Militär, Krieg und Gesellschaft in Niedersachsen im 19. und frühen 20. Jahrhundert

Militär, Krieg und Gesellschaft in Niedersachsen im 19. und frühen 20. Jahrhundert

Organisatoren
Arbeitskreis für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen
Ort
Hannover
Land
Deutschland
Vom - Bis
29.11.2008 -
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Von
Wolfgang Brandes, Stadtarchiv Bad Fallingbostel

Die 20. Tagung des Arbeitskreises mit dem Thema „Militär, Krieg und Gesellschaft in Niedersachsen im 19. und frühen 20. Jahrhundert“ wurde von RALF RATHS (Hannover) mit einem Einführungsvortrag zu neuen Perspektiven der Militärgeschichte eingeleitet. Raths fragte nach den Produzenten von Militärgeschichte, die als Unterdisziplin der Allgemeingeschichte von Befindlichkeiten geprägt sei, wie kein anderes Feld. Militärgeschichte wird oftmals von Militärs geschrieben. Während der Wunsch, aus vergangenen Kriegen für zukünftige militärische Auseinandersetzungen zu lernen, alt sei, habe die fachwissenschaftliche Perspektive erst allmählich vordringen können. Untersuche man, für wen Militärgeschichte produziert werde, so rücke als Besonderheit die große Anzahl von ‚Fans‘ ins Auge. Sie konsumierten populärwissenschaftliche Darstellungen von Schlachten, Truppenteilen und Waffentechnik. Daneben stünden ambitionierte historiographisch-fachwissenschaftliche Arbeiten. Der Produktionsprozess von Militärgeschichte weise im internationalen Vergleich Unterschiede auf, die auch Rückschlüsse auf die Selbstwahrnehmung der Produzenten erlaubten. Während in den USA War-Historians stark verbreitet seien, habe in Deutschland eine Anbindung an die zivile Fachwissenschaft mit einer breiten Vielfalt an Methoden Fuß gefasst.

Militärgeschichte sei also ein zersplittertes Feld mit äußerst unterschiedlichen Produzenten. Angesichts der Verschiedenheit der Ansätze sei eine Fokussierung erforderlich, bei der traditionelle Felder wie Operationsgeschichte nicht außer Acht gelassen werden dürften. Technikgeschichte, Uniformkunde und Waffenkunde könnten der Militärgeschichte dienen wie andere historische Hilfswissenschaften der allgemeinen Geschichte. Blicke man in die Zukunft, dann müsse sich die Militärgeschichte schärfer definieren, um stärker legitimieren zu können. Sie müsse zu diesem Zweck auch auf Methoden zurückgreifen, die sie schon abgelegt habe. Sie dürfe aber keinen Rückschritt in der Methodenvielfalt machen. Sie müsse eher wegen ihrer Fokussierung auf ein Feld offen bleiben für die Entwicklung der Allgemeingeschichte und benachbarter Disziplinen.

FRANK EISERMANN (Bremen) sprach über „Die ‚Barbareskenstaaten’ und die Forderungen der Hansestädte Bremen, Hamburg und Lübeck nach einer Deutschen Bundesflotte 1816“. Als eine frühe Vorläuferin der Kriegsmarine des deutschen Reiches erfreue sich die von der Nationalversammlung in der Paulskirche 1848 beschlossene und bis 1852 existierende „Reichsflotte“ einer gewissen Bekanntheit. Weitgehend in Vergessenheit geraten sei hingegen der Versuch der deutschen Hansestädte Hamburg, Lübeck und Bremen, in den ersten Jahren des Deutschen Bundes, den Aufbau einer Deutschen Bundesflotte voranzutreiben. In den Jahren unmittelbar nach dem Sturz Napoleons, zwischen 1814 und 1820, hätten zahlreiche Stimmen in Europa die Bildung eines kollektiven, gegen die „Barbareskenstaaten“ – so nannte man im zeitgenössischen Europa die neuzeitlichen Staaten des Maghreb – gerichteten kollektiven Sicherheitssystems bzw. die Errichtung einer gesamteuropäischen Kolonie an der Küste Algeriens gefordert. Anders als auf europäischer Ebene, wo vor allem nichtstaatliche Netzwerke mit solchen Forderungen hervorgetreten seien, hätten in Deutschland vor allem die Senate der Hansestädte Bremen, Hamburg und Lübeck, allem voran der damalige Bremer Senator und spätere Bürgermeister Johann Smidt, an der Spitze dieser Bewegung gestanden. Erkläre man die Motive der Kampagne aus der politischen Konstellation der Nachkriegszeit, erweise sich diese als Versuch relevanter Teile der europäischen Eliten, dem Anspruch Großbritanniens auf die Herrschaft über die Weltmeere – und nicht zuletzt damit verbunden dem Zugang zu den Reichtümern der außereuropäischen Welt – das Projekt eines gemeinsamen europäischen Kolonialismus auf der Grundlage eines geeinten Europas entgegen zu stellen. In Deutschland hätten die Hanseatischen Senate diese Motive mit dem Versuch verbunden, über die Forderung nach dem Aufbau einer deutschen Flotte und einer gemeinsamen Außenpolitik des Deutschen Bundes, für die Bildung eines an den besonderen Interessen des in der Hansestadt herrschenden Handelsbürgertums orientierten deutschen Nationalstaats zu mobilisieren.

DANIEL WESSELHÖFT (Braunschweig) stellte „Die Garnison Braunschweig im 19. Jahrhundert“ vor. Die Stadt Braunschweig sei mit ihrer Einnahme durch die welfischen Fürsten im Jahre 1671 zur Garnisonsstadt geworden, nachdem sie Jahrhunderte lang ihre Unabhängigkeit von den Herzögen htte behaupten können. Von diesem Zeitpunkt an seien immer Truppen in der Stadt Braunschweig stationiert gewesen, im 17. und 18. Jahrhundert zum Teil weit über 5000 Mann, im 19. Jahrhundert meist nur um die 1000-2000 Mann, was bei einer Einwohnerzahl von 34.000 im Jahr 1831 immerhin 3 bis 6 Prozent ausgemacht habe. Die soziale Situation der einfachen, konskribierten Soldaten sei dabei eher schlecht gewesen, während die Berufssoldaten – Unteroffiziere und Offiziere – weniger Grund zum Klagen gehabt hätten. Bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert seien die ersten Kasernen in der Stadt eingerichtet worden, da die Einquartierung der Truppen in Bürgerhäusern immer wieder zu Beschwerden durch die Bewohner geführt habe. Doch erst mit dem Ende der napoleonischen Kriege und der radikalen Truppenminderung nach 1815 hätten die Soldaten des braunschweigischen Korps vollständig in Kasernen untergebracht werden können.

Ab 1816 waren die Soldaten vollständig aus den Bürgerhäusern verschwunden, doch habe der Anteil der Soldaten an der städtischen Bevölkerung so hoch gelegen, dass sie weiterhin eine wichtige wirtschaftliche und soziale Gruppe in der Stadt bildeten. Der Wachposten der Soldaten an den Toren und neuralgischen Punkten der Stadt (Theater, Schlossplatz, etc.) und ihr Einsatz für Polizeiaufgaben hätten immer für einen direkten Kontakt der Soldaten mit der Bevölkerung gesorgt, aber auch Konfliktsituationen verursacht. Als wirtschaftlicher Faktor wäre die Garnison nicht zu unterschätzen, schließlich hätten selbst in den Zeiten der Beurlaubung der meisten Soldaten an die 1000 Mann täglich mit Lebensmitteln versorgt, die Kasernen unterhalten und in regelmäßigen Abständen neue Uniformstücke und Ausrüstungen beschafft werden müssen.

JASPER HEINZEN (Cambridge) referierte zum Thema „’Jederzeit Kampf bereit – Für des Reiches Herrlichkeit’? Kriegervereine und staatliche Integration in der Provinz Hannover während des Kaiserreichs“. Jasper beschäftigte sich eingehend mit den Auswirkungen der Annexion Hannovers auf die Entwicklung der regionalen, preußischen und nationalen Identität der Provinz während des Kaiserreichs. Eine Gesellschaftsgruppe, die in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle einnehme, seien die Kriegervereine. Was sie als Studienobjekt so interessant mache, sei die Tatsache, dass sie gleichzeitig Spiegel und Katalysatoren von Vergangenheitsbewältigung und Sinnstiftung waren.
Die preußische Militärpflicht sei in den Jahren nach der Annexion durchaus unbeliebt gewesen, wie die erhöhten Auswanderungszahlen und Wehrdienstverweigerung belegten, aber andererseits habe der Deutsch-Französische Krieg der männlichen Bevölkerung der altwelfischen Landesteile die Möglichkeit geboten, das militärische Erbe der Vorfahren weiterzuführen und gleichzeitig eine neue Beziehung zu den Hohenzollern als den Führern der geeinigten deutschen Nation zu entwickeln. Gleiches gelte auch für die westlichen Landesteile der Provinz, obwohl dort stärker entwickelte prussophile Sympathien andere Identifikationsmuster vorgegeben haben. Daraus entwickelte sich für den Vortrag eine dreidimensionale Fragestellung: Es wurde gezeigt, welches Selbstverständnis die Kriegervereine und deren Mitglieder besaßen, inwiefern letztere sich einspannen ließen für die Zwecke der obrigkeitlichen Herrschaftssicherung, und letztendlich, welchen politischen wie auch sozialen Stellenwert das militärische Vereinswesen in der hannoverschen Gesellschaft einnahm.

MICHAEL SCHÜTZ (Hildesheim) berichtete über „Das Kriegsmuseum der Stadt Hildesheim im Ersten Weltkrieg“. Das vom Hildesheimer Magistrat am 22. Februar 1915 beschlossene Kriegsmuseum, „das die Erinnerungen an den uns aufgezwungenen Krieg für unsere Nachkommen bewahren soll“, sei – im Unterschied zu den meisten, an andere Museen angegliederten Kriegssammlungen – als eigenständige Neugründung neben dem schon existierenden Roemer- und dem Pelizaeus-Museum geplant worden. Gesammelt werden sollten alle Gegenstände, die „der Nachwelt ein Bild von dem jetzigen gewaltigen Ringen um Deutschlands Sein oder Nichtsein geben“ konnten. Darunter habe der Magistrat Erinnerungen in Wort und Bild, Druckschriften, Briefe, beschriebene und unbeschriebene Postkarten, Bilder, Karten und Pläne, Uniformstücke, Waffen und dergleichen verstanden. Mit einem Zeitungsartikel vom 26. Februar 1915 habe der Magistrat die Bevölkerung über die Errichtung des Museums informiert und die dringende Bitte geäußert, dabei nach Kräften behilflich zu sein. Die Leitung und der Aufbau der Sammlung seien dem Stadtsyndikus und einem Oberlehrer übertragen worden. Neben den Mitbürgern seien auch die Soldaten aufgefordert worden, Objekte zu übersenden.

Eine erste Ausstellung erfolgte wohl schon 1915 im Knochenhauer-Amtshaus. 1916 hatte sich die Präsentation zu einem zwar räumlich eingeschränkten, aber respektablen kleinen Museum im Amtshaus entwickelt. Mit zunehmender Dauer des Krieges habe das Interesse der Bevölkerung an dem Museum jedoch nachgelassen,; 1920 wurde es aufgelöst. Die Bestände wurden teils der öffentlichen Bücherei (Bücher und bücherartige Drucksachen), teils dem Roemer-Museum (Uniformen, Waffen, Modelle und Kunstgegenstände) und teils dem Stadtarchiv übergeben. Bei der Neuverzeichnung der Plakatsammlung wurde man wieder auf den Inventarstempel des Kriegsmuseums aufmerksam. Ein „Bestand 572 Kriegsmuseum“ wurde neu gebildet, in den man zunächst die Plakate, schließlich aber auch zahlreiche Exponate aus anderen Sammlungsbeständen übernommen hatte. Derzeit umfasst der Bestand Kriegsmuseum ca. 800 Plakate und Anschläge, 150 Zeitungen und Zeitschriften, 150 Karten und Pläne, 300 Postkarten, 425 Bücher, Broschüren und Druckschriften, 300 Handzettel, Reklamezettel, Aushänge und Fotos sowie 75 Feldpostbriefe.

GERHARD WIECHMANN (Oldenburg) widmete sich dem Verhältnis von „Militär, Einwohnerwehren, Sicherheitspolizei und ‚Schwarzer Reichswehr’ im Freistaat Oldenburg 1918-1924“. Wiechmann legte dar, dass die Umwandlung des regionalen Militärs als Faktor der „inneren Ordnung“ im Freistaat Oldenburg relativ unproblematisch erfolgt sei. In der Übergangsphase 1919/20 hätten die dem Landesausschuss für Einwohnerwehren unter Führung des Arbeiterrats und SPD-Landtagsabgeordneten Friedrich Graeger (1875-1933) unterstehenden Einwohnerwehre eine zentrale Rolle gespielt. Durch den relativ zügigen Aufbau der Sipo/Orpo unter Oskar Wantke seien sie aber obsolet geworden. Obwohl die preußische Sipo/Schupo das Vorbild für die oldenburgische Orpo gewesen sei, habe sie jedoch nie deren Grad an „Militarisierung“ erreicht. Jedenfalls habe Wantkes Nachfolger Sassenberg 1932 moniert, dass die militärische Ausbildung in den letzten Jahren zu kurz gekommen sei und intensiviert werden müsse.

Einen Höhepunkt der Orpo-Aktivitäten hatte die Niederschlagung bzw. Verhinderung des „Hamburger Aufstands“ der KPD im Freistaat Oldenburg am 24./25. Oktober 1923 gebildet. Diese Vorgänge seien bis heute nicht restlos geklärt, zumal die Gerichtsakten der beiden gegen die Aufständischen geführten Prozesse nicht überliefert wären. Aus dem Kontext lasse sich entnehmen, dass die Landesregierung nicht daran interessiert gewesen sei, die Angelegenheit hochzuspielen (Verurteilung der Rädelsführer nur wegen Landfriedensbruchs und nicht wegen Hoch- und Landesverrats), das Strafmaß jedoch ausreichen sollte, der lokalen KPD einen empfindlichen Schlag zu versetzen, um sie von weiteren revolutionären Aktivitäten abzuhalten. Die Umstrukturierung des alten Reichsheers in die neue Reichswehr habe aufgrund der Stärkevorgaben des Versailler Vertrags auch in Oldenburg Grund für eine drastische Truppenreduzierung von der Stärke der Vorkriegszeit (ca. 4.000-4.500 Mann) auf gut 1.000 ab 1920 gegeben. Dies scheine mit einem erheblichen Verlust unter anderem an Kaufkraft einhergegangen zu sein, da die Gemeinden, vor allem Osternburg, erhebliche Einnahmeeinbußen befürchtet hätten und daher an einer Garnisonstärke möglichst in Höhe der Vorkriegszeit interessiert gewesen wären.

Ralf Raths einleitende These vom Facettenreichtum und der Methodenvielfalt der Militärgeschichte in Deutschland wurden durch die Vorträge und die lebhafte Diskussion unterstrichen. Ansätze für weitere Forschungen gibt es mehr als genug – einige davon wird der Arbeitskreis für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen in seiner Herbsttagung 2009 aufgreifen. Dann wird der Schwerpunkt im 20. Jahrhundert liegen.

Konferenzübersicht:

Ralf Raths (Hannover): Einführungsvortrag zu neuen Perspektiven der Militärgeschichte

Frank Eisermann (Bremen): Die „Barbareskenstaaten“ und die Forderungen der Hansestädte Bremen, Hamburg und Lübeck nach einer Deutschen Bundesflotte 1816

Daniel Weßelhöft (Braunschweig): Die Garnison Braunschweig im 19. Jahrhundert

Jasper Heinzen (Cambridge): „Jederzeit Kampf bereit – Für des Reiches Herrlichkeit“? Kriegervereine und staatliche Integration in der Provinz Hannover während des Kaiserreichs

Michael Schütz (Hildesheim): Das Kriegsmuseum der Stadt Hildesheim im Ersten Weltkrieg

Gerhard Wiechmann (Oldenburg): Militär, Einwohnerwehren, Sicherheitspolizei und „Schwarze Reichswehr“ im Freistaat Oldenburg 1918-1924


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