Forschungen zu Stalinismus und Entstalinisierung. Kulturwissenschaftliche Disziplinen im Dialog

Forschungen zu Stalinismus und Entstalinisierung. Kulturwissenschaftliche Disziplinen im Dialog

Organisatoren
Verband der Osteuropahistorikerinnen und -historiker e.V. (VOH); Deutscher Slavistenverband; Herder-Institut Marburg; Giessener Zentrum Östliches Europa (GiZO)
Ort
Marburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
19.02.2009 - 20.02.2009
Url der Konferenzwebsite
Von
Julia Obertreis, Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS)

Die von PETER HASLINGER (Marburg/Giessen) organisierte Tagung hatte zum Ziel, über Disziplinengrenzen hinweg neue kulturwissenschaftliche Ansätze zur Erforschung von Stalinismus und Entstalinisierung im östlichen Europa vorzustellen und zu diskutieren. Sie fand im Anschluss an die jährliche Mitgliederversammlung des Verbandes der Osteuropahistorikerinnen und -historiker e.V. (VOH) statt, die alle zwei Jahre von einer Tagung begleitet wird. Es handelte sich nicht nur um die erste Kooperationstagung zwischen den beiden Fachverbänden der Osteuropahistoriker/innen und der Slavist/innen, anschließend fand auch das erste gemeinsame Strategiegespräch über aktuelle Fragen der Forschungskooperation und Lehre statt.

In der ersten Sektion berichtete die Slavistin DAGMAR BURKHART (Hamburg) über die Reaktionen verschiedener Schriftsteller/innen auf den stalinistischen Terror in der Sowjetunion. Anhand des Fallbeispiels Anna Achmatowa wurde deutlich, wie der Stalinismus eine Schriftstellerbiographie zerreißen konnte. Burkhardt analysierte zudem Gedichte Ossip Mandelstams, der in den 1930er-Jahren unter anderem bestimmte rekurrierende Lautverbindungen verwendete, um in seinen Gedichten auf Stalin als den Hauptschuldigen für Hungersnot und Terror hinzuweisen. Erst seit der Perestrojkazeit, seit den 1980er-Jahren, werden diese Botschaften entschlüsselt. Der Historiker MARTIN AUST (Kiel) stellte anhand seiner Interpretationsfigur der „doppelten Unbotmäßigkeit“ die Neunte Symphonie Schostakowitschs aus dem Jahr 1945 in ihren Bezügen zur Neunten Symphonie Beethovens und als unterlassene Huldigung Stalins vor. Am Spiel der kulturellen Überbietung des Kriegsgegners Deutschland habe der Komponist sich nicht beteiligt und in seinem Werk eher der spontanen Freude und Erleichterung über das Kriegsende Ausdruck gegeben als das Heldenhafte des Sieges unter Anleitung Stalins inszeniert. In der Diskussion beider Vorträge wurde vor dem „Esoterischen“ der Analyse gewarnt, etwa bei der Deutung der kodierten Botschaften Mandelstams. Zudem stellte sich heraus, dass in der neueren Forschung eher Detailstudien unternommen werden als die Künstlerbiographien in überholt scheinende Kategorien wie „Mitläufer“ oder Ähnliches einzuordnen.

In der zweiten Sektion trug MICHAEL JOHN (Berlin) zu „nationalen“ Folkloren in der Sowjetunion der 1920er- und 1930er-Jahre vor. Sein Referat fokussierte auf Musik in Zentralasien, die wie andere Bereiche der Volkskunst in der kommunistischen Vereinnahmung dazu diente, den neu definierten Nationalitäten unverwechselbare Attribute zuzuordnen. So wurde eine „turkmenische Musik“ kreiert, deren formale Eigenständigkeit betont und deren Werke in Notenform gegossen. In den 1930er-Jahren habe es einen Umbruch in der Folkloreforschung gegeben, die sich fortan weniger an der Vergangenheit als vielmehr an den Bedürfnissen der Gegenwart orientieren sollte. Weitere Einblicke in Kulturpolitik und Stalinismus bot der Vortrag des Slavisten CHRISTIAN VOSS (Berlin) zum makedonischen nation-building der 1940er- und 1950er-Jahre. Voß beleuchtete die Rolle der ägäischen makedonischen Diaspora und betonte die Langzeitfolgen der Standardisierung des Makedonischen, das sich im Rahmen der Annäherung bzw. Abgrenzung vom Russischen und Bulgarischen vollzog und am Serbischen orientiert wurde. In der Diskussion wurden Parallelen zwischen sowjetischen und jugoslawischen Fällen von Folklorisierung herausgearbeitet, etwa dass lebendige Tradition durch Folklorisierung konserviert und musealisiert werden konnte, also über Aktualität und Überkommenheit entschieden wurde. Es wurde aber auch darauf hingewiesen, dass nation-building mit Folklorisierung an sich nicht typisch sozialistisch oder gar stalinistisch sei. Im jugoslawischen Kontext erschien die Folklorisierung als „ethnische Versöhnung“ (Tanja Zimmermann).

Die dritte von KLAUS GESTWA (Tübingen) konzipierte Sektion war der Entwicklung des Lagersystems GULag in der Sowjetunion nach 1953, nach dem Ende des Stalinismus, gewidmet. Hier war wenig von kulturwissenschaftlichen Ansätzen die Rede, dafür bezogen sich in der rein geschichtswissenschaftlichen Sektion beide Vorträge inhaltlich eng aufeinander. MIRJAM SPRAU (Frankfurt) stellte Ergebnisse ihrer Dissertation zu Magadan vor, Zentrum eines der größten Lagerkomplexe in Fernost. Durch die Gründung des Gebietes Magadan entfiel der Sonderstatus der Region. Es kam es zu einem Machtkampf zwischen der Partei, die danach trachtete, die Region erstmals in die regulären zivilen Strukturen einzuordnen und den bisherigen Machthabern im Lagerunternehmen „Dal’stroj“. MARK ELIE (Paris/Moskau) behandelte in seinem Vortrag die kriminellen Häftlinge im GULag, die mit ihren Banden vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg zu großer Machtfülle gelangt waren. Im Rahmen des so genannten „Tauwetters“ versuchten Juristen und Kriminologen mit rechtlichen und gesetzlichen Mitteln, deren Einfluss zurückzudrängen. Ab 1956 zeitigte dieser Kampf Erfolge. In der Diskussion wurde unter anderem auf den Zusammenhang zwischen der Gewalt in den Lagern und der Gewalt auf den Straßen außerhalb der Lager verwiesen und auf die Bemühungen des Regimes, die Kontrolle über diese zu behalten. Durch Studien wie die hier vorgestellten entstehe ein komplexeres Bild von der Entstalinisierung in der Sowjetunion, das durch die Stichworte Professionalisierung, Bürokratisierung und Disziplinierung gekennzeichnet werden könne.

Bewegten und stehenden Bildern widmete sich die vierte Sektion, die der Slavist NORBERT P. FRANZ (Potsdam) mit einem Vortrag über die Wechselwirkungen zwischen Hollywood und Moskau in den 1930er-Jahren und darüber hinaus eröffnete. Während Moskau das Genre des Musicals von Hollywood kopierte und stalinisierte („Cirk“ (Zirkus) von Grigorij Aleksandrov, 1936), wies Hollywood den Anspruch Moskaus auf dieses Genre zurück („Ninotschka“ von Ernst Lubitsch, 1939). Erst in der Perestrojkazeit seien stalinistische Erzählungen und Mythologeme im Massenkino deutlich in Frage gestellt und demontiert worden. Abbildungen aus dem Jugoslawien der 1940er- und 1950er-Jahre analysierte die Slavistin und Kunsthistorikerin TANJA ZIMMERMANN (Erfurt). Trotz des Bruches Titos mit Stalin 1948 sei bis 1950 der Sozrealismus noch dominierend gewesen. Ab 1949 erfolgten in bildlichen Darstellungen Angriffe auf die russisch-sowjetische Avantgarde. Die „Ästhetik des Dritten Weges“ sei 1950 begründet worden. Zu ihr gehörte die Darstellung mittelalterlicher Kunst der jugoslawischen Gebiete als Vorläufer des Dritten Weges, bogomilische Grabstelen sollten etwa als frühe Kunden der Unabhängigkeit von den Blöcken gelten. In aufwendigen Illustrierten mit Farbfotos warb man für den Dritten Weg, in dem sich (folkloristische, künstlerische) Traditionen und sozialistische Moderne verwoben und das Traditionelle eine positive Bewertung erfuhr. In der Diskussion verwies die Referentin auf die interessante Rolle von Zeitschriften, die jeweils nur für wenige Jahre erschienen und aus deren Analyse das Hin und Her der verschiedenen Darstellungsformen deutlich werde.

In der fünften Sektion stellte der Literaturwissenschaftler KMITA RIMANTAS (Vilnius/Klaipeda) das Konzept der Fabrikordnung des litauischen Soziologen Vytautas Kavolis vor, das er für seine Untersuchung einer Generation litauischer Schriftsteller verwendet. Die Fabrikordnung mache verschiedene Aspekte eines totalitären Staates deutlich, zum Beispiel die Hierarchie, die Effektivität von Produktion, die klare Trennung zwischen Freund und Feind. Die untersuchten Schriftsteller hätten seit Mitte der 1960er-Jahre gegen den von oben vorgeschriebenen Sozrealismus in der Literatur angeschrieben, der sich im Rahmen der Fabrikordnung bewegt habe. In der Diskussion stand das Konzept der Fabrikordnung im Mittelpunkt, das ganz unterschiedlich bewertet wurde. Auf der einen Seite wurden Skepsis gegenüber der Brauchbarkeit und Reichweite des Konzepts geäußert sowie der Hinweis, dass es sich eher um eine Metapher als um ein Konzept handele. Auf der anderen Seite unterstrich man die Bedeutung der Fabrik als Modell für die soziale Organisation und die Relevanz des der Fabrik immanenten mechanizistischen Gesellschaftsbildes, das der sowjetischen Kultur eigen gewesen sei.

Die sechste und letzte Sektion vereinte die Vorträge eines Historikers und einer Literaturwissenschaftlerin. MARC ŽIVOJINOVIĆ (Erfurt) berichtete von den Analogien und Unterschieden des Titokultes in Jugoslawien und des Stalinkultes in der Sowjetunion. Dabei bezog er sich auf das Konzept der charismatischen Herrschaft von Max Weber, das er durch weitere Ansätze erweitert. Die Kult-Person Titos habe ihr Charisma bis zu Titos Tod 1980 bewahrt; Versuche der Politik, es darüber hinaus dienlich zu machen, seien aber gescheitert. Über die Auseinandersetzung mit Stalin bzw. mit den diktatorischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts in der polnischen Literatur der 1990er-Jahre referierte OLENA WEHRHAHN (Berlin). Autoren wie Stefan Chwin, Julian Kornhauser und Paweł Huelle schufen in ihren Werken die Gattung der „Mythobiographie“, in der ein Ich-Erzähler sich typischerweise an die prägenden und traumatischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts erinnert, an die Besetzung durch die Deutschen, an Antisemitismus und Antiamerikanismus und die Verluste der ostpolnischen Gebiete. Es entstehe ein Spiel mit dem individuellem und dem kollektiven Gedächtnis, das letztlich der Identitätsvergewisserung der Polen am Ende des Jahrhunderts diene. In der Diskussion wurde diese These der Referentin angezweifelt, woraufhin Wehrhahn erläuterte, die Identitätsvergewisserung sei gerade dadurch zustande gekommen, dass nun alle ehemals gültigen Hierarchien und Werte in Frage gestellt werden konnten, das Polnischsein aber damit auch gestaltet wurde. In Bezug auf die Personenkulte wurde festgestellt, dass die für die Sowjetunion in der Forschung konstatierte Pluralisierung der Führerkulte nach 1953 zwar auch auf Jugoslawien zutreffe, aber nicht unbedingt mit der Zäsur 1953. Des Weiteren wurde auf die Leitmedien der Kulte aufmerksam gemacht, wobei eine Entwicklung vom Gemälde zur Farbfotografie erfolgt sei. Allerdings sei im Ceauşescu-Kult wieder eine Rückkehr zu den Gemälden zu beobachten.

In der Schlussdiskussion wies Zimmermann auf das Bestehen des Sozrealismus bis in die 1970er-Jahre hinein hin; vor allem in der DDR sei dieser hartnäckig verteidigt und noch in den 1980er-Jahren ernsthaft diskutiert worden. Gestwa verwies auf inhaltliche Aspekte und Ansätze, die aus der Tagung heraus erkennbar wurden und für künftige Forschung eine wichtige Rolle spielen würden: der Wettbewerb der Systeme bzw. Diktaturen, Transferprozesse zwischen den Ländern und die 1970er-Jahre als systemübergreifende Krise oder gar Ende der Moderne.

Insgesamt war dies eine gelungene Tagung mit anregenden, lebhaften Diskussionen. Die Themen Stalinismus und Entstalinisierung erwiesen sich als produktiv im Sinne neuerer Forschung. Ein breites Spektrum untersuchter Medien und verwendeter Ansätze tat sich auf. So wurden Bilder und Denkmäler, Filme und Gedichte thematisiert. Zwar fand kaum eine Diskussion über die zur Anwendung gelangten Methoden an sich statt. Dies kann aber nicht nur als Manko gesehen werden, sondern verweist auch darauf, dass im Rahmen kulturwissenschaftlich inspirierter und interessierter Forschung unterschiedliche Methoden bereits über disziplinäre Grenzen hinweg recht breit rezipiert und anerkannt werden. Als Verständigung zwischen kulturwissenschaftlich Arbeitenden und besonders zwischen Historiker/innen und Slavist/innnen war die Tagung bestens geeignet. Es sollte mehr solcher relativ kleinen, interdisziplinären Tagungen geben.

Konferenzübersicht:

Sektion I: Künstler und Diktatur

Dagmar Burkhart (Hamburg)
Lügen, schweigen, flüstern oder die Stimme erheben. Russische Schriftsteller und der Stalinismus

Martin Aust (Kiel)
Doppelte Unbotmäßigkeit: Dmitrij Šostakovičs Neunte Symphonie als subversives Dokument im Stalinismus des Jahres 1945

Sektion II: Stalinismus, Nationalität, Transnationalität

Michael John (Berlin)
Die Nationalitätenpolitik Stalins und ihre Auswirkung auf die sowjetische Musik der 1930er Jahre

Christian Voß (Berlin)
Tito vs. Stalin transnational: Die Kulturpolitik der makedonischen Ostblockdiaspora in den 1940er- bis 1950er-Jahren

Sektion III: Aufbruch aus dem GULag und die Entstalinisierung der Lagerwelt

Mirjam Sprau (Frankfurt)
Entstalinisierung als Sowjetisierung. Magadan zwischen 1953 und 1957

Mark Elie (Paris/Moskau)
Die (Wieder)Erfindung des professionellen Verbrechers in der Tauwetterzeit. Kriminologische Studien, GULag-Reformen und die Neugestaltung der poststalinistischen Sozialordnung

Sektion IV: Bilder, Grenzen, ideologische Alteritäten

Norbert P. Franz (Potsdam)
Hollywood – Moskau – Hollywood. Die wechselseitige Nichtakzeptanz der Selbstbilder im Unterhaltungskino

Tanja Zimmermann (Erfurt)
Vom sowjetischen Vorbild zum „dritten Weg“: Der Wandel der jugoslawischen Bildpolitik in den späten 1940er- und 1950er-Jahren

Sektion V: Stalinismus als Herrschafts- und Inklusionskonzept

Iveta Leitanē (Riga) (ausgefallen)
Wie inklusiv war die stalinistische „Hochmythologie“?

Rimantas Kmita (Vilnius/Klaipeda)
Das Konzept der Fabrikordnung von Kavolis als Forschungsinstrument der sowjetischen Kultur

Sektion VI: Gegenwelten des Stalinismus

Marc Živojinović (Erfurt)
Stalinismus ohne Stalin? Der jugoslawische Sonderweg zwischen stalinistischer Herrschaftskonfiguration und antistalinistischer Rhetorik

Olena Wehrhahn (Berlin)
Der Ich-Erzähler und Stalin in der polnischen Literatur der 1990er-Jahre