Europabilder. Innen- und Außenansichten

Europabilder. Innen- und Außenansichten

Organisatoren
Kulturwissenschaftliches Institut (KWI, Essen), Ludwig Boltzmann Institut für Europäische Öffentlichkeit (LBI, Wien), Veranstaltungsinitiative Europäische Horizonte, Zentrum für Medien und Interaktivität der Universität Gießen (ZMI)
Ort
Essen
Land
Deutschland
Vom - Bis
04.12.2008 - 05.12.2008
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Von
Marcel Siepmann, Kulturwissenschaftliches Institut, Essen

„Das Bildergedächtnis ist nicht einmal ansatzweise erforscht“, so GERHARD PAUL (Flensburg) in seinem einleitenden Vortrag, und benannte damit die Ausgangslage der zweitägigen Tagung des Kulturwissenschaftlichen Instituts (KWI, Essen), des Ludwig Boltzmann Instituts für Europäische Öffentlichkeit (LBI, Wien), der Veranstaltungsinitiative Europäische Horizonte und des Zentrums für Medien und Interaktivität der Universität Gießen (ZMI).

Die Tagung beschäftigte sich in zwei Schwerpunkten mit der Frage nach der ikonographischen Plastizität bzw. der Bildhaftigkeit Europas und demnach mit der Vorstellung: Welche Bilder von Europa können eine gesamteuropäische Relevanz beanspruchen? Gibt es diese überhaupt?

Der erste Tag versuchte, diese Frage anhand historischer Bildbeispiele exemplarisch aufzuschlüsseln und die unterschiedlichen Entwicklungen einer Visualisierung Europas zu rekonstruieren. Der zweite Tag entfernte sich von diesem Ansatz nicht nur methodisch, sondern auch räumlich und gab ebenfalls exemplarisch einen Überblick über die nichteuropäischen Außenansichten auf Europa und das dabei entstehende Spannungsverhältnis der verschieden Kulturen. Im Mittelpunkt stand dabei, wie Europa häufig als selbstreferenzieller Fixpunkt für andere Länder evident wurde, sei es als exklusive Abgrenzung oder als inklusive Vereinnahmung spezifischer Bildnisse.

Gerhard Paul verwies, in Anspielung auf den von ihm herausgegebenen Bildatlas „Das Jahrhundert der Bilder“, zu Beginn seines Vortrags auf die Frage nach einer europäischen Bildersprache, nach einem Bilderkanon, einem Bildergedächtnis, das die bedeutenden historischen Ereignisse Europas aus seinen verschiedenen Blickwinkeln visualisieren könnte. Das Dilemma der Verschiedenartigkeit der ikonographischen Aneignung historischer Ereignisse durch die weiterhin nationalen Bildergedächtnisse werde nur an wenigen Stellen durchbrochen, so bei der Darstellung von Juden und Kommunisten in den frühen 1920er- bis hinein in die 1950er-Jahre. Das innereuropäische Feindbild „Bolschewismus“ wurde transnational zum Beispiel mit dem Bildnis des „Schlitzäugigen“ ikonographiert und in den Anfängen des Kalten Krieges, dann aber nach außen, nach Osten gerichtet, weiterbenutzt.

Paul beschrieb den Wegfall des Eisernen Vorhangs in der Epochenwende 1989/91 als eine ikonographische Wende hin zu der Darstellung der „Armen Anderen“, die die „Festung“ Europa als afrikanische „Massen“ überrennten. Bildnisse wie das der „Das Boot ist voll“-Metapher wurden anhand von Karikaturen und Plakaten exemplifiziert.

Gleichzeitig sei Europa aber auch bis heute immer als „Familienfoto“ repräsentiert worden, auf dem die meist in dunkle Anzüge gekleideten Regierungschefs in Gruppen in die Kameras blickten. Diese Darstellung verweist auf den Charakter der Vertragspolitik zwischen Einzelstaaten, welcher bis heute nicht überwunden werden konnte, auch nicht durch den Versuch, den Euro ikonographisch zu verklären. Die in einzelnen Nationen durchaus bekannten Europabilder, wie der in Deutschland vieldiskutierte Kniefall Brandts im Warschauer Ghetto 1970, spiegele dabei vor allem bilaterale Bedeutungsgehalte wider, als eine wirklich gesamteuropäische Dimension.

Pauls Fazit sah eine solche gesamteuropäische Bilderwelt eher in den ‚großen‘ Themen dieses Kontinents verortet, wobei so genannte Bildcluster als „Kristallisationspunkte diachroner visueller Erinnerungsorte“ fungierten. Beispielhaft führte er die großen Flüchtlingstrecks des 20. Jahrhundert an, die sowohl in Ost und West während und nach dem Zweiten Weltkrieg erfahren wurden, als auch wieder in den 1990er-Jahren im staatlichen Zerfalls- und Auflösungsprozess der Balkanregion. Deportationszüge („Zugikonographie“) verbildlichen durch die Darstellung von Rampen, Waggons und vor allem Schienen die gesamteuropäische Erfahrung der Shoa und stehen sowohl für Nazideutschland als auch für die Verstrickung und Kollaboration vieler Völker in die Vernichtungspolitik. Auch Friedenstaube und Stacheldrahtzaun nahm Paul in diesen Kanon auf und verwies bei Letzterem auf den aktuellen Bezug vor dem Kontext der Situation in Ceuta, wo sich das Bild der ´Festung Europa` als Oase des Wohlstands, die sich von der Armut der Restwelt abschirmt, vergegenwärtige. Dem Bild der Inklusion und Exklusion, wie es sowohl aus dem Kalten Krieg gegen den Osten bzw. Westen evident war, als auch aus der Zeit der großen Lager (KZ/Gulag), als der Feind im Inneren ausgeschlossen und vernichtet wurde, widerfahre hier eine ikonographische Wiederbelebung.

Nach Pauls Eröffnungsvortrag begann mit DANIELA KNEIßELS (Paris) Erläuterungen eine ikonographische Annäherung an Europa, die sich den 1950er-Jahren widmete. Vor dem Hintergrund der Kriegserfahrungen und dem noch allgegenwärtig präsenten Missbrauch von Bildern in den Jahren 1939-1945, bildete sich laut Kneißl die Vorstellung einer Einigkeit Europas in den bildlichen Darstellungen dieser Jahre ab (Kneißl wertete vor allem Ausstellungen aus). Exemplarisch für dieses Gefühl zeigte sie Beispiele der Grenzüberwindungen, wie sie auf den Plakaten für den Marshallplan ihren Niederschlag fanden. Bilder fungierten nach Kneißl als ein essentielles Konstrukt Europas, das die Trauerarbeit bisweilen ersetzte durch eine in die Zukunft gerichtete Mythologisierung; eine positive europäische Konnotation als Gegenentwurf zur jüngsten Vergangenheit. Anschließen ließe sich die Frage nach der historischen Wirksamkeit der Propaganda dieser Bilder („Was wollte sie und was hat man erreicht?“), wie Claus Leggewie (KWI, Essen) sie im Anschluss an Kneißls Vortrag aufwarf.

MATTHIAS BRUHN (Berlin) wies mit seinem Vortrag über die Bedeutung von Bildagenturen auf die Problematik der Auswahl von Bildern hin und wie technischer Fortschritt die Verfügbarkeit von Bildern revolutionierte und daran geknüpft völlig neue ökonomische Dimensionen der Vermarktung eröffnete. Bildagenturen fungierten demnach als gigantische Archive verwaltende Institutionen, deren Hauptaufgabe in der Antizipierung gewünschter Abbildungen bestehe. Kriterien für Bilder werden dabei von Inhalten insofern entkoppelt, als zum Beispiel die Dimension der Zeitlosigkeit sich darin ausdrücke, dass Autos auf den Bildern nicht zu sehen sein sollten, da die Modellreihe Rückschlüsse auf Jahr und Ort zulassen könnte. Bilder, so Bruhn, würden zunehmend typisiert, Rückschlüsse auf Realitäten seien zunehmend schwieriger: Der Franzose auf der Gauloisewerbung muss faktisch kein Franzose, sondern kann auch Israeli mit Franzosen zugeordneten Attributen sein: Bilder reduzieren sich demnach zunehmend auf reine Stimulanzfunktionen. Der Sozialpsychologe Harald Welzer (Essen) warf daher nicht zu Unrecht aus dem Auditorium die Frage nach der Verwertbarkeit solcher Bilder für die Geschichtswissenschaft auf. Auch die Bearbeitung und folglich Manipulierung von Bildern im digitalen Zeitalter würde bisher zu wenig problematisiert.

BENJAMIN DRECHSEL (Gießen) rückte die Berliner Mauer als Anschauungsobjekt einer europäischen Erinnerungskultur in den Mittelpunkt seiner Ausführungen, indem er die Verschiedenartigkeit der Perspektiven auf dieses historische Bauwerk nachzeichnete. Drechsel ging dabei chronologisch der sich wandelnden Mauerkonstruktion und deren Abbildungen nach. Seine Recherchen ergaben die häufige Darstellung der Mauer in der europäischen Presse im Jahr 1961 mit Elementen wie „Kämpfern“, also Soldaten, „Stacheldraht“ und „militärischem Gerät“ als prägende Bilder dieser Zeit. Ganz im Gegensatz dazu die Bilder der Wendezeit, in der eine durchweg positive, in Anlehnung an Heinrich August Winkler, sogar die symbolische Gleichsetzung des Endes des SED-Regimes mit dem Sturm auf die Bastille erfolgte: Kommunismus und Monarchismus werden hier, natürlich verkürzt, als Gefängnisse der Menschheit konnotiert, ganz im Sinne Hans-Georg Soeffners prä-argumentativer Symbolik, so Drechsel. Der Tanz sich freuender Ostdeutscher auf der geöffneten Mauer würde an dieser Stelle mit der Metapher und dem damit verbundenen Bildnis des Tanzes auf der Bastille verbunden.

Daran anschließend war der Vortrag von RAMÓN REICHERT (Wien) zu verstehen, der die zweifellos wachsende Bedeutung des bewegten Bildes für historisches Erinnern nach 1945 hervorhob. Er beschrieb eine damit einher gehende Kultur der Betroffenheit beim Zuschauer, die technisch durch die subjektivierende Kameraperspektive, aber auch durch Überblendungen und Schnitte erzeugt werde. Ähnlich wie Bruhn forderte auch Reichert, sein Sujet stärker in das Zentrum der Erforschung kulturellen Erinnerns zu stellen, schließlich seien nicht unbedeutende Teile einer europäischen Erinnerung audio-visuell geprägt worden, so zum Beispiel der 13. August 1961, wie Reichert durch Filmbeispiele verdeutlichte.

PETRA MAYRHOFER (Wien) griff die auf dieser Tagung immer wieder benutzte Metapher der „Festung Europa“ auf und führte die bereits von Gerhard Paul eingangs beschriebenen Bilddimension der europäischen Abschottung gegen Außen auf, die sich vornehmlich gegen eine vermeintlich aus dem Süden anschwemmende „Masse“ von Flüchtlingen richte. Mayrhofer verwies auf die Unterscheidung privater und massenmedial genutzter Bilder, die sich fundamental darin unterschieden, Flüchtlinge entweder als eben benannte Menschenmasse oder als einzelnes Individuum darzustellen. Prozesse institutionellen Wandels hätten dabei einen evidenten Einfluss auf europäische Wahrnehmungsperspektiven, so auch die Osterweiterung, die zum Beispiel in Frankreich das Bild des „plombier polonais“ oder in Deutschland eine generelle Angst vor den „Billig-Arbeitskräften aus dem Osten“ hervorgerufen hätte. Claus Leggewie hob in einer Anmerkung die Gestaltungskraft visueller Darstellungen hervor und verwies in diesem Zusammenhang auf die Chance, über „Bilderdiskurse Handlungsräume zu eröffnen und neu auszuhandeln“.

Gerade vor diesem Hintergrund war wohl auch der Vortrag NICOLE DOERRS (Florenz) zu verstehen, der ihre Sicht eines Europas „von unten“ umriss, indem sie die ikonographische Aufschlüsselung der so genannten „Euro Mayday“ vornahm. Seit 2001 (Mailand) findet an jedem ersten Mai diese transnationale Demonstration überall in Europa statt, deren Bestreben das Erregen von Aufmerksamkeit in der europäischen Öffentlichkeit für die Belange prekär lebender Menschen aus sozial schwachen oder durch Immigration bedingten Hintergründen ist. Das Hauptaugenmerk ihres Vortrags galt jedoch der ikonographischen Verortung dieser Bewegung, die als zutiefst europäisch bezeichnet werden kann, da ihre gesamte Symbolik zwar nationenabhängig variiert, jedoch immer ein klar erkennbares ikonographisches Grundmuster beibehält. Hier ließe sich die Frage nach der Übertragbarkeit eines solchen Einzel-Projektes auf andere Ebenen einer europäischen Öffentlichkeit aufwerfen, doch trägt der Titel des Vortrags „von unten“ diese Bedenken scheinbar bereits in sich. Die Grundidee Doerrs, wonach das Bild an sich mehr Möglichkeiten zur Verständigung eröffne als andere Medien, erweckt jedoch Skepsis, denn schon bei der Interpretation von Bildern wird die Sprache sehr schnell wieder zurückkehren.

FRANCESCA FALK (Basel) griff ebenfalls die Situation der Flüchtlinge und der „Das Boot ist voll“-Metapher auf und beschrieb eine Evidenz des Zeit-Raum-Kontext-bezogenen Aufschlüsselns von Bildern. Die Darstellung der Flüchtlinge als „Schwache“, die europäischen Helfer als zwar durch den Mundschutz vor dem „Kranken“ geschützt, jedoch überlegene und zugleich hilfsbereite „Starke“, diente hierbei als eine Kontrastdarstellung, die ihren Widerpart im Flüchtling als märtyrerhafte „Jesusgestalt“ erfahre. Die immer wieder auftauchende Verwendung des Mundschutzes im Kontext mit Flüchtlingen zum Beispiel in Ceuta, beschrieb Falk dabei überzeugend als ein Bildnis, das beim Betrachter Assoziationen von Naturkatastrophen wie denen von Seuchen nach Überschwemmungen oder der Vogelgrippe hervorrufe. Die übers Internet massenweise Verbreitung von Amateuraufnahmen könne dabei durchaus das Gefühl der Authentizität erhöhen, so Falk. Verschiedenartige Grenzvorstellungen würden durch die bildhaft wahrnehmbaren Darstellungen einer Einteilung in „legale“ und „illegale“ Flüchtlingen bereits in den Köpfen der Betrachter erzeugt und verfestigt.

Die Abendveranstaltung, die den ersten Tag abschloss, wurde durch den Vortrag des ukrainischen Schriftstellers und Journalisten MYKOLA RIABCHUK eröffnet. Riabchuk wies auf die verkürzte Wahrnehmung der Ukraine in den meisten europäischen Ländern hin, in denen eine simple Ost-West-Aufteilung der Ukraine erfolge, die die Komplexität des Landes unterschlüge. Vor allem der von ihm beobachteten Annahme, wonach der Osten des Landes am liebsten wieder unter russischer Führung stehen wolle, widersprach er: „Divided we stand“, so Riabchuk über die vorhandenen Unterschiede, denen aber eine gesamtstaatliche Grundüberzeugung überstehe. Er skizzierte die Außenrolle, die die Ukraine auf der gedanklichen Landkarte („mental map“) vieler Westeuropäer häufig einnehme, die das Land in eine Reihe mit Staaten Nordafrikas oder des Nahen Ostens stelle und völlig außer Acht lasse, welche strategische Bedeutung der innerukrainische „Bürgerkrieg der Werte“ für Europa spiele, gerade vor dem Hintergrund des Verhältnisses Europas zu Russland. Riabchuk verwies in diesem Zusammenhang auf die Funktion eines Rollenmodells, das eine nach westlicher Prägung sich entwickelnde Ukraine spielen könnte und das für innerrussische Emanzipationsbewegungen essentiell wäre. Dieser Emanzipationsprozess sei aber auch in der Ukraine noch nicht vollendet, da die Suche nach einer „anderen“ ukrainischen Identität noch bei weitem nicht erfolgt sei, wobei Riabchuk explizit darauf verwies, dass „Entsowjetisierung“ keinesfalls eine „Entrussianisierung“ bedeute.

Im anschließenden Gespräch mit dem Direktor des KWI, Claus Leggewie, und dem russischen Schriftsteller MICHAIL RYKLIN, wehrte sich Ryklin gegen eine allzu einfache Gegenüberstellung Russlands auf der einen und Europas auf der anderen Seite, bei der Russland als der negative Schatten der Vergangenheit und Europa als Licht der Zukunft stilisiert werde. Zwar betonte Ryklin, dass die Ukraine seit den 1990er-Jahren im Bereich der Demokratisierung mehr Fortschritte gemacht habe als Russland und das letzteres eine Entwicklung hin zu einem autoritären Staat genommen hätte (nicht zuletzt durch das Aufkommen bedeutender Bodenschätze). Doch Ryklin warf der Ukraine auch Doppelzüngigkeit vor, wonach je nach Bedarf mal ein distanzierter und mal ein sich anbiedernder politischer Kurs gegenüber Moskau gefahren würde. Riabchuk seinerseits wies den Vorwurf einer einfachen Einteilung zurück und bestand auf einer grundlegenden Richtungsentscheidung für die Ukraine im Hinblick auf Russland und Europa, wonach die Alternativen ´westliche Werte` und ´russischer Autoritarismus` zur Wahl stünden. Das Bild Europas wird dabei mithin in Verbindung nicht nur des EU-Beitritts, sondern auch mit der Aussicht auf eine Mitgliedschaft in der NATO als zukunftsweisende Perspektiven gesetzt.

Der zweite Tag wurde durch den EU-Kommissar und ehemaligen deutschen Botschafter CHRISTIAN D. FALKOWSKI eingeleitet, der die außereuropäische Wahrnehmung Europas vor allem aus politischer Sicht umleuchtete. Als Mann der Praxis relativierte er viele innereuropäische Diskurse durch den Verweis auf die in vielen Ländern gängige Ansicht, wonach Europa längst als eine übernationale Kraft gesehen werde. Die Problematik der Vielstimmigkeit Europas kollidiere zwar immer wieder mit dieser Definition, werde jedoch eher als natürliches Zeichen eines Entwicklungsprozesses aufgefasst und in seinen Konsequenzen, da wo es möglich ist, „gerne“ zum eigenen Vorteil genutzt. Dass zum Beispiel Pakistan die Verhältnisse zu Europa vor allem über die zur EU-Kommission definiere, offenbart welches Chancenpotenzial durch die fehlende Umsetzung des Lissabonner Vertrags und die, wie im jetzigen Nahostkonflikt bestens veranschaulicht, weiterhin national geprägte Aussenpolitik ausgelassen wird.

Einen historischen Abriss muslimisch-europäischer Schnittstellen seit Mohammed trug STEFAN REICHMUTH (Bochum) vor, der das in vielen Regionen und Zeiten durchaus fruchtbare Spannungsverhältnis anhand verschiedener Fallbeispiele verdeutlichte. So diente in der Zeit nach dem Krimkrieg Europa als Leitbild für Reformprozesse im Schul- und Bildungswesen und zur weiteren Bürokratisierung des Osmanischen Reichs. Auch die Vorstellung von Demokratie, als im Prozess der Säkularisierung gefassten Prinzip, wurde in Bezug auf das Vorbild Europa immer wieder in der Türkei, in Ägypten, Iran und Tunesien aufgegriffen und interpretiert. Gerade aber das Aufkommen des europäischen Faschismus löste in vielen muslimisch geprägten Nationen eine Renaissance islamischer Bewegungen aus, die sich gerne als bessere Alternative zum nun anscheinend zerfallenden Europa begriffen. Den Verstimmungen der durch den 11. September 2001 eingeleiteten Entwicklungen stehen dabei wirtschaftliche Verflechtungen entgegen, die durchaus auch eine neue Form muslimischen Selbstvertrauens erzeugt haben und durch die Finanzspritzen für angeschlagene europäische Traditionsfirmen wie Daimler noch verstärkt würden. Doch auch auf kultureller Ebene hatte Europa in der Geschichte der islamischen Gesellschaften eine vielschichtige Funktion, waren doch zum Beispiel die Klassische Musik und die europäische Romantradition prägend für viele Stilelemente muslimischer Kultur.

Nach der muslimischen Rezeptionsgeschichte Europas gab CHRISTOPH MARX (Essen) einen Einblick in südafrikanische Europabilder in der Zeit zwischen 1948 und 2008. Marx erläuterte in einem überzeugenden Vortrag die thematischen Beziehungsgeflechte dieses Verhältnisses und betonte gerade vor dem Hintergrund der prägenden Auseinandersetzung zwischen Weißen und Schwarzen, wie innereuropäische Themenkomplexe in den südafrikanischen Disput hineinspielten. Die Verunglimpfung des African National Congress (ANC) als kommunistisch durch die weiße Minderheit war daher durchaus als eine Anlehnung an das Bildnis Europas als Bollwerk gegen den Kommunismus interpretiert worden. Gleichzeitig verstand sich die ANC-Bewegung als eine Synthese aus „östlicher Spiritualität“ und „westlichen technischen Fortschritts“, als dessen Erzeugnis unter anderem „britisch-parlamentarische Gepflogenheiten“ gehörten. Gerade nach dem Ende der Apartheid kamen Anlehnungen zum Beispiel an das deutsche föderale Prinzip zum tragen, zunehmend aber auch eine wachsende Abgrenzung in dem Sinne, als Europa nicht mehr als glaubwürdiger Träger christlicher Werte zu sehen sei und eine eigene Interpretation und Auslegung des Christentums gesucht würde.

CHRISTIANE BROSIUS (Heidelberg) richtete ihren Blick Richtung Indien und referierte über die Aneignung europäischer Ikonen durch eine neu entstandene indische Mittelschicht, die sich in ihrer Suche nach Möglichkeiten ihre neu erworbenen Reichtümer nicht nur auszuleben, sondern auch darzustellen und symbolisch auszudrücken, verschiedener Elemente europäischer Vorbilder bedient habe. Die laut Brosius geschätzten 80 bis 250 Millionen dieser neuen Mittelschicht orientieren sich dabei vor allem an den europäisch-US-amerikanischen Freizeitvorstellungen und deren Formen und Variationen. Shopping-Malls, Golfclubs, Bars und Cafés entstünden dabei als Abbild und Ausdruck eines in Kino und Fernsehen erfahrenen Konsumdogmas. Möglichkeiten des Geldausgebens, die Großstadt als Bühne der Freizeit und romantischer Offenbarungen würden demnach in Abbildungen und Abwandlungen als „Vernetzung imaginärer Elemente“ einer Identität einer postkolonialen Gesellschaft neu konstruiert. Europa mutiert hier zu einem Sammelbecken visuell wahrnehmbarer Projektionen von etwas, das in der eigenen Kultur so nicht vorhanden zu sein scheint. Der ehemalige Feind, die Kolonialmacht, wird in einer häufig grotesk anmutenden Überzeichnung internalisiert und in leichter Abänderung überzeichnet. Europa wird dabei zu einem zeitlosen Ort, aus dem sich Stilelemente des 18. und 19. Jahrhundert ebenso mit denen der Nachkriegszeit vermischen lassen. Vieles von dem, was in diesem Prozess von seinem Ursprungsort nach Indien verpflanzt wird, erhält dabei eine vollkommen neue Geschichte.

Anhand von Filmbeispielen skizzierte im Anschluss MARTIN GIESELMANN (Heidelberg) die sich wandelnde Europawahrnehmung Chinas. In Bezug auf den Film „Black Cannon Incident“ (1985) wurde exemplarisch das Bild eines ´typischen` Deutschen in der fiktiven Filmfigur „Hans“ dargestellt, dem vermeintlich deutsche Attribute wie Korrektheit, Effizienz neben physischen Eigenheiten (groß gewachsen, Schnurrbart) zugeschrieben wurden. Auch anhand dreier weiterer Filme (Opium War in den Versionen von 1959 bzw. 1997 und Purple Sunset 2001) führte Gieselmann Beispiele europäischer Eigenarten aus chinesischer Sicht vor und wie diese im Laufe der Zeit Wandlungsprozessen unterliefen. Bestimmte visuelle Darstellungen, wie die der weiblichen Nacktheit im Film, würden demnach als typisch europäische dargestellt, die gleichwohl exotisch und fremdartig für die eigene Kultur anzumuten scheinen und Selbstvergewisserungen eigener kulturell-traditioneller Gewissheiten ermöglichen. Im Gegensatz zu dem Beispiel Falkowskis über Pakistan, würde Europa aus chinesischer Sicht aber weiterhin vor allem als eine Ansammlung von Einzelstaaten wahrgenommen.

Der vorletzte Vortrag wurde von MICHAEL WALA (Bochum) gehalten und setzte sich mit dem Verhältnis zwischen Europa und den USA auseinander. Wala zeichnete das Amerikabild der Europäer als eine historische Sinnsuche, als eine bisweilen mythologisch verklärte Sehnsucht zum Westen hin nach, dessen Manifestationen in die Zeit der nach Religionsfrieden suchenden Pioniere der amerikanischen Gründerzeit bis in die Antike, zum Mythos des sagenumwobenen Atlantis reichten. Amerika, der Westen, war demnach auch immer Metapher für ein paradiesisches, ein ausgewähltes Land, deren Bewohner wie im Garten Eden nackt herumliefen. Dieses Amerikabild wurde jedoch von einer neuen Idee überwunden, als die Nackten nur noch zu Platzhaltern für die auswandernden Europäer umfunktioniert wurden, die wiederum als auserwähltes Volk Gottes das „Menschenfressertum“ mit ihrer Zivilisation verdrängten. Wala beschrieb das amerikanische Europabild in Anlehnung an Thomas Payne als ein Bild der Abgrenzung: „England belongs to Europe, America belongs to itself“. Ein kulturelles Erbe Europas schloss sich in dieser Bildsprache aus, in der Europa Vergangenheit, Amerika Zukunft bedeutete. Der Garten Eden wurde in dieser neuen Version einer mit „Zäunen und gepflegtem Rasen“, so Wala. Seine Hauptthese orientierte sich jedoch an der durch den Irakkrieg 2003 losgetretenen Kontroverse zwischen amerikanischen und europäischen Politikern und Intellektuellen, wonach Europa in Alt und Neu einzuteilen sei und Europa als „Venus“ und die USA als „Mars“ zu begreifen wären. Diese rhetorische Anlehnung an Bemerkungen des damaligen Verteidigungsministers Donald Rumsfeld und des neokonservativen Politikwissenschaftlers Robert Kagan sei demnach Ausdruck eines in den USA schon lange vorhandenen Europabildes, wonach die Europäer ihre eigenen Ideale verraten hätten und sich untereinander in unbedeutenden Streitereien verrennten. Die Hilfen an Deutschland ab den 1920er-Jahren (Dawes- und Youngplan) bis einschließlich des Marshallplans, als auch die Unfähigkeit, die Balkankrise alleine zu lösen, gelten dabei als Symptome eines kontinentalen Zerfallprozesses. Die USA selber sehen sich in dieser Konstellation als diejenigen, die die ursprünglich europäischen Zukunftsentwürfe des 18. Jahrhunderts nicht nur weiterentwickelt hätten, sondern auch dabei seien, diese zu verwirklichen.

Durchaus verwandt mit einigen dieser Gedankengänge zeigten sich die Ausführungen KATHARINA NIEMEYERS (Köln), die sich mit den „Europasehnsüchten und Europamüdigkeiten“ Lateinamerikas auseinandersetzte. Niemeyer ging dabei vor allem auf die Dialektik von Fremdbildern als Selbstbildern ein. Das Bild Europas in der Zeit nach den Unabhängigkeitsbewegungen um 1815 war demnach ein Bild der Abgrenzung, in der Europa als überholt, weil ins monarchische zurückfallend, betrachtet wurde. Doch schon im Prozess der Abgrenzung und auf der Suche nach neuen Gesellschaftsmodellen sei Europa und insbesondere Frankreich mit seiner um 1900 als Weltstadt blühenden Metropole Paris wieder ins Zentrum der Sehnsüchte gelangt. Vor dem Hintergrund des europäischen Faschismus setzte jedoch eine weitere „Binnendifferenzierung“ in Lateinamerika ein, als deren wohl bekanntester intellektueller Vertreter Jorge Luis Borges gilt. Die aufkommenden Diktaturen orientierten sich daher auch weniger an den faschistischen Autoritarismen des 20. Jahrhunderts als eher an den bürgerlich-autoritären Vorbildern des europäischen 19. Jahrhunderts. Gerade über die Literatur, zum Beispiel die des Roberto Godofredo Arlt (1900-1942), wurden Mythen eines Europas des Wohlstands immer wieder entzaubert, Darstellungen von Armut in Spanien in dieser Zeit, veränderten überkommene Vorstellungen. Auch in den Berichten Rubén Daríos (1867-1916) werde das Bild eines dekadenten Europas der Maßlosigkeit und Werteverkommenheit skizziert, so Niemeyer, das mit den Sehnsuchtsvorstellungen einer nach Ideen und Zukunftsentwürfen dürstenden lateinamerikanischen Bevölkerung kollidierte.

In der Abschlussdiskussion stellte HELMUT KÖNIG (Gießen) die grundsätzliche Frage nach der Notwendigkeit eines einheitlichen Europabildes und gab seine Antwort umgehend selbst, indem er nicht zuletzt der „Ambivalenz“ als einem prägenden Element dieses Kontinents den Vorzug gab. Auch Benjamin Drechsel begann seine abschließenden Einschätzungen mit einer Frage, die er in Bezug auf den Historikertag 2006 formulierte: „Was kriegen wir heraus, wenn wir nach den Bildern fragen?“ Drechsel fasste den Bildbegriff dabei als inklusiv auf und betonte noch einmal die fehlende oder doch zumindest mangelnde Wahrnehmung von bewegten und nichtbewegten Bildern als visuelle Erinnerungsorte und Ikonen. Der emeritierte Althistoriker Justus Cobet (Essen) betonte, in einer aus dem Auditorium heraus formulierten Anmerkung, die Bedeutung des hermeneutischen Zugangs zu Bildern, wie er zu Texten üblich sei. Er verwies ferner auf die Aufgabe der Historiker, in Bezug auf die Visual History, die Forschungsfragen nicht aus den Augen zu verlieren und keine Methodendiskussion zum Selbstzweck zu betreiben. Ebenfalls im Auditorium zugegen, wies Friedrich Jaeger (Essen) in diesem Sinne auf die zugängliche „Handhabbarkeit“ dieses Sujets und beschrieb darüber hinaus den Ästhetikbereich als einen eigenen essentiellen Bedeutungskomplex. Daran anschließend betonte Claus Leggewie die wachsende Relevanz von interdisziplinären Instituten, die als einzige dazu in der Lage wären, diesen Anforderungen einer komparatistischen Herangehensweise an einen Themenkomplex wie den der Europabilderkonstruktion gerecht zu werden: „Auch Trash muss neben der Literatur und den üblichen Quellen als eigene Quelle erkannt und zugelassen werden.“

Konferenzübersicht:

Gerhard Paul
-Bildergedächtnis und Bilderwelt Europas. Bemerkungen aus der Sicht der Visual History

Daniela Kneißl
-Europa darstellen – Europa bauen? Leitlinien der Visualisierung Europas und der Europäer in den 1950er-Jahren

Matthias Bruhn
-Bilder, European Style. Die Konstruktion Europas im System der Bildagenturen

Benjamin Drechsel
-Berliner Balanceakt. Anmerkungen zur europäischen Dimension von Mauerbildern

Ramón Reichert
-Die Medialisierung der Grenze: Von der Berliner Mauer zur EU-Grenze in Ceuta

Petra Mayrhofer
-„Festung Europa“? Grenzikonographien im europäischen Raum

Nicole Doerr
-Bilder des anderen Europas – Emergente transnationale Öffentlichkeitsräume „von unten“

Francesca Falk
-Bootsflüchtlinge & Bildgedächtnis: Ikonen „gefährdeter“ Grenzen

Christian D. Falkowski
-Die Außenbeziehungen der Europäischen Union – Multilaterale Politik in einer sich ändernden Welt

Stefan Reichmuth
-Zwischen Identifikation und Trauma: Schnittstellen im Verhältnis der Muslime zu Europa

Christoph Marx
-„Europeans only“. Europa als Leitbild, Vorbild und Zerrbild in Südafrika 1948-2008

Christiane Brosius
-Von Enklaven und Kosmopoliten: Zur Rhetorik des Westens im neuen Indien

Martin Gieselmann
-Europe Remediated: Europabilder in Geschichte und Kultur Chinas

Michael Wala
-Europäisierung Amerikas – Amerikanisierung Europas: Bilder und Selbstbilder in der europäisch-amerikanischen Beziehungen

Katharina Niemeyer
-„Warum will Europa uns so nah sein?“ Lateinamerikanische Schriftsteller zwischen Europasucht und Europamüdigkeit

Der Abendvortrag am ersten Abend wurde gehalten von Mykola Riabchuk
-Divided We Stand: Ukraine at the Cultural and Geopolitical Crossroads

Das anschließende Gespräch fand zwischen Riabchuk, Mykola Ryklin und Claus Leggewie statt.