Geheimliteratur und Geheimbuchhandel in Europa im 18. Jahrhundert. 15. Jahrestagung des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Bibliotheks-, Buch- und Mediengeschichte

Geheimliteratur und Geheimbuchhandel in Europa im 18. Jahrhundert. 15. Jahrestagung des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Bibliotheks-, Buch- und Mediengeschichte

Organisatoren
Wolfenbütteler Arbeitskreis für Bibliotheks-, Buch- und Mediengeschichte; Leitung: Prof. Dr. Christine Haug (München)
Ort
München
Land
Deutschland
Vom - Bis
08.12.2008 - 10.12.2008
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Von
Christine Haug, Institut für Germanistik, Ludwig-Maiximilians-Universität München

Grundsätzlich gestaltet sich die Organisation des Geheimbuchhandels im deutschsprachigen Raum anders als im benachbarten Frankreich. Das wissenschaftliche Arbeitsgespräch richtete sein Augenmerk dezidiert auf die Durchlässigkeit der Grenzen und der regional differenten Zensurbestimmungen, die einen florierenden Handel mit verbotener Literatur überhaupt erst erlaubten und die Kommunikation im Verborgenen stimulierten. Im Gegensatz zu Frankreich wurden die politisch und religiös diskreditierten Schriften im deutschsprachigen Buchhandel öffentlich in Katalogen und Gelehrtenjournalen beworben, wobei sich die Händler einerseits über die bürokratische Schwerfälligkeit der Zensurbehörden bewusst waren, andererseits sehr geschickte Verschleierungsstrategien entwickelten, um die Verfolgungsbehörden gezielt in die Irre zu leiten. Gegenstand des Arbeitsgesprächs waren also einerseits einschlägige Texte des literarischen Untergrunds, zum Beispiel Werke der französischen und deutschen Radikalaufklärung oder pornographisch-erotische Schriften, aber auch die sich im Verborgenen entfaltenden Kommunikations- und Schreibstrategien, die Herausbildung von sehr effizienten Distributionssystemen, deren besonderes Merkmal ihre Internationalität war. Daher galt es auch, die Beziehungsgeflechte im gesamteuropäischen Raum, hier insbesondere in den osteuropäischen Ländern und die Netzwerke der international agierenden Akteure des subversiven Milieus herauszuarbeiten.

Die Erforschung von Geheimliteratur und ihrer transnationalen Vertriebswege im 18. Jahrhundert können nur durch die intensive transdisziplinäre Zusammenarbeit verschiedener Fächer gelingen. Ein Hauptanliegen dieses Arbeitsgesprächs war daher die längst überfällige Zusammenführung von Philosophiehistorikern, Buch- und Literaturwissenschaftlern, Vertretern der Komparatistik und Romanistik.

Zunächst bot WILHELM HAEFS (Bayreuth/München) in seinem Vortrag „Zensur im 18. Jahrhundert – die Verhinderungsstrategien der Polizeibehörden“ einen Forschungsaufriss über die Systematik der Zensur und eine vergleichende Analyse der territorial differenten Literaturpolitik. THOMAS BREMER (Halle) zeigte in seinem Vortrag „Importstrategien verbotener Aufklärungsliteratur nach Spanien“ die Bedeutung des südwesteuropäischen Sprachraums – im Fokus standen Spanien und Portugal – für den Handel mit verbotenem Lesestoff auf, hier insbesondere der Handel mit französischen Texten der Radikalaufklärung, wobei sich Alicante als besonders zensurliberaler Ort und wichtiger Umschlagplatz für verbotene Lesestoffe erwies. Auf die hohe Relevanz der Länder der Habsburgermonarchie verwiesen MICHAEL WÖGERBAUER (Literaturwissenschaft/Prag) und JOHANNES FRIMMEL (Buchwissenschaft/Wien) in ihren Vorträgen „Geheime Wege nach Leipzig? Der Beginn der Berufsschriftstellerei in den Erblanden und die illegalen Geschäftsverbindungen Leipziger, Prager und Wiener Verleger um 1800“ sowie „Geheimliteratur im Josephinischen Wien: Akteure und Programm“. Wien und Prag gehörten zu den wirkungsmächtigsten Umschlagsplätzen für verbotene Lesestoffe. Frimmel zeigte am Beispiel eines Wiener Stadtplans aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf, dass diejenigen Buchhändler und Verleger, die sich aktiv im Geschäft mit dem Verbotenen betätigten, ihre Dependancen direkt am Marktplatz hatten, offenbar also auch die anonymen Handelsstrukturen der Märkte und Messen nutzen. GUIDO NASCHERT (München) ging der Frage nach, ob es sich bei dem Jenaer Verlag Christian Ernst Gabler (1770-1820) möglicherweise um einen „Geheimverlag“ gehandelt haben könnte, zumal Jena im 18. Jahrhundert als Ort latenter Unruhe galt, hauptsächlich durch seine Universität. Naschert entfaltete am Beispiel des Verlegers Gabler dessen weitreichendes Autorennetzwerk und die Wirkungskraft dieses Netzwerkes für die Entfaltung innovativen Ideenpotenzials. FRANZISKA MAYER (München) wandte sich in ihrem Vortrag „Erotische Importe. Wilhelm Heinse als Übersetzer von Petron und Claude-Joseph Dorat“ aus der Sicht der Literaturwissenschaftlerin dem Textkorpus „verbotene Lesestoffe“ zu und wählte Wilhelm Heinse, unter anderem Autor des Romans „Ardinghello“, eines 1787 anonym erschienenen Renaissanceromans, der den Zeitgenossen als ebenso „gefährlich“ wie „begierig nachgefragt“ galt. Im Fokus von Mayers Vortrag standen allerdings Heinses Übersetzungen von Petron und Claude-Joseph Dorat. Hier offenbarte sich, welche Bedeutung allein die Paratexte dieser Werke haben und in der Diskussion zeigte sich schnell, dass den Paratexten im Geheimbuchhandel bislang zu wenig Aufmerksamkeit gezollt wurde.

Der „klassischen“ philosophischen Untergrundliteratur wandten sich die Philosophiehistoriker WINFRIED SCHRÖDER (Marburg), MARTIN MULSOW (Erfurt/Gotha) und MARTIN SCHMEISSER (München) zu. Die Beiträge zeigten sämtlich, dass es sehr genau zu differenzieren gilt, ob Manuskripte im öffentlichen oder subversiven Raum entstanden und zirkulierten. Erst in subversiven und damit zensurfreien Denkräumen war die Herausbildung von Extremismen gewährleistet, so dass innovatives Ideenpotenzial sich nur im subversiven Milieu entfalten konnte. Schröder präsentierte in seinem Beitrag „Aus dem Untergrund an die Öffentlichkeit. Der Beitrag der theologischen Apologetik zur Distribution clandestiner religionskritischer Texte“ Autoren wie Matthias Knutzen, Jean Bodin, Martin Seidel sowie diverse Verfasser von antichristlichen jüdischen Traktaten jüdischer Autoren. Martin Mulsow untersuchte in seinem Vortrag „Christian Ludwig Paalzow und der clandestine Kulturtransfer von Frankreich nach Deutschland“ das Untergrundmilieu in Berlin und den französisch-deutschen Kulturtransfer am Beispiel von Christian Ludwig Paalzow (1753–1824), der sich hauptsächlich einen Namen als Übersetzer der Werke d‘Holbachs erwarb. Hier schloss Schmeisser an und hinterfragte in seinem Vortrag „Baron d‘ Holbach in Deutschland. Reaktionen in deutschen Zeitschriften der Aufklärung“ die Wirkungsmacht der gelehrten Journale bei Vertrieb und Rezeption von philosophischer Untergrundliteratur am Beispiel der Werke d’ Holbachs, die in Übersetzungen und referierende Rezensionen auch im deutschsprachigen Raum Verbreitung fanden. Überhaupt galt in den Diskussionen der Technik des Paraphrasierens aus Werken der Untergrundliteratur die Aufmerksamkeit. So fanden protestantische Apologeten im Zitieren und Paraphrasieren eine eigene Identität.

Festzuhalten bleibt an dieser Stelle, dass die handschriftlichen Manuskripte, die im philosophischen Submilieu zirkulierten, innerhalb eines geschlossenen und nicht kommerziellen Raums rezipiert wurden; doch kaum lagen diese Schriften gedruckt vor, waren sie schon zu einem buchhändlerischen Spekulationsobjekt geworden; ein Übergang, der sich im Laufe der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts deutlich abzuzeichnen begann. Im deutschsprachigen Raum spielten Kommissionsbuchhändler eine entscheidende Rolle beim Handel mit verbotenen Lesestoffen. Als Kommissionäre engagierten sich professionelle Buchhändler und Verleger, aber auch Intellektuelle, die sich der Aufklärungsbewegung verpflichtet fühlten, zum Beispiel der Darmstädter Gelehrte, Schriftsteller, Übersetzer und Kunstkenner Johann Heinrich Merck. Professionelle Kommissionsbuchhändler waren im Besitz vorzüglicher Branchenkenntnisse und kannten sich bestens mit den buchhändlerischen Geschäftsusancen auf internationaler Ebene aus. Zu den bedeutendsten Kommissionären Mitteldeutschlands gehörten die Verleger Louis-François Mettra (Neuwied), Johann Gottfried Esslinger (Frankfurt am Main), Gabriel Cramer (Genf), zahlreiche Verleger in Wien und Prag. Alle diese Kommissionäre standen in engem Austausch mit der Société typographique de Neuchâtel (STN), die über diese Vermittler ihr Verlagsprogramm in Gesamteuropa abzusetzen verstanden. In diesem Kontext wurde um ein weiteres Mal die herausragende Rolle der STN für die internationale Verbreitung von verbotenem Lesestoff deutlich.

Als ein vorläufiges Zwischenergebnis des Arbeitsgesprächs kann festgehalten werden, dass wir für den deutschsprachigen Raum nicht von Untergrundbuchhandel, sondern besser vom Handel mit Geheimliteratur sprechen sollten. Die Repression von Staat und Kirche griffen in den einzelnen Territorien allenfalls direkt im Herstellungsprozess, das heißt Hausdurchsuchungen, Beschlagnahmungen und Inhaftierungen fanden hauptsächlich im Buchdruckergewerbe statt. Das wissenschaftliche Arbeitsgespräch kann nur ein Auftakt für eine verstärkte interdisziplinäre Erforschung dieses Themenfeldes sein, doch erstmalig und mit Gewinn konnten im Bibelsaal der Herzog August Bibliothek Philosophiehistoriker, Literatur- und Buchwissenschaftler, Romanisten und Komparatisten zusammengeführt werden, und damit war der zwingend erforderliche Blick über den eigenen Tellerrand überhaupt erst gewährleistet. Im Abschlussvortrag von CHRISTINE HAUG (München) über die „Herstellung und Distribution von Geheimliteratur im Europa des 18. Jahrhunderts – die Durchlässigkeitsstrategien der Geheimbuchhändler“, der sich als Überblick und Zusammenfassung der Forschungsbeiträge des Arbeitsgesprächs verstand, konnte noch einmal deutlich gemacht werden, dass Gesamteuropa von intellektuellen Netzwerken und Vertriebsstrukturen überzogen war und die Erforschung von Geheimliteratur in den einzelnen Ländern wie Spanien, Portugal, Frankreich, Schweiz, den Territorien des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation, Italien, den Ländern der Habsburgermonarchie und der skandinavischen Ländern noch eine besondere Herausforderung darstellt.

Konferenzübersicht:

Wilhelm Haefs (München): Zensur im 18. Jahrhundert – die Verhinderungsstrategien der Polizeibehörden

Thomas Bremer (Halle): Importstrategien verbotener Aufklärungsliteratur nach Spanien

Michael Wögerbauer (Prag): Geheime Wege nach Leipzig? Der Beginn der Berufsschriftstellerei in den Erblanden und die illegalen Geschäftsverbindungen Leipziger, Prager und Wiener Verleger um 1800

Johannes Frimmel (Wien): Geheimliteratur im Josephinischen Wien: Akteure und Programm

Guido Naschert (Weimar): Ein Geheimverlag im klassischen Jena? Der Verleger Christian Ernst Gabler und sein Autorennetzwerk

Franziska Mayer (München): Erotische Importe. Wilhelm Heinse als Übersetzer von Petron und Claude-Joseph Dorat

Winfried Schröder (Marburg): Aus dem Untergrund an die Öffentlichkeit. Der Beitrag der theologischen Apologetik zur Distribution clandestiner religionskritischer Texte

Martin Mulsow (Erfurt): Christian Ludwig Paalzow und der clandestine Kulturtransfer von Frankreich nach Deutschland

Martin Schmeisser (München): Baron d'Holbach in Deutschland. Reaktionen in deutschen Zeitschriften der Aufklärung

Christine Haug (München): Herstellung und Distribution von Geheimliteratur im Europa des 18. Jahrhundert – Die Durchlässigkeitsstrategien der Geheimbuchhändler
Abschlussdiskussion


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