Veränderung der Wissenskultur durch Medien?

Veränderung der Wissenskultur durch Medien?

Organisatoren
Kulturwissenschaftliches Forschungskolleg 435 "Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel"
Ort
Frankfurt am Main
Land
Deutschland
Vom - Bis
02.07.2003 - 03.07.2003
Url der Konferenzwebsite
Von
Tim Schanetzky, Lehrstuhl für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Ruhr-Universität Bochum Lehrstuhl für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 44680 Bochum; Jan-Otmar Hesse

Das dynamische Wechselverhältnis von Wissenskultur und gesellschaftlichem Wandel ist seit nunmehr fünf Jahren der Gegenstand des Frankfurter Forschungskollegs. Untersucht wird dieser Zusammenhang in 13 Teilprojekten über sämtliche Epochen von der Früh- bis zur Zeitgeschichte und in interdisziplinärer Kooperation von Historikern, Philosophen, Ethnologen, Soziologen, Rechtshistorikern und Ökonomen. Medien spielen in den Teilprojekten dabei eine sehr unterschiedliche Rolle. Der Workshop fragte danach, welche Funktionen Medien bei der Entstehung gesellschaftlichen Wissens erfüllten und noch erfüllen. Inwiefern bewirkten Medien also Veränderungen der zeitgenössischen Wissenskulturen? Und wie weit waren derartige Modifikationen an den gesellschaftlichen Wandel angebunden? Unter diesen Leitfragen nahmen auf der einen Seite Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Forschungskollegs die Rolle von Medien im Gegenstandsbereich ihrer Teilprojekte in den Blick - von den Fachzeitschriften im 19. Jahrhundert, über die Dioramen in Naturkundemuseen des Kaiserreiches, Radiosender und Zeitschriften in gegenwärtigen Indianerreservationen in den USA bis hin zum Fernsehen. Diesen Vorträgen der Frankfurter Forschergruppe standen auf der anderen Seite einige Beiträge auswärtiger Gäste gegenüber, die sich den gleichen Leitfragen mit den Methoden der Medienwissenschaften zuwandten.

Den Auftakt machte der Bochumer Historiker FRANK BÖSCH mit einem Vortrag zum Thema "Wissensproduktion durch Medienskandale? Historische Überlegungen." An Beispielen des wilhelminischen Kaiserreiches zeigte Bösch die unterschiedlichen Möglichkeiten auf, durch die Skandale neues Wissen produzieren können. So brachte 1897 der Skandal um Carl Peters' Kolonialregime in Ostafrika zugleich auch zahllose Berichte über Kultur und Natur Afrikas in die deutschen Zeitungen. Und auf den Capri-Skandal um Friedrich-Alfred Krupp im Jahr 1902 folgten Zeitungsberichte über die landschaftlichen Reize der Mittelmeerinsel. Zumindest zur Aktualisierung und Popularisierung vorhandener Wissensinhalte konnten Skandale also beitragen. Die Institutionen der Skandalprozedierung, zu denen Bösch nicht nur die Zeitungen sondern auch die Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlungen zählte, verschoben aber auch den Bereich des "Sagbaren", etwa wenn im Kontext des Eulenburg-Skandals ausführliche Beschreibungen oder Karikaturen über homosexuelle Praktiken in den Zeitungen zu lesen bzw. von Experten vor Gericht zu hören waren. Den medialen Schub erhielten diese Skandale dabei nicht etwa von der populären Presse der Generalanzeiger, sondern gerade die großen liberalen Blätter hatten mit ihrer umfassenden Berichterstattung entscheidenden Anteil an dieser Dimension der Skandale. Einen gelungeneren Auftakt des Workshops hätte man sich als Veranstalter kaum wünschen können, denn in geradezu idealtypischer Weise bot sich das Thema "Skandal" an, um die Transferkanäle zwischen Medien und Gesellschaft, zwischen Wissen und Gesellschaft mit und ohne Medien durchzuspielen, was in der lebhaften Diskussion ausführlich betrieben wurde.

Der zweite Veranstaltungstag begann mit den Vorträgen der beiden Medienwissenschaftler Markus Stauff und Ralf Adelmann (beide Bochum), die am Beispiel des digitalen Fernsehens (Stauff) und der Debatte über die "visuelle Kultur" (Adelmann) die analytische Reichweite eines medienwissenschaftlichen Wissensbegriffs zur Schau stellten. Anhand elektronischer Programmführer, wie sie das digitale Fernsehen verwendet, wies MARKUS STAUFF nach, daß Informationen erst in Verbindung mit gesellschaftlichen Praktiken zu gesellschaftlichem Wissen werden und in Bezug auf das Programm Strukturierungsleistungen vollbringen, die sich fast permanent ändern. Digitales Fernsehen wurde hier nicht als ein Medium der Wissensproduktion oder des Wissenstransfers interpretiert, sondern als Funktion der gesellschaftlichen Wissensstrukturierung. RALF ADELMANN referierte mit einem ganz ähnlichen Wissensbegriff über die Veränderung des Wissens durch dessen verstärkte Visualisierung. Am Beispiel einer TV-Dokumentation über das Zugunglück von Eschede, die eine aufwendige Computersimluation des Unfalls mit Zeitzeugeninterviews kombinierte, konnte Adelmann zeigen, wie stark das via Fernsehen vermittelte Wissen von dem Unglück durch Stilmittel geprägt ist, die dem Genre der Spiel- und Actionfilme entlehnt sind. Einen stärker dem gesellschaftlichen Wandel zugerechneten Medienbegriff legte CARSTEN KRETSCHMANN (Frankfurt am Main) seinem Vortrag über die Verwendung von Dioramen in den Naturkundemuseen im ausgehenden 19. Jahrhundert zugrunde. Den plötzlichen Aufschwung dieses Mediums, beispielsweise in Form von Tierensembles vor gemalten dreidimensionalen Hintergründen, führte Kretschmann letztlich auf ein gesellschaftliches Bedürfnis zurück, welches dazu führte, daß ein altbekanntes Medium der Visualisierung verstärkt aufgegriffen wurde. Bis zum Film war es dann nur noch ein kurzer Schritt.

DAGMAR STEGMÜLLER (Frankfurt am Main) beschäftigte sich mit der Auseinandersetzung zwischen den Historikern Ludwig Häusser und Onno Klopp in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Dabei überlagerten sich wissenschaftliche Motive mit dem politischen Konflikt zwischen "Großdeutschen" und "Kleindeutschen", wobei der Streit in Fachzeitschriften ebenso wie in den populären Blättern ausgetragen wurde. Die Wahl des Mediums, so Stegmüllers Fazit, hatte dabei jedoch keine Rückwirkungen auf die Produktion des wissenschaftlichen Wissens in der Geschichtswissenschaft. Für die Rechtswissenschaft kam MICHAEL WIECZORREK (Frankfurt am Main) bei seiner Untersuchung von Fachzeitschriften zu einen ähnlichen Ergebnis. Allerdings ist in der Rechtswissenschaft gerade im 19. Jahrhundert eine deutliche Strukturveränderung des wissenschaftlichen Austausches zu beobachten, in der die Fachzeitschriften rasant an Bedeutung gewannen. Freilich ging ihr Aufstieg auch auf die wirtschaftlichen Interessen der Verleger zurück, worunter bisweilen die wissenschaftliche Qualität leiden konnte - was wiederum die Herausgeber zu erheblicher Eigenproduktion zwang. JUDITH KEILBACH (Berlin) beschäftigte sich mit einem anderen Präsentationsmedium von wissenschaftlichem Wissen, der Geschichtsdarstellung im Fernsehen. Am Beispiel der ZDF-Reihe "Holokaust" (sic!) stellte sie fest, daß es sich bei den Geschichtsserien des vergangenen Jahrzehnts um unspezifische Ansammlungen historischen Wissens ohne eindeutige These handelte. Die Sendungen erhielten hierdurch die Funktion einer "Konsensmaschine", welche jeweils die gesamte Bandbreite der gesellschaftlich akzeptierten Standpunkte zum Thema Holocaust markiert.

HENRY KAMMLERs (Frankfurt am Main) Vortrag behandelte ein grundlegendes Problem ethnologischer Forschung, bei dem es sich letztlich um ein medienhistorisches handelte: Die Übertragung oraler Kultur in schriftliche Zeugnisse bezeichnet für die historische Ethnologie einen Medienwechsel, der die Bewertung von Ergebnissen schwierig macht. CORA BENDER (Frankfurt am Main) führte es in ihrem Vortrag über die Ojibwa-Reservation "Lac Courte Oreilles" in Wisconsin letztlich auf die virtuose Handhabung von modernen Medien zurück, daß die indigene Kultur im vergangen Jahrhundert eben nicht unterging, sondern sich ihre Eigenständigkeit bewahren konnte. Glaubensstreitigkeiten oder die personelle Konstruktion von "heiligen Männern" werden dabei eben auch über Medien ausgetragen, was den Zugang zu den indigen kontrollierten Medien zur Machtfrage werden läßt. Am Ende der Tagung referierte THOMAS KAILER (Frankfurt am Main) über die Erfassung von inhaftierten Verbrechern in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts nach dem System des bayerischen Gefängnisarztes Theodor Viernstein. Den detaillierten Fragebogen der kriminalbiologischen Untersuchung, mit dem die körperlichen und psychischen Kennzeichen von "Gewohnheitsverbrechern" identifiziert werden sollten, interpretierte Kailer dabei in doppelter Weise als Medium: Explizit diente er der Sammlung empirischer Daten über die Täter und zeichnete damit in seiner zehntausendfachen Überlieferung eine Topographie der Devianz. Implizit bildete er hingegen in jeder einzelnen Rubik das normative Wissen über die "Normalität" der Gesellschaft ab.

Der Frankfurter Workshop konnte unterstreichen, daß das Thema "Medien" derzeit nicht ohne Grund boomt, und das nicht allein in den Geschichtswissenschaften. Seinen spezifischen Reiz erhält es gerade dadurch, daß quer zu den Grenzen zwischen Disziplinen und Epochen nach "Medienwirkungen" gefragt werden kann. Jedenfalls verschwand im Verlauf des Workshops das Fragezeichen im Titel der Veranstaltung: In ganz unterschiedlichen empirischen Zusammenhängen wurde deutlich, daß Medien durchaus zur Wissensproduktion, zu neuen Mechanismen der Wissensstrukturierung und damit letztlich zu veränderten Wissenskulturen beitragen können - aber eben nicht müssen. Diese Einschränkung verweist auf den Faktor des gesellschaftlichen Wandels, der im Verlauf der Diskussionen immer wieder angesprochen wurde: Auf die anhaltend debattierte Frage, ob neue Formen der Medialisierung auf veränderte gesellschaftliche Bedürfnisse reagieren oder diese erst selbst schaffen, waren keine eindeutigen Antworten zu finden. Diese Paradoxie kann am Ende nur in die Zeit entfaltet werden und steht damit der Historisierung offen - einer Historisierung, die angesichts der um die Schlagworte "Internet", "Ego-Shooter" oder "neuer Analphabetismus" kreisenden aktuellen Hysterie durchaus besänftigende Wirkungen haben kann.