Sport und Gesellschaft in den böhmischen Ländern/in der Tschechoslowakei, Teil 1: Sport in einer multiethnischen Gesellschaft (19. Jahrhundert bis 1938/39). Jahrestagung der Historischen Kommission für die böhmischen Länder

Sport und Gesellschaft in den böhmischen Ländern/in der Tschechoslowakei, Teil 1: Sport in einer multiethnischen Gesellschaft (19. Jahrhundert bis 1938/39). Jahrestagung der Historischen Kommission für die böhmischen Länder

Organisatoren
Historische Kommission für die böhmischen Länder
Ort
Dresden
Land
Deutschland
Vom - Bis
24.04.2009 - 26.04.2009
Url der Konferenzwebsite
Von
Stefan Wiederkehr, Deutsches Historisches Institut Warschau

Vom 24. bis 26. April 2009 fand in den Räumlichkeiten der Brücke-/Most-Stiftung in Dresden die Jahrestagung der Historischen Kommission für die böhmischen Länder statt.1 Den Auftakt bildete die Verleihung des Wissenschaftspreises der Historischen Kommission an Petr Kreuz und Ivan Martinovský für ihre Edition der Wladislawschen Landesordnung, die im Jahr 1500 in Form eines Verfassungsvertrags das Verhältnis zwischen Adel und König regelte. Danach stand die Jahrestagung ganz im Zeichen des Themas „Sport und Gesellschaft in den böhmischen Ländern/in der Tschechoslowakei, Teil 1: Sport in einer multiethnischen Gesellschaft (19. Jahrhundert bis 1938/39)“. Wie STEFAN ZWICKER (Mainz/Bonn), der die Konferenz konzipiert und organisiert hatte, einleitend festhielt, ist das Verhältnis von modernem Sport und traditioneller Turnbewegung in ihren jeweiligen Wechselwirkungen mit den sich formierenden Nationalgesellschaften in den multiethnischen böhmischen Ländern bislang noch unzureichend erforscht. Ziel der internationalen Tagung war es, durch eine Bündelung der einschlägigen Expertise zur Schließung dieser Forschungslücke beizutragen.

DIETHELM BLECKING (Freiburg im Breisgau) untersuchte die Massenchoreographien des tschechischen Sokol und interpretierte diese im Foucault’schen Sinne als Disziplinierung des Körpers. Wie er deutlich machte, sind derartige Inszenierungen politisch ambig und stehen einer Instrumentalisierung durch unterschiedliche ideologische Strömungen und politische Systeme offen. Die jüdische Turn- und Sportbewegung Makabi, die in Abgrenzung vom Fremdstereotyp des feminisierten, schwächlichen Juden ein „Muskeljudentum“ propagierte, wie es der Zionist Max Nordau als einer der Ersten gefordert hatte, bildete den Gegenstand des Beitrags von TATJANA LICHTENSTEIN (Washington, DC). Wie ihr Vorbild, der Sokol, sei die Makabi-Bewegung zugleich national und international ausgerichtet gewesen. Ihre Mitglieder waren, so Lichtenstein, einerseits Zionisten und zielten andererseits darauf, sich in der jungen Tschechoslowakei als loyale Staatsbürger und integrative Kraft zu etablieren. RADOVAN JELÍNEK (Prag) gab einen Abriss der böhmischen Fußballgeschichte von den Anfängen bis zum Zweiten Weltkrieg und legte aufschlussreiches statistisches Material zu den finanziellen Strukturveränderungen im Bereich des Sports vor. STEFAN ZWICKER (Mainz/Bonn) zeigte auf, dass für den Fußballsport der Ersten Tschechoslowakischen Republik ein komplexes Wechselspiel von nationaler Abgrenzung und Kooperation kennzeichnend war. So gehörte der Deutsche Fußballverband (DFV) der ČSR wie die anderen nach ethnisch-nationalen Kriterien organisierten Verbände dem gesamtstaatlichen Dachverband an und stellte Mitglieder für die Nationalmannschaft ab. Auch der Profifußball überwand nationale Trennlinien. Die gegenseitigen Boykotte von Mannschaften waren teilweise ökonomisch motiviert und kamen deshalb auch innerhalb ein und derselben Nationalgesellschaft vor. Insgesamt standen die organisierten deutschen Fußballer – ohne sich dediziert politisch zu äußern – dem tschechoslowakischen Staat und seinen Institutionen lange überwiegend loyal bis positiv gegenüber.

Der deutsche Arbeiter-, Turn- und Sportverband (ATUS), so THOMAS OELLERMANN (Düsseldorf/Prag), bekannte sich seit dem Regierungseintritt der Deutschen sozialdemokratischen Arbeiterpartei in der Tschechoslowakischen Republik (DSAP) 1929 zur Verteidigung der Republik und beteiligte sich in Abkehr von pazifistischen Tendenzen allmählich auch an der Wehrerziehung. In Kontroversen zwischen „modernen“ Fußballern und „traditionellen“ Turnern innerhalb des ATUS, aber auch in den Auseinandersetzungen um die Integration von Frauen und Jugendlichen in die Verbandsarbeit wurden weit über den Sport hinausreichende gesellschaftliche Konfliktlinien sichtbar. MAREK WAIC (Prag) gab einen organisationsgeschichtlichen Überblick über den Wintersport, in dessen Falle die deutsche nationale Minderheit die sportlich dominierende Mehrheit bildete. Neben gemeinsamen Interessen der nationalen Dachverbände, etwa beim Bau von Schanzen oder beim Aushandeln von Bahnpreisermäßigungen, gab es auch Konflikte zwischen dem Hauptverband der deutschen Wintersportvereine und dem tschechischen Svaz lyžařů republiky Československé, insbesondere um das Bestreben der Sudetendeutschen, auf internationaler Ebene selbständig aufzutreten. Die Touristenvereine, mit denen sich MARTIN PELC (Opava) beschäftigte, bilden ein gutes Beispiel dafür, dass das sozialistische Vereinswesen auch immer von den ideologischen Entwicklungen sowie organisatorischen Spaltungen und Wiederannäherungen im Parteienwesen abhängig war. Pelc gelang es außerdem, eine spezifisch sozialistische Touristenkultur herauszuarbeiten, die als Gegenentwurf zum „ungesund lebenden, ungebildeten, betrunkenen Arbeiter“ den „gesunden, klassenbewussten, glücklichen Touristen“ sowie dessen sozialen Aufstieg inszenierte.

Die Beiträge von MIROSLAV BOBRÍK (Bratislava), BERNARD WOLTMANN und TOMASZ JUREK (beide Gorzów Wielkopolski) hatten Nachbarregionen der böhmischen Länder in der Zwischenkriegszeit zum Gegenstand. Die nationale Bewusstseinsbildung der Deutschen in der Slowakei fiel, so Bobrík, erst in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Für den nicht zuletzt unter sudetendeutschem Einfluss erfolgenden Aufbau eines deutschen (Sport-)Vereinswesens bildete außerdem die Verteilung der deutschen Minderheit auf drei Sprachinseln eine Erschwernis. In der polnischen Zweiten Republik machten nationale Minderheiten ungefähr einen Drittel der Bevölkerung aus. Das Vereinswesen war daher, wie Jurek ausführte, nicht nur entlang nationaler Trennlinien strukturiert, sondern auch innerhalb der einzelnen Minderheiten ausdifferenziert. So bekannte sich etwa die Deutsche Turnerschaft in Polen früh zu Hitler und blieb auf Distanz zu den polnischen Organisationen, während sich beispielsweise die Fußballer in den polnischen Wettbewerbsbetrieb integrierten. Woltmann zeichnete nach, auf welche Schwierigkeiten die Reaktivierung der polnischen Sokół-Bewegung in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg stieß und wie diese aufgrund politischen Drucks von Seiten der deutschen Behörden, interner programmatischer Differenzen zwischen Turnern und Sportlern sowie eines durch Migration verursachten Mitgliederschwunds in der Zwischenkriegszeit einen allmählichen Niedergang erlebte.

Auch in den engagiert geführten Diskussionen brachte die Tagung insgesamt zu Ausdruck, dass Turnen und Sport auch in den böhmischen Ländern und der Tschechoslowakei ein autonomes System bilden und einen „Eigensinn“ aufweisen, dass dieses System aber doch starken Einflüssen von außersportlichen Faktoren wie politischen und nationalen Ideologien, Geschlechterkonstruktionen und Mentalitäten ausgesetzt ist.

Ein Sammelband, der auch die Beiträge der für Frühjahr 2010 geplanten Folgetagung „Sport unter Diktaturen (1938-1989)“ enthalten soll, ist in Planung.

Konferenzübersicht:

Robert Luft (München), Stefan Zwicker (Mainz/Bonn): Begrüßung und Einleitung

Sektion „Inszenierungen, Riten, Entwicklungen“

Diethelm Blecking (Freiburg i. Br.): Körperinszenierungen des tschechischen Sokol – die gelehrigen Körper der Nation

Tatjana Lichtenstein (Washington, DC): Makabi in Czechoslovakia – Sport as a Rite of Citizenship

Radovan Jelínek (Prag): The Development of Football in the Bohemian Lands 1890–1938/39

Sektion „Sport, Ethnien und Ideologien in der Ersten Tschechoslowakischen Republik“

Stefan Zwicker (Mainz/Bonn): „Freundschaftliche Verhältnisse“ – Tschechischer und deutscher Fußball in der Ersten Republik

Thomas Oellermann (Düsseldorf/Prag): „Frei Heil“ – der deutsche Arbeiter-, Turn- und Sportverband (ATUS) in der Ersten Tschechoslowakischen Republik – eine sozialdemokratische Massenorganisation

Marek Waic (Prag): Die Minderheit als dominierende Mehrheit – der organisierte deutsche Wintersport

Martin Pelc (Opava): Sozialistische Touristenvereine in den böhmischen Ländern vor 1938

Sektion „Sport und Gesellschaft in den Nachbarregionen der böhmischen Länder“

Miroslav Bobrík (Bratislava): Die deutschen Sportorganisationen in der Slowakei 1918–1938

Tomasz Jurek (Gorzów Wielkopolski): Der Sport der deutschen Bevölkerungsgruppe im Polen der Zwischenkriegszeit

Bernard Woltmann (Gorzów Wielkopolski): Die polnische Sokolbewegung in Deutschland (1919–1939)

Anmerkung:
1 Dieser Tagungsbericht wird parallel in „Bohemia. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der böhmischen Länder“ veröffentlicht.