verhindern. Geppert sprach hier von einer „Stimmung irrationaler Angst“. Die Bedeutung des Kreises schätzte er auffallend höher ein als bisher in der Forschung üblich. Gerade in langen Linien gemessen hätte er einen bedeutenden Beitrag zum Bewusstseinswandel der anbrechenden 1960er-Jahre geleistet. Konkrete Beispiele dafür seien die Annäherung der Linksintellektuellen an die SPD, der schwindende Einfluss rechter Kreise und schließlich die Neue Ostpolitik – spätere Entwicklungen, die durch die Grünwalder mitbefördert wurden. Die Annäherungen der Mitglieder des Grünwalder Kreises an Ostintellektuelle und die darauf folgende Überwachung durch die DDR-Staatssicherheit wurden im Anschluss von MATTHIAS BRAUN (Berlin) in einem kurzen Einschub vertieft dargestellt.

Die zweite Sektion widmete sich der Ideenwelt des Konservatismus und stellte damit das Gegenstück zur vorangegangenen Thematik dar. MORTEN REITMAYER (Trier) setzte sich mit den Traditionen konservativen Elite-Denkens in der Adenauer-Ära auseinander. Gerade in der Anfangszeit der Bundesrepublik hätte sich in konservativen Kreisen die Klage über das Fehlen einer Elite – vor allem im Sinne einer „Charakter-Elite“ – bemerkbar gemacht. Als Vorreiter dieser Sichtweise fungierten nach Reitmayer die evangelischen Akademien und Teile der Unternehmerschaft. Sie hätten sich anfangs nicht mit der neuen Ordnung arrangieren können und auf die Etablierung einer Elite gehofft, die aufgrund ihrer persönlichen Fähigkeiten und ihrer sozialen Stellung zur Herrschaft legitimiert sei. Die daraus entstehenden antidemokratischen Forderungen wären auch von Teilen der CDU aufgenommen worden. Sie flauten jedoch mit der zunehmenden Einsicht ab, dass auch in der repräsentativen Demokratie konservative Politik betrieben werden könne.

Als Fallbeispiel für die konservative Sichtweise gab ALEXANDER GALLUS (Rostock) einen Überblick über Leben und Werk des austro-amerikanischen Publizisten William S. Schlamm. Dieser hätte eine drastische Wende vom Kommunismus in Richtung des „militant-konservativ antidemokratischen“ Denkens vollzogen – eine Transformation, die Gallus als Reaktion auf eine immer stärkere Linksorientierung der Gesellschaft deutete. Gegen Ende der 1950er-Jahre hätte der von autoritärem Gedankengut beeinflusste Schlamm aus antikommunistischem und „nonkonformistischem“ Antrieb sowie aus Sorge um das politische Erbe Adenauers sehr weit rechts stehende Forderungen gestellt, die im klassisch-konservativen Lager durchaus anschlussfähig gewesen seien. Mit seinen Forderungen nach weniger Nachlässigkeit gegenüber einer kommunistischen Bedrohung, atomarer Rüstung und Präventivkriegsmöglichkeit gegen die Sowjetunion sei er gerade in der Zeit einer großen deutschlandpolitischen Unsicherheit und vor dem Hintergrund der 2. Berlinkrise überraschend erfolgreich gewesen. Die breite Öffentlichkeit hätte seinen Thesen zwar eher skeptisch gegenübergestanden, jedoch sollte sein Einfluss und seine Repräsentativität für bestimmte Bevölkerungsgruppen nicht unterschätzt werden. Die langfristige Wirkung sei allerdings äußerst gering zu veranschlagen, da Schlamms Ansätze eben gerade „nonkonformistischen“ Ursprungs und daher nicht mehrheitsfähig gewesen seien.

Einen völlig anderen Aspekt des klassischen Konservatismus beleuchtete BERNHARD LÖFFLER (Passau/München). Er stellte Ludwig Erhard als Persönlichkeit zwischen Kontinuität und Bruch, zwischen Konservatismus und geistvollem Liberalismus dar: Erhard hätte immer wieder auf Altes aufgebaut, sei in seinen Erfahrungen verwurzelt gewesen und hätte Linksintellektuellen gegenüber Distanz gewahrt. Auch habe Erhard in den 1960er-Jahren zunehmend „verstaubt“ gewirkt. Löffler bemühte sich allerdings, einen anderen Erhard vorzustellen. Er betonte dabei Neuerungen in der Symbolpolitik, wie die Verwendung moderner PR-Methoden, und Kontinuitätsbrüche in der Wirtschaftspolitik, die auf der Gestaltung der Sozialen Marktwirtschaft beruhten. Erhards Offenheit gegenüber Wirtschaftsintellektuellen sei dabei bezeichnend gewesen. Zudem habe er sich trotz der liberalen Elemente seines wirtschaftspolitischen Denkens deutlich von einem reinen Laisser-faire-Liberalismus abgehoben. So zeigte Löffler Erhard als einen Hauptakteur jener „liberal-konservativen Begründung der Bundesrepublik“, die derzeit in der Forschung diskutiert wird.

Nach Betrachtung der ideengeschichtlichen Grundpositionen und -konflikte sollte in der zweiten Hälfte der Tagung der Blick auf deren Auswirkungen gelenkt werden. Die dritte Sektion thematisierte dazu „Normalität und Umbruch vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus“. PHILIPP GASSERT (Washington) beleuchtete zunächst die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in der Adenauerzeit. Auch er sprach davon, dass eine Beschäftigung mit der Adenauerzeit gerade heute historisch lohnend sei. Die Bundesrepublik werde nun historisch und eine historisierende Betrachtung der damaligen Historiker sei geboten. Zu diesem Zweck stellte er Alexander Mitscherlich, der eine Verdrängung der NS-Verbrechen und daraus folgende Gefahren für die Demokratie gesehen habe, und Hermann Lübbe, der „eine gewisse Stille“ zum Zweck der Reintegration als Voraussetzung der neuen Demokratie bewertet habe, gegenüber und entwickelte daraus seine Thesen: Nach Gassert bilde die schon früh etablierte Verdrängungsthese keinesfalls die volle Wahrheit ab. Es sei zwar im Zuge der staatlichen Wiedergutmachungsarbeit zu Problemen gekommen. Unterm Strich bezeichnete er die Wiedergutmachungspolitik jedoch als eine der wesentlichen Leistungen der frühen Bundesrepublik. Zudem sei es gerade in den späten 1950er-Jahren zu einer zunehmenden Thematisierung des Nationalsozialismus in Literatur und Öffentlichkeit gekommen. Die dabei überhandnehmende „Selbstinszenierung der deutschen Opfer“ bewertete Gassert nicht als Verdrängungsmechanismus, sondern als Möglichkeit einer Verwurzelung antitotalitären Denkens und der Einsicht in die katastrophalen Folgen der NS-Herrschaft. Somit forderte Gassert, dass sich die Forschung heute vom starren Gegensatz zwischen „Verdrängung oder Nicht-Verdrängung“ lösen und sich stattdessen den verschiedenen Formen der Abgrenzung zur NS-Zeit widmen solle.

CARSTEN KRETSCHMANN (Stuttgart) stellte in seinem Beitrag über die Umbrüche im Katholizismus der 1950er-Jahre fest, dass „die Adenauerzeit auch und nicht zuletzt Katholikenzeit“ gewesen sei. In diesem Sinne postulierte er für die katholische Kirche eine „Modernisierung im Rückgriff.“ Zwar seien eindeutig restaurative Züge nicht zu übersehen, doch habe es auch starke Erneuerungstendenzen gegeben. So habe sich der Katholizismus der Welt und der Wissenschaft geöffnet und gerade das Zweite Vatikanische Konzil enorme Neuerungen gebracht. Aufgrund ihres großen Einflusses – Kretschmann bezeichnete die katholische Sozialethik als „geheime Staatsphilosophie der jungen Bundesrepublik“ – könne die katholische Kirche trotz aller restaurativen Bestrebungen als Trägerin und Gestalterin des Wandels in der Bundesrepublik bezeichnet werden.

Als drittes Feld der ideellen Umbrüche kontrastierte VANESSA CONZE (Tübingen) die verschiedenen Europa-Ideen der Adenauerära. Sie sah 1945 in dieser Hinsicht nicht als die einzige Epochenwende – gerade den 1950er-Jahren sei eine enorme Rolle bei der Weichenstellung für das Europa der Zukunft beizumessen. In dieser Zeit habe sich der Gegensatz zwischen den dominierenden Denkansätzen der restaurativen „Abendländischen Bewegung“ und der liberalen „Europa-Union“ zugespitzt. Die Durchsetzung der westeuropäisch-liberaldemokratischen Union sei dabei Folge der öffentlichen Ablehnung der hochideologischen Verklärung eines mittelalterlich-ständischen Europas durch die „Abendländer“ und des allgemeinen Wunsches nach einem funktionalen Europa des Friedens gewesen.

Die vierte Sektion rundete die Tagung um einen interdisziplinären Teil ab. Aus kultur- und kunstwissenschaftlicher Perspektive wurde über populäre Kultur und Hochkultur in der Adenauerära referiert. KASPAR MAASE (Tübingen) hob die Bedeutung des populärkulturellen Mainstreams für die Veränderungen in der Ideenlandschaft hervor. Gerade der Film als Kommunikationsmittel zwischen sozialen Gruppen könne zu vielfältigen Erklärungsansätzen für gesellschaftlichen Wandel herangezogen werden. Dabei seien Unterschiede in der Lesart der Autoren und der Rezipienten zu beachten. Maase formulierte deshalb die Aufforderung an die historische Forschung, festgefahrene Sichtweisen – zum Beispiel über die angeblich restaurative Wirkung des Heimatfilmes – zu überdenken und der Populärkultur bei der Forschung über die 1950er-Jahre mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Maase räumte allerdings auch Grenzen der Erklärungskraft der Mainstreamforschung ein: Die durch ihn bewirkten gesellschaftlichen Veränderungen kämen lediglich „langsam mit Taubenfüßen (Begriff nach Nietzsche)“.

Als Kontrast zur Wirkung der populären Kultur zeigte ANNEGRET JÜRGENS-KIRCHHOFF (Tübingen) den gesellschaftlichen Zustand der 1950er-Jahre aus Sicht der ersten documenta-Ausstellungen, die sie als Paradebeispiel der Hochkultur und als drastische Gegendarstellung zum Topos der „miefigen 50er-Jahre“ wertete. Zu Beginn habe die documenta versucht, durch Retrospektive und Blick in die Zukunft eine eigene Sicht auf den Stand aktueller Kunst zu ermöglichen. Aufs Ganze gesehen hätten diese Ausstellungen den Wandel der öffentlichen Wahrnehmung hin zur Akzeptanz abstrakter Kunstformen als „Kunst des freien Westens“ wesentlich befördert. Und aus der entpolitisierten Gegendarstellung zur „Entarteten Kunst“ der documenta 1 sei schon in der documenta 2 eine zukunftsorientierte westliche Kunstschau geworden. In diesem Sinne könnten die ersten documenta-Ausstellungen als Sinnbild gesellschaftlichen Wandels in den 1950er-Jahren bezeichnet werden,

Zusammenfassend machte Michael Hochgeschwender den Konsens des 25. Rhöndorfer Gespräches deutlich: Die Adenauerzeit sei eine „Ära beschleunigter Transformation“ gewesen. Der Wandel dieser Zeit sei grundlegend für die Bundesrepublik gewesen und stellte einen wichtigen Teil größerer Entwicklungslinien dar. Die Fülle der Entwicklungen und Facetten dieser Zeit böten deshalb noch ein weites Arbeitsfeld für Historiker. Der weiteren Forschung fiele dabei auch die Aufgabe zu, die ideellen und kulturellen Umbrüche noch enger mit Person und Politik Konrad Adenauers in Verbindung zu setzen.

Konferenzübersicht:

Begrüßung: Dorothee Wilms
Einführung: Michael Hochgeschwender (München)

Sektion I: Weltanschauliche Alternativen

Georg Bollenbeck (Siegen): Linke Kulturkritik in der Ära Adenauer

Axel Schildt (Hamburg): Protestbewegungen in der ausgehenden Ära Adenauer (1957-1962)

Dominik Geppert (Berlin/Bonn): Alternativen zum Adenauerstaat. Der Grünwalder Kreis und der Gründungskonsens der Bundesrepublik

Sektion II: Die Ideenwelt des Konservatismus

Morten Reitmayer (Trier): Traditionen konservativen Elite-Denkens in den 1950er-Jahren

Alexander Gallus (Rostock): Der amüsanteste unter den Renegaten: William Schlamms Wandlung vom Kommunisten zum Konservativen

Bernhard Löffler (Passau/München): Ökonomie und Geist. Ludwig Erhard und die Intellektuellen

Sektion III: Normalität und Umbruch vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus

Philipp Gassert (Washington): Auf der Suche nach Normalität: Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in der Ära Adenauer

Carsten Kretschmann (Stuttgart): Ein „Haus voll Glorie“? Zu den Umbrüchen im Katholizismus der Adenauerzeit

Vanessa Conze (Tübingen): Mehr als nur eine Idee! „Europa“ in der Bundesrepublik der fünfziger Jahre

Sektion IV: Populäre Kultur und Hochkultur

Kaspar Maase (Tübingen): Von Taubenfüßen und Schlagzeugexplosionen. Zu Aufbrüchen und Veränderungen in der Populärkultur der Adenauerzeit

Annegret Jürgens-Kirchhoff (Tübingen): Rehabilitierung der modernen Kunst. Die ersten documenta-Ausstellungen 1955 und 1959

Schlusswort: Michael Hochgeschwender (München)


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