Kognitive Kartographien des Religiösen: Missionsgeschichte, Wissensgeschichte, Transfergeschichte (17.-20. Jahrhundert)

Kognitive Kartographien des Religiösen: Missionsgeschichte, Wissensgeschichte, Transfergeschichte (17.-20. Jahrhundert)

Organisatoren
Rebekka Habermas, Georg-August-Universität, Göttingen; Ulrike Strasser, University of California, Irvine, CA; Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel
Ort
Wolfenbüttel
Land
Deutschland
Vom - Bis
19.03.2009 - 20.03.2009
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Von
Julia Hauser, DFG-Graduiertenkolleg Generationengeschichte, Universität Göttingen

Als Bronislaw Malinowski 1929 im Vorwort zu seiner Studie über die Kula die von ihm angewandten Praktiken der Beobachtung im Sinne einer wissenschaftlichen Methode beschrieb und sich damit als einer der Begründer der „teilnehmenden Beobachtung“ etablierte, bewerkstelligte er dies maßgeblich durch Absetzung von einer vermeintlich vorwissenschaftlichen Tradition seines Faches. Ärzte, Beamte und „the few intelligent and unbiased missionaries“, sie alle und vor allem letztere hätten dank ihrer häufig langen Aufenthalte zwar mitunter eindrucksvolle Berichte verfasst. Doch sowohl durch den Umstand, dass sie nicht unter der indigenen Bevölkerung gelebt hätten als auch durch ihre Absicht, diese durch Bekehrung zu transformieren, sei ihnen eine wirkliche, unvoreingenommene Beobachtung unmöglich gewesen.1 Auch wenn Malinowskis Kritik an der von Missionaren praktizierten Art des Wissensgewinns relativ moderat erscheinen mag, so ist sie doch bezeichnend für die Ausbildung wissenschaftlicher Disziplinen in der Moderne, innerhalb derer allzu oft das ursprünglich enge Verhältnis von Wissensfeldern zur Religion vergessen, ja geleugnet wurde. Im Sinne einer Wissensgeschichte der Missionen diese Verwobenheiten wieder aufzudecken, damit einen kritischen Blick auf das Säkularisierungsparadigma sowie die vermeintlichen Epochengrenzen zwischen „Vormoderne und „Moderne“ zu werfen, zudem den Kulturtransfer und transkulturelle Kontakte als unbedingte Voraussetzungen für die Genese des augenscheinlich westlichen Wissenssystems zu betonen, dies formulierten REBEKKA HABERMAS (Göttingen) und ULRIKE STRASSER (UCLA Irvine, derzeit Göttingen) in ihrer Einführung als zentrale Anliegen ihres von der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel ausgerichteten Workshops.

Sechs Beiträge nahmen solch unterschiedliche wissenschaftliche Praktiken wie (sprach)historische, naturgeschichtliche und medizinische Forschungen in den Blick, wobei die Frage nach der Bedeutung transkultureller Kontakte für den Wissensgewinn leitmotivisch in allen Vorträgen angesprochen wurde. Mechanismen der Fremdwahrnehmung als Ausgangspunkt des Wissensgewinns − vor dem Hintergrund der Saidschen Orientalismus-These lange Zeit wichtigster Untersuchungsgegenstand der historischen Reiseberichtsforschung − wurden sowohl von ULRIKE GLEIXNER (Wolfenbüttel) als auch von RICHARD HÖLZL (Erfurt) untersucht. Rekurrierend auf einen dynamischen Raumbegriff hob Gleixner in ihrem Vortrag die konstitutive Rolle der „spirituellen Kartographie“– der Idee des Reiches Gottes − in der Halleschen Indienmission der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts hervor. Mission sei im Halleschen Pietismus von vornherein als globales Unternehmen imaginiert worden, wobei den Missionaren Halle als Ort gegolten habe, an dem das Reich Gottes bereits verwirklicht und von dem aus es auszubreiten sei. Dieser Reich-Gottes-Gedanke sei einerseits konstitutiv für die globalen Kommunikationsnetzwerke der Missionare gewesen, für die bereits früh eine Institutionalisierung durch die „Halleschen Berichte“ zu beobachten sei. Doch auch für die Wahrnehmung Indiens sei die Idee des Reiches Gottes prägend gewesen: einerseits als „kontroverstheologischer Kampfraum“, in dem man sich gegen den Einfluss katholischer Missionare habe durchsetzen müssen, andererseits als Heterotopie, mit Hilfe derer die Missionare ihre eigene Unzulänglichkeit angesichts einer von ihnen konstatierten Vollkommenheit der indischen Protestanten beschrieben hätten. Vom Begriff der Heterotopie ließ sich auch Richard Hölzl in seinem Vortrag leiten. Ausgehend von der Häufigkeit von Photographien deformierter Körper in Quellen aus dem Bereich der Ärztemission der Zwischenkriegszeit entwickelte er die These, dass für die Fremdwahrnehmung männlicher wie weiblicher Missionsärzte ein Bild des „Heidenkörpers“ als das Andere der europäischen Moderne zu konstatieren sei. Doch seien die Missionsärzte nicht bei der Beschreibung kultureller Differenz − festgemacht an der Religion, aber auch den Familien- und Geschlechterbeziehungen, den lokalen Heiltraditionen und der vermeintlichen Rückständigkeit der nichtchristlichen Bevölkerung − stehen geblieben. Vielmehr fänden sich in ihrer Selbstwahrnehmung auch Brüche, die sich in einer Kritik am westlichen Materialismus, in Frustration über unzureichende Arbeitsbedingungen und die unwillkürliche Einbindung in den lokalen Gesundheitsmarkt artikuliert hätten. Als Bewältigungsstrategien der Missionare interpretierte Hölzl deren ethnographische Forschungen im Sinne einer Bewahrung einer im Untergang begriffenen Kultur sowie die Auseinandersetzung mit lokalen Heilpraktiken und deren Vermittlung nach Europa. Ausgehend vom Foucaultschen Heterotopiebegriff entwarf Hölzl also ein durchaus facettenreiches Bild der interkulturellen Begegnung: Missionare als Produzenten kultureller Identität, als (durchaus nicht immer selbstsichere) Agenten westlichen Überlegenheitsbewusstseins, jedoch auch als Vermittler lokalen Wissens nach Europa.

Dass solche Vermittlertätigkeit Produkt eines mehr als flüchtigen Kontakts zur Bevölkerung, dessen Regeln durchaus nicht allein von westlicher Seite bestimmt wurden, sein konnte, zeigte RENATE DÜRR (Kassel) in ihren Ausführungen zu Kulturkontakt und Sprachtransfer zwischen Jesuiten und Guaraní in den Reduktionen Paraguays. Diese Reduktionen, zu Beginn des 17. Jahrhunderts zunächst auf königliche Anordnung im Grenzgebiet des spanischen Reiches gegründet, seien lange Zeit von der Forschung immer nur im Hinblick auf das Handeln der Jesuiten untersucht worden. Tatsächlich bildeten sie jedoch, so Dürr, ein paradigmatisches Versuchsmodell, an dem sich wechselseitiger Kulturtransfer in allen Formen untersuchen lasse. Indem die Reduktionen von Anfang an autonom und direkt dem König unterstellt gewesen, in ihnen die encomenienda verboten und die sozialen Hierarchien gewahrt worden seien, hätten sie ein Gegenmodell zum kolonialen Staat dargestellt. Obgleich von Jesuiten gegründet, seien diese zahlenmäßig gegenüber den Guaraní bei weitem in der Minderheit gewesen. Zudem hätten die Jesuiten, ausgehend von der Missionstheorie José de Acostas, kulturelle Kompatibilität als unbedingte Voraussetzung des Missionserfolgs begriffen. Kulturelle Vielfalt sei ihnen als göttliche Gabe erschienen, die es zu bewahren galt. Aus dieser Motivation heraus hätten sie sich linguistischen Forschungen gewidmet. Unter anderem am Beispiel Antonio Ruíz de Montoyas, eines Jesuiten kreolischer Herkunft, zeigte Dürr, dass die jesuitischen Wörterbücher die Sprache der Guaraní zwar nach dem Vorbild des Lateinischen normiert, damit jedoch gleichzeitig eine Debatte über die Universalität des Lateinischen ausgelöst hätten. Um eine Sprache zu dokumentieren, sei ein Zugehen auf den Anderen erforderlich gewesen, eine Vorgehensweise, die im Widerspruch zur Logik der Kolonialherrschaft mit ihrer Auffassung von Sprache als Mittel der Herrschaft gestanden habe. Doch nicht nur die zentrale Bedeutung solcher Kontaktbeziehungen, sondern auch die Modi der Kommunikation ließen sich an den Wörterbüchern ablesen, die beispielsweise darüber Auskunft gäben, über welche Felder man nicht habe sprechen können. Bezeichnenderweise habe dazu offenbar die christliche Religion gehört, finde sich bei Montoya doch ein Guaraní-Lehnwort für Gott, das nach Meinung des Autors die Semantik des christlichen Gottesbegriffs besser transportierte als jeder europäische Terminus.

Nicht immer aber sei missionarische Wissensproduktion geglückten interkulturellen Begegnungen zu verdanken gewesen. Dies zumindest legte ANN-CHARLOTT TREPP (Göttingen) in ihrem Vortrag über die naturhistorischen Forschungen Hallescher Missionare in Indien nahe, die seit dem letzten Viertel des 18. Jahrhunderts ins Zentrum der Missionsaktivitäten gerückt seien. Missionare wie Christoph Samuel John und Johann Peter Rottler hätten sich auch in Europa als angesehene Naturaliensammler und Verfasser wissenschaftlicher, auch außerhalb von Missionszeitschriften erscheinender Abhandlungen etablieren können. Während diese Aktivitäten in der Missionsgeschichtsschreibung seit dem 19. Jahrhundert als eine den Geist der Mission zerstörende Krankheit beschrieben worden seien, hätten die Missionare selbst keinen Gegensatz zwischen Forschung und Mission gesehen, sondern erstere vor dem Hintergrund ihres physikotheologischen Naturverständnisses, aber auch des Scheiterns der direkten Mission als zunehmend wichtiges Mittel der letzteren begriffen. Insofern die Missionare in ihren naturhistorischen Schriften auf indische Klassifikationssysteme rekurriert hätten, erwiesen sich physikotheologische Ideen als Basis eines wechselseitigen Erfahrungsaustausches. Doch sowohl der Umstand, dass der Rekurs auf lokale Klassifikationen zum Teil über die Rezeption europäischer Werke erfolgt sei, wie auch die Tatsache, dass einheimische Informanten in der Regel nicht namentlich genannt worden seien, lasse Skepsis aufkommen an der Unmittelbarkeit dieses Erfahrungsaustausches. Letztlich, so Trepp, liege die Vermutung nahe, dass die „geradezu obsessive“ Beschäftigung der Missionare mit der Natur als „Annäherung an eine ihnen verschlossen gebliebene Welt“ zu interpretieren sei.

Einen optimistischeren Blick auf die Kontakte zwischen Missionaren und lokaler Bevölkerung warf PATRICK HARRIES (Basel) in seinen Ausführungen zur Tätigkeit Schweizer Missionare in Südafrika in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Von bisherigen Forschungen zu missionarischen Kulturbegegnungen, die jene allein im Sinne eines einseitigen Kulturtransfers begriffen, setzte er sich dabei pointiert ab; zu selten seien die Auswirkungen der Mission auf die „Metropole“ untersucht, allzu sehr ein Bild der Missionare als Boten eines Gedankenguts, das für die lokale Bevölkerung von geringem Nutzen gewesen sei, entworfen worden; all dies oft allein im Rekurs auf eine einzige Quellengattung: Missionarsbriefe. Verwende man andere Bestände – Archive ethnographischer Museen und botanischer Gesellschaften sowie die in sich generisch höchst vielfältigen Missionszeitschriften – so ergebe sich ein differenzierteres Bild. Nicht nur hätten Missionare für eine erhebliche Präsenz der außereuropäischen Welt in Europa gesorgt, sondern auch für einen Eingang einheimischen Wissens in europäische Wissensbestände gesorgt. Missionare wie Henri-Alexandre Junod hätten aber nicht nur zu Entstehung von Wissenschaften wie etwa der Anthropologie beigetragen, sondern auch Wissen über afrikanische Gesellschaftsorganisationen gesammelt, das späteren Generationen beim Aufbau einer christlichen Gesellschaft in Afrika und bei einer nationalen „invention of tradition“ habe dienen können. Ohne die Kooperation ihrer afrikanischen Mitarbeiter, die von Autoren wie Junod namentlich erwähnt würden, hätte ihnen dies freilich nicht gelingen können.

Den Beitrag der Missionare zur Konstruktion von Ethnogenese untersuchte auch THORALF KLEIN (Erfurt) in seinem Vortrag über Mission und Ethnogenese im südlichen China, 1860-1933. Er untersuchte hier, welche Rolle missionarische Publikationen für die wissenschaftliche Fundierung der Selbstkonstituierung ethnischer Identität durch die Hakka gespielt habe. Die Hakka (wörtlich: Gastfamilien), eine im neunten Jahrhundert in die Provinz Guangdong eingewanderte Subethnie der Han-Chinesen, hätten es seit dem neunzehnten Jahrhundert geschafft, die Verachtung, die ihnen von der Mehrheitsgesellschaft der Punti („Einheimische“) entgegen gebracht worden sei, in eine positive Konstruktion ethnischer Identität zu verwandeln und diese, unter anderem durch ihre überproportionale Beteiligung an der chinesischen Emigration, weit über die Grenzen Chinas hinaus zu popularisieren. Beginnend mit den Anfängen der wissenschaftlichen Hakka-Forschung seit den frühen 1930er-Jahren hob Klein das einflussreichste Werk des Historikers und Anthropologen Luo Xianglin, der mit Hilfe sprachhistorischer, ethnographischer und historischer Forschungen die Ethnizität der Hakka in die Idee der chinesischen Nation eingebettet und sie unter Zuweisung von Charaktereigenschaften wie Fleiß, Mobilität, Genügsamkeit und einer höheren Stellung der Frau als Träger kulturellen Fortschritts dargestellt habe, als wichtigsten Bezugspunkt für die Konstruktion der Hakka-Identität hervor. Da Luo sich außer auf seine eigenen Forschungen auch auf missionarische Texte gestützt habe, untersuchte Klein in einem zweiten Schritt die Diskurse über die Hakka in missionarischen Quellen der 1860er- bis 1920er-Jahre, in denen sich eine ganz ähnliche Beschreibung der Ethnogenese und dieselbe positive Charakterisierung der Hakka fänden. Die Beschäftigung der Missionare mit der Kultur der Hakka sei auf den von dem „Pioniermissionar“ Karl Friedrich August Gützlaff vertretenen, vom Volksbegriff Herders beeinflussten Gedanken der Schaffung ethnisch homogener Volkskirchen ausgegangen, wobei die positive Beschreibung dieser Ethnie auch dem vergleichsweise großen Erfolg der frühen Missionare bei ihnen zu verdanken sei. Sowohl Luo als auch die Missionare hätten sich in ihren Konstruktionen der Hakka-Ethnogenese genealogischer Quellen bedient. Die Missionare seien dabei die ersten gewesen, die aus diesen Quellen allgemeine Thesen über den Ursprung der Hakka entwickelt hätten, die dann, vermittelt über Wissenschafter wie Luo, Eingang in die akademische Debatte wie die öffentliche Repräsentation und Wahrnehmung der Hakka selbst gefunden hätten.

Einige Aspekte, die der Workshop nicht habe behandeln können, wurden in der Schlussdiskussion als Desiderate genannt, etwa die Frage nach eventuellen lokalen Traditionen, durch welche die Einbindung der Missionare in die jeweiligen Gesellschaften zu erklären sei, oder nach den Analogien der aufeinander treffenden Kulturen. Insbesondere eine Zusammenarbeit mit den Area Studies, aber auch mit der Ethnologie im Sinne einer Einbeziehung von Alltagswissen aus den Missionsgebieten, demnach ein kollaboratives Arbeiten über die Grenzen der Geisteswissenschaften hinaus wurden als notwendige Zugänge für künftige Forschungen genannt. Genügend Inspiration und Diskussionsstoff zu diesem spannenden Unternehmen „jenseits des Eurozentrismus“, aber auch genügend Argumente für begründete Zweifel an einer linearen Säkularisierungsthese hat dieser anregende Workshop allemal geliefert.

Konferenzübersicht:

Rebekka Habermas, Ulrike Strasser: Einführung und Begrüßung

Renate Dürr: Sprachtransfers – Jesuiten in den Reduktionen

Ulrike Gleixner: Reich Gottes und spirituelle Kartographie. Der Ausbau der Halleschen Indienmission in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts

Patrick Harris: Wissensproduktionen - Schweizer Missionare in Afrika

Anne-Charlott Trepp: Wissensproduktionen – Deutsche Missionare in Indien

Thoralf Klein: Missionen und Ethnogenese im südlichen China, ca. 1860-1933. Schichten des Wissens im Formierungsprozess der Hakka

Richard Hölzl: Der Körper des Heiden als moderne Heterotopie. Deutsche Missionsärzte und Missionsärztinnen in der Zwischenkriegszeit

Anmerkung:
1 Bronislaw Malinowski: Argonauts of the western Pacific. An account of native enterprise and adventure in the archipelagoes of Melanesian New Guinea. London 4. Aufl. 1953, S. 18.