Gesellschaft ohne Frieden. Kriegserfahrungen und Disziplinierungsregime in Europa und Nordamerika 1924-1929

Gesellschaft ohne Frieden. Kriegserfahrungen und Disziplinierungsregime in Europa und Nordamerika 1924-1929

Organisatoren
Gabriele Metzler / Frank Reichherzer, Humboldt-Universität zu Berlin; in Verbindung mit dem SFB 437 „Kriegserfahrungen. Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit“, Eberhard-Karls-Universität Tübingen sowie der VW-Nachwuchsforschungsgruppe „Regieren im 20. Jahrhundert. Politik in der modernen Industriegesellschaft 1880-1970“
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
20.11.2008 - 21.11.2008
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Von
Andreas Schneider, Zentrum für Medien und Interaktivität / Historisches Institut, Justus-Liebig-Universität Gießen

Lange Zeit galten in der Weimargeschichtsschreibung die Jahre zwischen 1924 und 1929 als das „beste Jahrfünft“ (Horst Möller) der ersten Republik auf deutschem Boden. Nach den Wirren der unmittelbaren Nachkriegszeit, geprägt durch Revolution, Kapp-Putsch, Hyperinflation, Ruhrkampf und Hitlers Putschversuch, schien sich innen- wie außenpolitisch die Situation zu stabilisieren: Während der Dawes-Plan 1924 ausländische Kredite in Milliardenhöhe ins Land fließen ließ und die Reparationslast deutlich verringerte, entspannte sich durch den Locarno-Vertrag 1925 und die Aufnahme des Deutschen Reichs in den Völkerbund im Jahr darauf das Verhältnis zu den alliierten Siegermächten. Darauf, dass es sich aber trotz der Verständigungspolitik gegenüber dem Westen sowie der sich konsolidierenden deutschen Wirtschaft lediglich um eine trügerische Stabilisierung handelte, haben bereits in den 1980er-Jahren Historiker wie Hagen Schulze, Heinrich August Winkler oder Detlev Peukert vehement hingewiesen.1 So betonte letzterer beispielsweise in seiner mittlerweile klassischen Darstellung der Weimarer Republik, dass auch „die Jahre zwischen 1924 und 1929 […] durch genügend kleinere und größere Krisen gekennzeichnet“ gewesen seien, „die auf tieferliegende strukturelle Verwerfungen“ hingedeutet hätten.2

An diese Beobachtung anknüpfend, war es das Anliegen des vom Lehrstuhl für die Geschichte Westeuropas und der transatlantischen Beziehungen an der Humboldt-Universität zu Berlin, dem SFB 437 „Kriegserfahrungen“ der Universität Tübingen sowie der VW-Nachwuchsforschungsgruppe „Regieren im 20. Jahrhundert“ organisierten Workshops, die „Stabilisierungsphase“ der Weimarer Republik näher in den Blick zu nehmen und jene Wandlungsprozesse zu untersuchen, die auf ein Erstarken autoritärer Disziplinierungsregime hinweisen und für Deutschland möglicherweise den Übergang von einer – angelehnt an Richard Bessels Beobachtung, dass sich die Weimarer Republik nie zu einer Friedensgesellschaft entwickelt habe3 – Nachkriegs- zu einer erneuten Vorkriegszeit markieren. Überhaupt galt es nach der Bedeutung des Ersten Weltkrieges zu fragen. Entsprechend lautete eine der zentralen Hypothesen der Tagung, dass „Krieg“ in der Weimarer Republik zu einer über das Militärische im engeren Sinne hinausreichenden Leitkategorie des gesellschaftlichen und politischen Handelns avanciert sei und insbesondere in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre die Selbstbeobachtung und -beschreibung der deutschen Gesellschaft entscheidend geprägt habe. Diese beiden Diagnosen zusammenzuführen und deren geographische Reichweite tiefer abzuwägen, lauteten somit die vorrangigen Ziele des Workshops. Bedauerlicherweise blieb der transatlantische Fokus entgegen dem angekündigten Titel unberücksichtigt – die meisten Vorträge legten ihr Augenmerk hauptsächlich auf die Entwicklungen der Weimarer Republik, wobei aber auch west- und osteuropäische Beispiele Beachtung fanden.

In ihrer Einführung präzisierte GABRIELE METZLER den für den Workshop zentralen Begriff des „Disziplinierungsregimes“. Hierunter seien Organisationen sowie losere Sets von Ideen und Praktiken zu verstehen, die vorrangig auf das Ordnen und Formieren von Gesellschaft zielten und bestrebt seien, als „deviant“ wahrgenommenes Verhalten gar nicht erst aufkommen zu lassen. Dabei warf Metzler die Frage auf, inwiefern Prozesse wie Disziplinierung, Formierung oder Durchstaatlichung als Signaturen einer in der Zwischenkriegszeit ihren Höhepunkt findenden „autoritären Hochmoderne“ (James F. Scott) gelten können. Weiterhin wurde betont, hinsichtlich der für Deutschland diagnostizierten Bedeutung des „Krieges“ danach zu fragen, ob sich dieser Befund auch für siegreiche und neutrale Gesellschaften machen lasse und wie wirksam deutsche Traditionen und die spezifischen Bedingungen der Kriegsniederlage waren.

Am Anfang der ersten Sektion der Tagung, die sich mit der „Disziplinierung durch den Staat“ befasste, stand der Vortrag von ANDREA REHLING (Mannheim) zum Korporatismus der Zwischenkriegszeit. Zwischen einer autoritär-diktatorischen und einer demokratisch-liberalen Variante des Korporatismus differenzierend, verortete Rehling die Wurzeln des letzteren Konzepts zeitlich in den 1880er-Jahren, als sich auf struktureller Ebene zunehmend die Tendenz offenbarte, die Gesellschaft etwa durch die Schaffung von Arbeitgeber- und -nehmerverbänden stärker organisieren zu wollen. Mit Beginn des Ersten Weltkriegs intensivierte sich diese Entwicklung, als die Gewerkschaften zur Gründung von „Kriegsarbeitsgemeinschaften“ aufriefen. Allerdings gelang es erst unter dem Eindruck der drohenden Kriegsniederlage, mit der Zentralarbeitsgemeinschaft sowie dem „Vorläufigen Reichswirtschaftsrat“ branchenübergreifende Gremien zu installieren, durch welche der Staat befähigt werden sollte, ordnend und homogenisierend in Gesellschaft und Wirtschaft eingreifen und somit Konflikte verringern und die Integration erhöhen zu können. Als sich jedoch, so Rehling, unter den schwierigen politischen und ökonomischen Bedingungen der frühen Weimarer Republik herauskristallisierte, dass die Arbeitsgemeinschaftspolitik gescheitert sei, nahmen die beteiligten Akteure rasch Abschied vom Ideal korporativer Gremien und wandten sich verstärkt seit 1928 autoritären Korporatismuskonzepten zu, wodurch das ohnehin schon ausgeprägt ordnend-disziplinierende Element zunehmend verstärkt wurde und schließlich in dem 1934 von den Nationalsozialisten erlassenden „Gesetz zur Vorbereitung desorganischen Aufbaus der deutschen Wirtschaft“ mündete. In ihrem anschließenden Referat thematisierte JUTTA WEITZDÖRFER (Berlin/Tübingen) die Reichstagsdebatten über die nach Kriegsende 1918 abgeschaffte Wehrpflicht und mögliche Ersatzinstitutionen für den Militärdienst, die vor allem von den bürgerlichen Parteien vehement gefordert wurden. Arbeitsdienst und sportliche Jugendertüchtigung seien im Reichstag vor allem zwischen 1925 und 1927 intensiv problematisiert worden, was Weitzdörfer in einen direkten Zusammenhang mit der „Stabilisierung“ der Weimarer Republik stellte: erst im Zuge der Beruhigung der innen- und außenpolitischen Lage Deutschlands hätten die angesprochenen Bereiche nicht zuletzt durch Bestrebungen verschiedener Vereine und Verbände wieder vermehrt auf die parlamentarische Agenda rücken können. Schließlich behandelten VERENA PAWLOWSKY und HARALD WENDELIN (Wien) in ihrem gemeinsam gehaltenen Vortrag das System der österreichischen Kriegsopferversorgung, welches 1924 mit der Novellierung des Invalidenentschädigungsgesetzes von 1919 einen massiven Einschnitt erfuhr. Auf einen Schlag fielen nicht weniger als 40 Prozent aller bis dahin Anspruchsberechtigten – die so genannten Leichtbeschädigten – aus dem Leistungsbezug. Obwohl Pawlowsky und Wendelin 1924 als „Wendejahr“ bezeichneten, seien hier aber lediglich Entwicklungen kulminiert, die bereits 1920 mit den Ausscheiden der sozialdemokratischen Partei aus der Regierung sowie dem Kollaps der österreichischen Volkswirtschaft begonnen hätten. Zugleich wurde betont, dass die sozialpolitische Zäsur des Jahres 1924 im Unterschied zur Weimarer Republik in Österreich zu keiner politischen Radikalisierung der Kriegsbeschädigten geführt habe.

Zu Beginn der zweiten Sektion, die der „Disziplinierung durch Wissenschaften und Experten“ gewidmet war, präsentierten DAVID KUCHENBUCH, TIMO LUKS und ANETTE SCHLIMM (Oldenburg) wesentliche Ergebnisse des von Thomas Etzemüller an der Universität Oldenburg geleiteten Forschungsprojektes „Ordnungsdenken und social engineering als Reaktion auf die Moderne“.4 Anhand dreier sozialtechnologischer Interventionsfelder – dem Verkehr, dem Industriebetrieb sowie der Wohnarchitektur – wurde die These einer sich während der „Stabilisierungsperiode“ der Weimarer Republik vollziehenden Schwerpunktverschiebung von betriebstechnischem Effizienzdenken und der Disziplinierung individueller Körper zu einer – im Sinne Michel Foucaults – sozialen Problematisierung von Verkehr, Industriearbeit sowie Wohnen plausibilisiert. Länderübergreifend – neben dem deutschen Fallbeispiel wurde ebenso Bezug genommen auf Schweden und Großbritannien – habe sich seit Mitte der 1920er-Jahre ein vor allem von Sozialexperten getragenes Dispositiv des Einlernens von „Gemeinschaft“ verdichtet, das maßgeblich durch differierende, aber letztlich homologe Formen „normalisierender“ Regierungspraxen geprägt gewesen sei und auf die Aufhebung jener Ambivalenzen der Moderne zielte, die es im Zuge einer immer verschärfteren Krisenwahrnehmung endgültig zu beheben galt. Im anschließenden Vortrag sprach der Osteuropahistoriker KLAUS GESTWA (Tübingen) mit Blick auf die Sowjetmoderne der 1920er- und 1930er-Jahre nicht von Disziplinierungs-, sondern von Mobilisierungsregimen, um zu verdeutlichen, dass es mitnichten das Ziel sowjetischer Sozialingenieure gewesen sei, Ordnung zu schaffen, sondern vielmehr sämtliche herkömmlichen Lebensweisen und bestehenden Ordnungskräfte zu zerstören, um auf deren Trümmern die Utopie des Sozialismus zu verwirklichen. Während jedoch bis 1929 Natur und Gesellschaft von Experten vorerst nur ausgekundschaftet und vermessen worden seien, hätten die bolschewistischen Parteiführer erst nach dieser Zeit des Projektierens eine großflächige Umgestaltung des Landes angeordnet; was vorher durchdacht worden sei, habe sich nun in einer beispiellosen Modernisierungsbewegung, die weder Grenzen und Werte kannte, Bahn gebrochen. Ziel des folgenden Beitrages von Mitorganisator FRANK REICHHERZER war es, am Beispiel der „Wehrwissenschaften“ den Nexus zwischen Kriegserfahrungen und Disziplinierungsmaßnahmen in der Zwischenkriegszeit aufzuzeigen. Zunächst ging der Referent auf die Entstehungsbedingungen sowie auf die Ziele und die Praxis der Wehrwissenschaften ein. Dabei kam er zu dem Ergebnis, dass die Wehrwissenschaften weniger als wissenschaftliche Disziplin denn als Leitvorstellung im Sinne eines Disziplinierungsregimes zu begreifen seien, die das Wissenschaftssystem, seine einzelnen Teilbereiche wie auch die gesamte Gesellschaft auf Fragen und Angelegenheiten des Krieges ausrichten sollten. Hierin erkannte Reichherzer die „Tendenz zu einer gesamtgesellschaftlichen Bellifizierung“, deren Kennzeichen das handlungsleitende Primat des Krieges gewesen sei. Ziel dieses Prozesses der Bellifizierung sei die nach wissenschaftlichen Erkenntnissen perfekt auf die Anforderungen des modernen Krieges ausgerichtete Gesellschaft gewesen, womit gleichsam Disziplinierungsregime und Kriegserfahrungen miteinander verbunden worden seien. Krieg entwickelte sich, so Reichherzer, zum Maß aller Dinge und die Chiffre „Krieg“ lieferte die Kategorien für zahlreiche Disziplinierungsregime weit über den engeren Kreis der Wehrwissenschaften hinaus.

Die dritte Sektion der Tagung zum Thema „Die Formierung und Disziplinierung der ,Wehrgemeinschaft‘“ begann mit einem Referat von NOBUHIRO YANAGIHARA (Tokio/Halle), das sich mit der Konzipierung des Luftschutzgedankens in Deutschland und Japan beschäftigte. Dabei betonte Yanagihara, dass in beiden Ländern hinsichtlich der Etablierung von Luftschutzmaßnahmen das Jahr 1923 eine einschneidende Zäsur dargestellt habe. Während es jedoch in Deutschland die Ruhrbesetzung gewesen sei, die innerhalb der Regierung zu einer stärkeren Diskussion des zivilen Luftschutzes geführt habe, sei in Japan das verlustreiche Große Kanto-Erdbeben dafür verantwortlich gewesen, einer verstärkten Inangriffnahme von Luftschutzmaßnahmen Vorschub zu leisten. Daran schloss sich der Doppelvortrag von WENCKE METELING (Marburg) und INGRID MAYERSHOFER (München) zu den Deutungskämpfen der Weimarer Republik um die in Folge der Kriegsniederlage aufgelösten Regimenter. Am lokalen Beispiel der Garnisonstädte Bamberg und Frankfurt an der Oder (sowie dem französischen Orléans als Kontrastfolie) zeigten die beiden Referentinnen, wie sich ab ca. 1923/24, also zu Beginn der „Stabilisierungsphase“, eine nationalistisch-völkische Deutung des Weltkriegs durchzusetzen begann. Diese von Meteling und Mayershofer als Disziplinierungsregime begriffene Wehrideologie, die den vaterländischen Verteidigungskonsens des Weltkriegs aufgriff und radikalisierte sowie eine neue Vision von Ordnung, Einheit und Wehrhaftigkeit in einem „neuen“, „wiedergeborenen“ Deutschland entwickelt habe, sei von einer Vielzahl miteinander konkurrierender und stark ideologisch aufgeladener Institutionen (konservativ-monarchische Ehemaligenvereine, Traditionskompanien innerhalb der Reichwehr, örtliche Einwohnerwehren, Freikorps sowie andere paramilitärische Vereine und Verbände) getragen worden, die an die Stelle der aufgelösten Regimenter traten. Eine derartige Radikalisierung gesellschaftlicher Ordnungsvorstellungen und der Kriegserinnerung sei hingegen in Frankreich unter den Bedingungen einer stabilen politischen Ordnung und dem militärischen Sieg ausgeblieben.

Der Workshop fand seinen Abschluss mit einer Sektion zur „Disziplinierung des ,Volkskörpers‘“. Am Beispiel des noch zu Kriegszeiten gegründeten „Deutschen Reichsausschusses für Leibesübungen“ (DRA), der dem Kriegsministerium unterstellt war, zeigte CHRISTIANE EISENBERG (Berlin), wie unter dem Eindruck der Niederlage und des Versailler Vertrages dieser governing body des Sports zu einer Tarnorganisation für die Gestaltung des Wehrpflichtersatzes avancierte. Während allerdings von den stets Hand in Hand gehenden Organisationszielen „Zivilisierung der Gewalt“ und „sportliche Vorbereitung des Wehrpflichtersatzes“ in der Frühphase der Weimarer Republik (1920-1924) ersteres überwogen habe, sei der DRA seit 1925 wiederum verstärkt dem Zugriff des Militärs unterworfen gewesen und habe sich – nicht zuletzt bedingt durch seinen voranschreitenden Machtverlust – zu einem die Zivilgesellschaft unterminierenden Wehrverband entwickelt. Daraufhin vertrat FERNANDO ESPOSITO (Tübingen) in seinem Vortrag anhand der Schriften Ernst Jüngers die These, dass sich während der „Stabilisierungsperiode“ der Weimarer Republik die Perspektive auf den Krieg von einer vergangenheits- zu einer zukunftszentrierten gewandelt habe. Der Untergang der alten Ordnung habe zusehends an Bedeutung verloren, während der Krieg selbst in den Augen der Gegner der Republik zur Bedingung der Möglichkeit des Neuen mutiert sei. Dabei seien die Opfer des Krieges in den Zusammenhang einer Erneuerungsbewegung bzw. einer Palingenese gestellt worden. Der „traditionslosen“ und „fremden“ Republik habe man ein ebenso revolutionäres Neues Deutschland entgegengesetzt, das aber im „Blute“ und im Ewigen verwurzelt sein sollte. Somit habe sich noch in der „Stabilisierungsphase“ ein Übergang von der – mit Nietzsche gesprochen – „antiquarischen“ zur „monumentalischen“ Erinnerung vollzogen, in der der Krieg als Keim und Vorbote der Zukunft erschien. Zum Schluss wandte sich Susanne MICHL einer Disziplinierungspraktik par excellence zu: der Medizin. Am französischen und deutschen Beispiel führte sie aus, wie sich seit Beginn des Ersten Weltkriegs die Dringlichkeit, mit der seit Ende des 19. Jahrhunderts der Kampf gegen Geschlechtskrankheiten geführt wurde, verstärkte. In beiden Ländern habe der Krieg dazu geführt, neue Ansätze zur systematischen und flächendeckenden Kontrolle nicht nur des weiblichen, sondern nunmehr auch des männlichen Körpers zu erarbeiten. Während jedoch, so Michl, in Frankreich die ärztliche Wunschvorstellung einer Selbstdisziplinierung der Bevölkerung auch nach dem Krieg die Oberhand behielt, habe sich in Deutschland insbesondere nach der 1927 erfolgten Verabschiedung des Gesetzes zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten ein aus Ärzten, Verwaltungsbeamten, Juristen, Frauenrechtlerinnen und Wohlfahrtsverbänden bestehender Disziplinierungsapparat etabliert, auf den die französischen Ärzte zwar grundsätzlich ablehnend, aber mitunter auch neidvoll blickten.

In den ein breites Themenspektrum abdeckenden und zahlreiche gesellschaftsgeschichtlich relevanten Facetten der Zwischenkriegszeit beleuchtenden Vorträgen konnte mehrfach aufgezeigt werden, dass, zumindest was die „Stabilisierungsphase“ der Weimarer Republik anbelangt, im Zeichen des „Krieges“ autoritär-nationalistische Ordnungsvorstellungen zunehmend die Vorherrschaft gewannen. Der Seitenblick etwa auf Frankreich oder Österreich zeigte jedoch auf, dass solche Entwicklungen unter anders gearteten politischen und gesellschaftlichen Bedingungen ausgeblieben waren bzw. sich nicht in solch einer Radikalität offenbarten, wie dies in Deutschland der Fall war. Diskutiert wurde allerdings, inwieweit diese vor allem für die Weimarer Republik diagnostizierten Prozesse mit Begriffen wie „Disziplinierungsregime“ oder „Bellifizierung“ angemessen zu erfassen seien. So wurde beispielsweise Kritik an dem engen Disziplinierungsbegriff der Oldenburger Forschergruppe artikuliert. Jedoch wandte insbesondere Timo Luks ein, dass ein zu weit gefasster Disziplinierungsbegriff an Trennschärfe verliere und es unmöglich mache, Transformationen analysieren zu können. Im Anschluss an Foucault plädierte er dafür, unter Disziplinierung in Abgrenzung zu anderen Ordnungspraktiken wie etwa dem sozialökologischen Zugriff vieler Experten eine individuierende Technik zu begreifen, die am Körper des Einzelnen ansetze. Letztlich wurden in der Abschlussdiskussion ein Aufbrechen und eine Pluralisierung des Begriffs gefordert, der sich auf unterschiedliche Bereiche wie den Individualkörper oder den „Volkskörper“ beziehen könne. Auch der von Frank Reichherzer eingeführte Begriff der „Bellifizierung“ wurde kontrovers diskutiert. So wurde etwa die Verwendung des Begriffes „Wehrhaftmachung“ anstelle von „Bellifizierung“ vorgeschlagen, wohingegen Reichherzer aber letzteren mit dem Argument verteidigte, dass sich mit „Wehrhaftmachung“ zwar ein großer Teil jener als Bellifizierung begriffenen Phänomene erfassen lasse, der Begriff aber ein häufig gebrauchter Quellenbegriff sei. Gunther Mai wandte zudem ein, dass der Bellifizierungsbegriff zwar einen großen Bereich der Denkweisen und Praktiken der Weimarer Republik abdecke, von den Zeitgenossen aber nicht jedes gesellschaftliche Problem als offener Kampf gedeutet worden sei. Schlussendlich bleibt festzuhalten, dass der Workshop eine große Pluralität von Ordnungsvorstellungen und -praktiken aufzeigte, die sicherlich nicht pauschal unter Termini wie „Disziplinierung“ oder „Bellifizierung“ subsumiert werden können. Deren Tragweite für die Zeit zwischen den Kriegen tiefer auszuloten wird zukünftigen Forschungsarbeiten vorbehalten bleiben.

Konferenzübersicht:

Einführung:
Gabriele Metzler (Berlin):

Sektion 1: Disziplinierung durch den Staat
Leitung: Christiane Kohser-Spohn (Tübingen)

Andrea Rehling: Von der Zentralarbeitsgemeinschaft zum „Organischen Aufbau der Wirtschaft“. Der Korporatismus zwischen den Kriegen.

Jutta Weitzdörfer (Berlin/Tübingen): „Warum brauchen wir die Wehrpflicht?“ Wehrpflichtdebatten in der Weimarer Republik.

Verena Pawlowsky/Harald Wendelin (Wien): Integration durch Arbeit. Die Versorgung der österreichischen Kriegsbeschädigten.

Sektion 2: Disziplinierung durch Wissenschaften und Experten
Leitung: Gabriele Metzler (Berlin)

David Kuchenbuch/Timo Luks/Anette Schlimm (Oldenburg): Von der Disziplinierung der Körper zur Ordnung des Sozialen. Wohnarchitektur – Industriebetrieb – Verkehr.

Klaus Gestwa (Tübingen): Wissenschaft und Technik als Disziplinierungsinstrumente in der Sowjetunion.

Frank Reichherzer (Berlin): Wehrwissenschaften. Die Disziplinierung von Wissenschaften und Gesellschaft für den Krieg.

Sektion 3: Die Formierung und Disziplinierung der „Wehrgemeinschaft“
Leitung: Prof. Dr. Gunther MAI (Erfurt)

Nobuhiro Yanagihara (Tokio/Halle): Der Luftschutzgedanke in Deutschland und Japan.

Wencke Meteling (Marburg)/Ingrid Mayershofer (München): Formierung durch Erinnerung. Das Erbe der alten Armee in den Deutungskämpfen der Weimarer Republik.

Sektion 4: Disziplinierung des „Volkskörpers“
Leitung: Ute Planert (Wuppertal)

Christiane Eisenberg (Berlin): Sport als Disziplinierungsregime zwischen den Weltkriegen.

Fernando Esposito (Tübingen): Die monumentalische Erinnerung und der Krieg. Zur Konstruktion des Neuen Menschen in Ernst Jüngers Publizistik und Kriegsliteratur, 1924-1929.

Susanne Michl (Berlin): Disziplinierung der Sexualität Der Kampf gegen die Geschlechtskrankheiten in Deutschland und Frankreich, 1914-1929.

Anmerkungen:
1 Vgl. Detlev J. K. Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt am Main 1987; Hagen Schulze, Weimar. Deutschland 1917-1933, Berlin 1982; Heinrich August Winkler, Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik, Bd. 2: Der Schein der Normalität 1924 bis 1930, Berlin 1985.
2 Peukert, Die Weimarer Republik, S. 204.
3 Vgl. Richard Bessel, Germany after the First World War, Oxford 1995, S. 283.
4 Siehe hierzu Thomas Etzemüller (Hrsg.), Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld (erscheint im Juni 2009).

Kontakt

Frank Reichherzer
Humboldt-Universität zu Berlin
Institut für Geschichte
Geschichte Westeuropas und der transatlantischen Beziehungen
Unter den Linden 6
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030/ 2092 2283
frank.reichherzer@geschichte.hu-berlin.de