Europa-Repräsentationen und transnationale Öffentlichkeiten im Vergleich: Europa, arabische Welt, Russland, 1850er- bis 1910er-Jahre und 1990er-Jahre

Europa-Repräsentationen und transnationale Öffentlichkeiten im Vergleich: Europa, arabische Welt, Russland, 1850er- bis 1910er-Jahre und 1990er-Jahre

Organisatoren
Sonderforschungsbereich 640 „Repräsentationen sozialer Ordnung im Wandel“
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
17.04.2009 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Manuel Müller, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Am 17. April 2009 fand am Zentrum Moderner Orient in Berlin ein Studientag des Teilprojekts „Europarepräsentationen und transnationale Öffentlichkeiten im Vergleich“ des Berliner Sonderforschungsbereichs 640 „Repräsentationen sozialer Ordnung im Wandel“ statt. Dabei wurden die laufenden Projekte dieses Teilbereichs präsentiert, die sowohl Außen- als auch Binnenperspektiven auf Europa umfassen und sowohl das Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg als auch das Ende des 20. Jahrhunderts bis in die ersten Jahre des neuen Jahrtausends in den Blick nehmen.

In der ersten Sektion der Tagung, „Rand- und Außenperspektiven“, stellte zunächst ANDREAS WEISS sein Dissertationsprojekt „Asiaten in Europa“ vor. Dieses untersucht die Diskussionen zwischen Asiaten und Europäern in Deutschland und Großbritannien in der Zeit zwischen den 1880er-Jahren und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Anders als viele bisherige Forschungen zu den europäisch-asiatischen Beziehungen legt es dabei den Schwerpunkt nicht auf den europäischen Blick auf Asien, sondern stellt Süd- und Ostasiaten, die sich zu dieser Zeit in Europa aufhielten, in den Mittelpunkt und betrachtet deren Wahrnehmung Europas und ihren Einfluss auf europäische Diskurse. Im Europa des 19. Jahrhunderts habe zum einen eine intensive gesellschaftliche Selbstbetrachtung stattgefunden, zum anderen habe der Vergleich mit Asien ebenso wie die Projektion zivilisatorischer Alternativentwürfe auf Asien eine seit der Aufklärung ungebrochene Tradition gehabt. Beides habe zu einer großen und bisher häufig unterschätzten Bedeutung asiatischer Beiträge zu den europäischen Diskussionen geführt. So soll das Projekt untersuchen, inwiefern etwa der europäische Dekadenzdiskurs auch durch die aufkommenden nationalistischen Bewegungen in Asien beeinflusst wurde, die sich in einem neuen Selbstbewusstsein der Asiaten in Europa manifestierten. Auch die rein numerisch wachsende Präsenz von Asiaten in Europa, die Ende des 19. Jahrhunderts wegen der verbesserten Reisemöglichkeiten und der intensiveren wirtschaftlichen und politischen Verflechtungen anstieg, mag Einfluss etwa auf den Legitimationsdiskurs des Imperialismus genommen haben, indem sie zivilisatorische Überlegenheitsvorstellungen relativierte.

Anschließend präsentierte BENJAMIN BEUERLE sein Projekt „Westeuropa in politischen Diskussionen des späten Zarenreiches“, das für den Zeitraum zwischen den 1890er-Jahren und dem Ersten Weltkrieg untersucht, welche Rolle Verweise auf westeuropäische Modelle in politischen Reformdiskussionen in Russland spielten. Insbesondere zwischen 1905 und 1914 spitzten sich die öffentlichen Debatten im Zarenreich durch den Wegfall der Zensur und die Ausdifferenzierung der Parteienlandschaft zu. Dabei habe Westeuropa als Referenzpunkt eine wichtige Bedeutung eingenommen: Insbesondere linksliberale Konstitutionelle Demokraten (Kadetten), aber auch rechtsliberale Oktobristen sowie Sozialisten und Konservative unterschiedlicher Schattierung beriefen sich zur Stützung ihrer jeweiligen Position auf westeuropäische Modelle. Jedoch habe jede Gruppierung je nach ihrer eigenen politischen Ausrichtung unterschiedliche Aspekte der politischen Wirklichkeit Westeuropas hervorgehoben – sei es, dass unter der Vielfalt der westeuropäischen Staaten in der Diskussion jeweils gerade solche herangezogen wurden, in denen sich das eigene Programm am besten bestätigt fand; sei es, dass die gleichen Realitäten in unterschiedlicher Weise dargestellt und interpretiert wurden. Offen ist dabei zunächst, inwiefern diese unterschiedlichen Konzeptionen jeweils auf einen strategischen Gebrauch des Europaarguments in der politischen Debatte oder auf tatsächliche Unterschiede in den (handlungsleitenden) Europavorstellungen zurückzuführen sind.

Den Abschluss der ersten Sektion bildete FRIEDHELM HOFFMANN, dessen Projekt „Euro-parepräsentationen in der arabischen Welt: Ägypten, Tunesien, Marokko“ ab den 1990er-Jahren behandelt. Darin sollen die Entwicklung und Funktion der Europarepräsentationen im Elitendiskurs dieser drei nordafrikanischen Länder im Kontext des 1995 begründeten Barcelona-Prozesses beschrieben werden. Die Orientierung an Europa und dem Konzept eines gemeinsamen Mittelmeerraums habe im Modernisierungsdiskurs der arabischen Länder bereits seit dem 19. Jahrhundert Tradition gehabt, diese sei jedoch im Zuge der Rückbesinnung auf eine islamisch-arabische Identität zwischen den 1950er- und 1980er-Jahren unterbrochen und erst mit der Süd- und absehbaren Osterweiterung der EG wiederbelebt worden. Obwohl der Barcelona-Prozess aus arabischer Sicht zunächst vor allem einer wirtschaftlichen Notwendigkeit gefolgt sei, habe er etwa in Ägypten eine wichtige Rolle für die Identitätskonstruktion der Eliten gespielt, indem das Konzept der „Mediterranität“ neben anderen Identitätselementen – wie dem ägyptischen Nationalismus, der Zugehörigkeit zur arabischen oder islamischen Welt oder zum afrikanischen Kontinent – neue Bedeutung gewann. Das Projekt zielt dabei insbesondere auf die Auswertung arabischsprachiger Quellen, die in der bisherigen Forschung noch nicht in systematischer Weise berücksichtigt worden und daher häufig Fehlinterpretationen ausgesetzt seien.

Die zweite Sektion der Tagung richtete den Blick auf europäische „Binnenperspektiven“. Darin stellte zunächst JOHAN GRUSSENDORF „Pariser Beispiele“ für Europarepräsentationen in den 1990er-Jahren vor, einen Teilaspekt seines Dissertationsprojekts über Europabilder der deutschen und französischen Medien- und Expertenöffentlichkeit in Auseinandersetzung mit der arabischen Welt. Der Vortrag konzentrierte sich auf die Publikationen zweier französischer Wissenschaftsinstitutionen, nämlich die Cahiers des zu Sciences Po gehörenden Centre d’études et de recherches internationales (CERI) und die Notes sowie die Politique étrangère des Think Tanks Institut français des relations internationales (IFRI). Dabei seien für die 1990er-Jahre ganz unterschiedliche Europarepräsentationen festzustellen, die auch mit unterschiedlichen Haltungen gegenüber politischen Projekten wie der Euro-Mediterranen Partnerschaft verbunden seien. So reiche die Wahrnehmung der Beziehungen zu den arabischen Ländern in den Cahiers vom Konzept eines vereinenden mediterranen „Zwischenraums“ über den „Dialog“ zwischen zwei (letztlich getrennten) Kulturen bis zur – allerdings selteneren – Vorstellung einer klaren Abgrenzung zwischen europäischer Erster und arabischer Dritter Welt. Die IFRI-Publikationen wiederum deuteten auch auf einen strategischen Gebrauch bestimmter Begriffe hin: Während in den Notes, die sich nur an ein kleines, vor allem der französischen politischen Elite zugehöriges Publikum richten, teils affirmative Gleichsetzungen der EU-Mittelmeerpolitik mit dem römischen Imperium zu finden seien, habe die Politique étrangère als traditionsreiche außenpolitische Zeitschrift eine gewissermaßen „para-diplomatische“ Funktion und betone eher die integrierenden, auf eine positive gemeinsame Zukunft abzielenden Aspekte der europäischen Mittelmeerpolitik.

Den Abschluss der Tagung bildete wiederum ANDREAS WEISS mit der Vorstellung seines zweiten Forschungsvorhabens im Rahmen des SFB-Teilprojekts „Europarepräsentationen spanischer und deutscher Politiker in Erweiterungsdebatten 1995-2005“. Im Mittelpunkt stehen dabei die Gründung der Euro-Mediterranen Partnerschaft 1995 und die EU-Osterweiterung 2004, in denen jeweils die Frage nach der europäischen Identität und den europäischen Grenzen besondere Bedeutung erlangte. Dabei wurde die Mittelmeerpolitik besonders von den südeuropäischen Staaten um Spanien, die Osterweiterung besonders von den nördlichen EU-Mitgliedern um Deutschland vorangetrieben. Das Projekt untersucht, inwiefern dabei gemeinsame Europarepräsentationen zu einer Kohäsion der politischen Eliten innerhalb der EU führten. So sei etwa die Initiative zur Euro-Mediterranen Partnerschaft nur durch die Betonung eines gemeinsamen europäischen Interesses innerhalb der EU durchsetzungsfähig geworden: Für die Europarepräsentation der Europäischen Kommission seien dabei vor allem Werte wie Frieden, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit prägend, deren Ausbreitung als eine Art Zivilisierungsmission der EU angesehen werde; die südlichen Mittelmeeranrainer seien als „andere“ Kultur verstanden worden. In umgekehrter Weise spielten Europarepräsentationen auch für den Beitritt der osteuropäischen Länder 2004 eine Rolle: Obwohl auch hier die EU ihren hergebrachten (westeuropäischen) geografischen und kulturellen Rahmen überschritt, wurde die Zugehörigkeit der Beitrittsländer zu Europa nicht bestritten. Dadurch habe sich letztlich auch die Selbstwahrnehmung in der EU geändert, indem Vorstellungen spezifisch westlicher Modernität in Frage gestellt wurden. Auch die problematische Frage eines Kriteriums für die östliche Abgrenzung Europas sei durch die Erweiterung wieder geöffnet worden.

Im Ganzen bot die Tagung einen Überblick über das vielfältige Spektrum der Themen, denen sich die Forschungen des SFB-Teilprojekts widmen. Im Mittelpunkt steht dabei immer wieder die Wahrnehmung Europas in Auseinandersetzung mit Regionen, die als außereuropäisch verstanden wurden – dem russischen und asiatischen Raum bzw. den arabischen Mittelmeerländern. Diese Europarepräsentationen werden insbesondere auf ihre politisch-gesellschaftliche Funktion und Wirkmächtigkeit untersucht. Dabei spielen sowohl Aspekte der strategischen Kommunikation als auch der nicht bewusst gesteuerten Konstruktion von Weltbildern und Identitäten eine Rolle.

Konferenzübersicht:

I: Rand- und Außenperspektiven

Andreas Weiß: „Asiaten in Europa, 1880er-1914“
Kommentar: Dominic Sachsenmaier

Benjamin Beuerle: „Westeuropa in politischen Diskussionen des späten Zarenreiches, 1890er-1914“
Kommentar: David Feest

Friedhelm Hoffmann: „Europa-Repräsentation arabischer Eliten ab den 1990ern“
Kommentar: Steffen Wippel

II: Binnenperspektiven

Johan Grußendorf: „Europarepräsentationen in den 1990er-Jahren – Pariser Beispiele“
Kommentar: Yves Sintomer

Andreas Weiß: „Europa-Repräsentationen spanischer und deutscher Politiker in Erweiterungsdebatten 1995-2005“
Kommentar (schriftlich, vorgetragen von Hartmut Kaelble): Priska Jones


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