Verteilt, Vertauscht, Verhandelt. Entstehung ungeplanter Strukturen durch Tausch und Zirkulation in Kultur und Medien

Verteilt, Vertauscht, Verhandelt. Entstehung ungeplanter Strukturen durch Tausch und Zirkulation in Kultur und Medien

Organisatoren
Graduiertenkolleg Automatismen, Universität Paderborn
Ort
Paderborn
Land
Deutschland
Vom - Bis
17.04.2009 - 18.04.2009
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Von
Maik Bierwirth, Graduiertenkolleg Automatismen, Universität Paderborn

Am 17. und 18. April 2009 veranstalteten die Kollegiat/innen des interdisziplinären Graduiertenkollegs ‚Automatismen‘ ihre erste Tagung mit dem Titel ‚Verteilt, Vertauscht, Verhandelt‘ an der Universität Paderborn. Es wurde dabei nach einer Verbindung ökonomischer Tauschmodelle zu kultur-, sozial- und medienwissenschaftlichen Ansätzen von Zirkulation, Austausch oder dem Aushandeln von Bedeutung gefragt. Die behandelten Themenkomplexe fokussierten hierzu das Auftreten und die Grenzen verteilten Handelns in Kulturproduktion und -distribution und stellten diese in Kontrast zu verteilten Systemen im technischen Sinn; ferner wurden Aspekte formaler Einschreibung und Standardisierung durch Zirkulation diskutiert, sowie Tauschverhältnisse zwischen Medien und Körpern in den Blick genommen. Den Themen wurde in fünf Panels mit jeweils spezifischen Fragestellungen nachgegangen. Insgesamt eröffneten die Tagungsbeiträge ein heterogenes Feld von Phänomenen und theoretischen Beschreibungsversuchen, die Tausch- und Zirkulationsprozesse in Kultur und Medien beobachtbar machen.

Im Panel ‚Neue Verteilungen durch verteilte Systeme‘ wurden Formen der Netzwerkbildung aus verschiedenen Perspektiven in den Blick genommen. Der Medienwissenschaftler ALEXANDER BÖHNKE (Universität Konstanz) zeigte am Netzwerk Hollywood, wie dieses durch die machtvolle Position der Agenturen, die als Beziehungsmakler auftreten, strukturiert wird. Dabei rekonstruierte Böhnke anhand von Briefmaterial und anderen Dokumenten die Logik der Transaktion zwischen Kreativen und Studios mittels Agenten.

Zwei weitere Vorträge des Panels befassten sich mit verteilter Wissensproduktion bei Wikipedia. HARALD HILLGÄRTNER (Universität Frankfurt am Main) stellte dabei zunächst zwei unterschiedliche Paradigmen gegenüber, welche die Prinzipien verteilten Handelns strukturieren können. Das Kathedralen-Prinzip – die Strukturierung des Wissens innerhalb eines Expertensystems – habe dazu geführt, dass beim Wikipedia-Vorläufer Nupedia nie eine kritische Masse an Artikeln erreicht wurde. Die Offenheit der Wikipedia gleiche demgegenüber eher dem Prinzip eines Bazars und biete so eine Reihe an Möglichkeiten des Austauschs zwischen Benutzern. Diese Offenheit sei schließlich für die Dynamik des Wachstums und den Erfolg der Enzyklopädie verantwortlich. RAMON REICHERT (Kunstuniversität Linz) betrachtete die Wikipedia hingegen unter kontrolltechnologischer Perspektive. Er unterzog das Organisationsprinzip der Wikipedia einer wesentlich negativeren Betrachtung und vertrat die These, dass die Nutzer/innen in den Wissensaushandlungsprozessen unter eine wechselseitige und permanente Dauerbeobachtung gestellt würden. Die Wikipedia unterliege einer ‚Mikropolitik der Wissensherstellung‘ und könne so als konform mit dem von Boltanski/Chiapello beschriebenen ‚Neuen Geist des Kapitalismus‘ charakterisiert werden. Diese These wurde intensiv diskutiert.

Im Zentrum des zweiten Panels stand die Frage, welche Strukturen durch verteiltes Handeln in der Kulturproduktion und in kulturellem Tausch entstehen. Einen Einblick in die Machtverteilungen und -verhandlungen des englischen Patronagesystems der frühen Neuzeit gewährte ANNIKA BEIFUSS (Universität Tübingen). Unter Rückgriff auf Pierre Bourdieus Konzept der Kapitalsorten wurde dargelegt, auf welche Ressourcen Mäzen/innen und Künstler/innen zugreifen können, und wie innerhalb dieser Beziehung ein Gleichgewicht von ökonomischem, sozialem und symbolischem Kapital entstehen – oder auch zerfallen kann. Als paradigmatischen Fall analysierte Beifuss ein Huldigungsgedicht von Ben Jonson an eine Mäzenatin als einen Gabentausch.

MATTHIAS BEILEIN (Universität Göttingen) legte dar, wie Kanonisierung von Literatur mit Macht interagiert, ohne ausschließlich durch diese erklärbar zu sein. Durch konkrete Wertungshandlungen seitens der Verleger (ökonomische Überlegungen, verlegerische Ideale, technische Bedingungen, Lesepräferenzen) können Kanonisierungsprozesse nur bedingt gesteuert werden. Posthume Rezeption, der Einfluss der Entwicklung von Sprachen und die Verfügbarkeit einer angemessenen Übersetzung weisen auf den verteilten Charakter und die Unplanbarkeit des Kanonisierungsprozesses auf unterschiedlichen Ebenen hin. Beilein überprüfte die Smithsche ‚invisible Hand’ als eine mögliche Beschreibungskategorie.

Ein in gewisser Hinsicht gegenläufiges Programm bestimmte den Vortrag von NAUSIKAA EL-MECKY (Cambridge University): Am Beispiel der Künstler Arno Breker und Ernst Barlach stellte sie die Inkonsistenzen der Nazi-Kunstpolitik dar. Gemäß El-Meckys These finden die Unentschiedenheiten der Nazi-Politik im Jahr 1937, im Vorfeld der Ausstellung Entartete Kunst, ihren Höhepunkt und ihr Ende. Das Ende dieser Phase der Unsicherheit und das Ende des Nationalsozialismus führen zu je verschiedenen existentiellen Folgen für die Künstler und deren Rezeption in der Nachkriegszeit.

In den drei Vorträgen wurde deutlich, inwiefern Unsicherheit als zentrale gemeinsame Rahmenbedingung in verschiedenen Strukturentstehungsprozessen auftritt.

Das dritte Panel ‚Einschreibung von Tausch und Zirkulation in die Form‘ widmete sich der Frage, wie im Bereich der Medien Tausch- und Zirkulationsprozesse auf die Objekte zurückwirken. BIANCA WESTERMANN (Ruhr-Universität Bochum) zeigte anhand biomorpher Automaten des 18. Jahrhunderts und chipgesteuerter Prothesen des 21. Jahrhunderts, wie sich kulturelle Austauschprozesse zwischen Körper und Maschinenphantasien entfalten. Anhand dieser Beispiele verdeutlichte sie die Ambivalenzen der gegenwärtigen Verschiebung der Grenzen zwischen Körper und Maschine.

JULIA ZONS (Universität Konstanz) schilderte am Beispiel von Casellis Bildtelegraphen aus dem Jahr 1865, wie bei Übertragungsstörungen Bildpunkte in die falsche Zeile rutschen und sich auf diese Weise der Akt der Übertragung in das Empfängerpapier einschrieb. Weiterhin legte sie dar, wie die Einführung der neuen Technologie bereits existierende Netzwerke der Nachrichtenübermittlung veränderte und die beteiligten Akteure neu verteilte.

MARCEL SCHMID (Universität Zürich) verdeutlichte am Beispiel dadaistischer Texte und Collagen die Zirkulation zwischen der Semantik der Texte und ihrer materiellen Grundlage. Die Suspendierung des Sinns in dadaistischen Texten lässt in besonderer Weise erkennen, wie Texte auf ihr eigenes materiales Gemachtsein verweisen und somit ihre spezifische Medialität reflektieren können. Diesen Prozess fasste Schmid unter dem Konzept der Autoreferenzialität.
Im vierten und abschließenden Vortrag des Panels untersuchte die Literaturwissenschaftlerin MIRNA ZEMAN (Universität Paderborn) Strategien der Vermarktung nationaler Identitäten im Prozess des ‚Nation Branding‘. Am Beispiel der narrativen Konstruktion der Krawatte als kroatisches Kollektivsymbol beschrieb sie diskursive Mechanismen der Kommodifizierung von Nationalität, Alterität und Stereotypie.

Im ersten Panel des zweiten Tages stand das Verhältnis zwischen Medium und Körper im Mittelpunkt. Die Vorträge zeigten Möglichkeiten auf, zu beschreiben, wie die somatische Ebene Teil kulturellen Erlebens wird und gleichzeitig in Interaktion mit dem Medium tritt.

CHRISTINE EHARDT (Universität Wien) beschäftigte sich in medienhistorischer Perspektive mit der Entstehung des Radios. Anhand einer Beschreibung unterschiedlicher Radioapparaturen wie dem ‚Telephonradio‘ und dem ‚Radio-Projektionsapparat‘, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts auftraten, stellte sie den Radiogebrauch wie er heute als selbstverständlich erscheint, als historisch kontingentes Phänomen dar. Eine Erklärung der Medienentwicklung könne daher nicht im Rahmen einer linearen Entwicklungslogik technologischer Innovation gegeben werden. Vielmehr bilden die Verhandlungen zwischen sozio-technischen Systemen und deren Aneignung durch die Nutzer das entscheidende Moment medialer Entwicklung.

Der Filmwissenschaftler THOMAS MORSCH (Freie Universität Berlin) setzte sich mit der Zirkulation des Körpers zwischen Theorie, Medium und Filmästhetik auseinander. Ausgehend vom Poststrukturalismus, über ein phänomenologisch fundiertes Modell filmischer Erfahrung bis hin zu einer deleuzianischen Ästhetik der Sensation problematisierte er die Möglichkeiten unterschiedlicher Theorien zur Reflexion des Körpers und seiner Funktion in der filmischen Wahrnehmung.

Das letzte Panel der Tagung widmete sich einer Diskussion der Reichweite und Gültigkeit von bestehenden Tauschmodellen. FRANK WÖRLER (Hochschule für bildende Kunst Hamburg) zeichnete die Entstehung von Siegmund Freuds – zu Lebzeiten unveröffentlichtem – ‚Entwurf einer Psychologie‘ nach. Wörler beschrieb, wie Freud im Briefwechsel mit Wilhelm Fries den Versuch unternahm, eine naturwissenschaftlich fundierte Psychologie zu entwerfen. Freuds Modell zeige dabei eine Grenze naturwissenschaftlich begründeter Psychologie auf, die laut Wörler auch heute noch relevant ist, weil sie ‚den Anderen‘ und ‚dessen prägende Funktion beim Entstehen intrapsychischer Vorgänge‘ berücksichtige.

MATTHIAS KORN (Universität Der Künste Berlin) veranschaulichte ‚ein Geben, das sich der Tauschökonomie entzieht‘ und somit Jacques Derridas Diktum der ‚Unmöglichkeit einer Gabe‘ widersetzt. In den künstlerischen Arbeiten von Gordon Matta-Clark und Rudolf Wachter entdeckt Korn Gaben, die sich jeglichem Kalkül von Nutzen und Vorteil enthalten und zugleich von der Verschuldung und Bindung an eine Gegengabe befreit sind.

Im Anschluss an das letzte Panel folgte die Abschlussdiskussion der Tagung. Es wurde Verbindungslinien zwischen den einzelnen Vorträgen und Panels nachgegangen und gleichzeitig Überlegungen darüber angestellt, welche Fragen und Einsichten aus der Tagung für das Forschungsprojekt ‚Automatismen‘ des Graduiertenkollegs weiterverfolgt werden sollten.

Im Mittelpunkt stand hier zunächst die Frage nach den Machtwirkungen innerhalb der Entstehung ungeplanter Strukturen. Aus einer Vielzahl der Vorträge ergab sich die Frage, inwiefern die Wirkungsrichtung der Macht tatsächlich ‚bottom-up‘ zu modellieren ist, oder ob nicht doch einige Akteure stets machtvoller als andere sind – gleichwohl ohne die sich entwickelnden Strukturen durch ihre Intentionen determinieren zu können: Machtwirkungen die nicht steuern, aber das Umfeld gestalten. Die Frage adressiert somit die Knotenpunkte im Netzwerk verteilter Strukturen. Auf einer zweiten Ebene wurden unintendierte Handlungsfolgen als Katalysator ungeplanter Strukturentstehung identifiziert. So wurde betont, dass intentionale Handlungen Folgen haben können, die sich der Kontrolle der Akteure entziehen.

Nicht zuletzt aus diesem Grund, sind im Rahmen der Frage nach der Entstehung ungeplanter Strukturen sicherlich jene Ansätze zu favorisieren, die sich von den Subjekten lösen und stattdessen die Relationen zwischen Akteuren in den Blick nehmen. Die Analyse ungeplanter Strukturentstehung kann in dieser Hinsicht immer nur ex-post erfolgen.

Grundsätzlich hat die Tagung ‚Verteilt, Vertauscht, Verhandelt‘ gezeigt, dass Strukturbildungsprozesse – und die im Zentrum des Graduiertenkollegs stehende Frage nach ‚Automatismen‘ – auf den unterschiedlichsten gesellschaftlichen und kulturellen Ebenen beobachtbar sind: Von den Selbstverhandlungen dadaistischer Texte über die Netzwerke Hollywoods, hin zu Fragen der Technikentwicklung und Kanonisierungsprozessen mit ihrer unüberschaubaren Anzahl an Akteuren. Die Tagung hat sich somit letztlich Phänomenen zugewandt, die sich gerade dadurch auszeichnen, dass sie sich dem einfachen Weg monokausaler Erklärungen sperren und stattdessen Beschreibungsmodelle erfordern, die der Komplexität und Dynamik kultureller, gesellschaftlicher und technischer Entwicklungsprozesse gerecht werden.

Konferenzübersicht:

Panel 1: Neue Verteilungen durch verteilte Systeme

Alexander Böhnke
Beziehungsmakler in Hollywood – Logik der Zirkulation und Unterbrechung in Netzwerken.

Harald Hillgärtner
Citizendium vs. Wikipedia – Handeln mit verteilten/vertauschten Rollen?

Ramón Reichert
Wikipedia: Wissensdispositive und Diskursmacht.

Panel 2: Verteiltes Handeln in der Kulturproduktion und kultureller Tauschwert

Annika Beifuss
Machtverhandlungen und -verteilungen des englischen Patronagesystems der frühen Neuzeit.

Matthias Beilein
Kanonisierung als kultureller Austauschprozess: Deutsche Klassiker und die ‚Invisible Hand’.

Nausikaa El-Mecky
Barlach. Breker. 1937: Die Inkonsistenzen der Nazi-Kunstpolitik.

Panel 3: Einschreibung von Tausch und Zirkulation in die Form

Bianca Westermann
Vom Flötenspieler zum Hochleistungssprinter. Kulturelle Austauschprozesse zwischen Körper- und Maschinenphantasien.

Julia Zons
Die graphische Lesbarkeit des Zufalls. Überlegungen zu verteilten Bildpunkten bei Casellis Bildtelegraphen (1865).

Marcel Schmid
Autoreferenzialität. Zum Problem der Selbstverhandlung am Beispiel der Zirkulation zwischen Text und Medium.

Mirna Zeman
Tausch, Othering und Stereotypie.

Panel 4: Zirkulation zwischen Medium und Körper

Christine Ehardt
Audioprojektionen. Radio im Spannungsfeld soziotechnischer Mediensysteme.

Thomas Morsch
Kreisläufe des Somatischen. Zur Zirkulation des Körpers zwischen Theorie, Medium und Filmästhetik.

Panel 5: Reichweite von Tauschmodellen

Frank Wörler
Freuds Entwurf: Eine ‚physikalisch’ Ökonomie.

Matthias Korn
Die Gabe des Destruierens. Jacques Derrida und das gelingende Kunstwerk.


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