Tag der Geisteswissenschaften

Tag der Geisteswissenschaften

Organisatoren
Deutsches Historisches Institut Paris
Ort
Paris
Land
France
Vom - Bis
31.10.2008 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Lennart Gilhaus, Bonn; Lilian Landes, perspectivia.net, Bayerische Staatsbibliothek München; Michaline Skupin, Deutsches Historisches Institut Paris; Tanja Metzger, Deutsches Historisches Institut Paris

Anlässlich des 50jährigen Bestehens des Deutschen Historischen Instituts Paris (DHI Paris) organisierte das DHI Paris unter der Leitung seiner Direktorin, Prof. Dr. Gudrun Gersmann, zusammen mit der Fondation Maison des sciences de l’homme (Dr. Hinnerk Bruhns) am 31. Oktober 2008 im DHI Paris ein ganztägiges Colloquium unter dem Titel „Wohin geht der Weg? Entwicklungsperspektiven und Förderungsmöglichkeiten der Geisteswissenschaften in Deutschland und Frankreich. In drei Sektionen ging es um Stand und Perspektiven des deutschen Modells der Förderung der Geisteswissenschaften, Geisteswissenschaftler im Netz – neue Arbeits- und Publikationsinstrumente für die Geisteswissenschaften sowie Geisteswissenschaften als Vorreiter? – Deutsch-französische Zusammenarbeit in Forschung und Lehre.

Die erste Sektion trug den Titel „Nach dem „Jahr der Geisteswissenschaften“ – Stand und Perspektiven des deutschen Modells der Förderpolitik“. WOLFANG SCHIEDER (DGIA) betonte in seinem Beitrag, dass das ursprüngliche Konzept der Geisteswissenschaften in Deutschland als „wissenschaftstheoretische Sammlung gegen das naturwissenschaftliche Denken“ nicht mehr tragfähig sei. Zudem falle es im Prozess der fachlichen Ausdifferenzierung und methodischen Grenzüberschreitungen „schwerer, an die Einheit der sogenannten Geisteswissenschaften“ zu glauben. Es sei daher wichtig, dass zuerst die Einzeldisziplinen ihr eigenes Profil schärften und sich so eine eigene Disziplinarität schafften. Erst auf der Basis dieser disziplinären Selbstvergewisserung könne echte interdisziplinäre Forschung entstehen. Weiterhin stellte Schieder einen anhaltenden und seiner Meinung nach irreversiblen Wandel von der Einzelforschung hin zur „koordinierten Gruppenforschung“ fest. Nachhaltig plädierte er dafür, das historisch gewachsene duale Forschungssystem von Universitäten und außeruniversitären Einrichtungen in Deutschland zu erhalten und an die Erfordernisse der modernen Wissensgesellschaft anzupassen.

In seiner kurzen, pointierten Beschreibung der Entwicklung der Geisteswissenschaften in Deutschland konstatierte ULRICH HERBERT (Freiburg) eine schwierige Lage der Geisteswissenschaften: Seit den 1970er-Jahren seien die deutschen Universitäten durch Unterfinanzierung, Bürokratisierung, mangelnde Qualitätssicherung und Geringschätzung der Bedeutung des Bildungsbereichs auf Seiten der Politiker in Rückstand geraten. Die seit Beginn der 1990er-Jahre unternommenen Reforminitiativen - wie die Durchsetzung des Bachelor-Master-Systems – müssen Herberts Ansicht nach in erster Linie als Reaktion auf die Überfüllung der Universitäten begriffen werden. Das neue System sei bisher freilich unzureichend implementiert worden. Als besonderes Problem nannte der Freiburger Hochschullehrer die in Deutschland noch fehlende Tradition des Quereinstiegs, die jungen Bachelor-Absolventen einen Einstieg in die außeruniversitäre Berufswelt ermögliche. Trotz allem könne man aber noch nicht von einem Scheitern der Umstellung des Studiensystems ausgehen, auch wenn er selbst als Alternative zum neuen Studiensystem den stärkeren Ausbau der Fachhochschulen als praxisorientierte Ausbildungsstätten vorgezogen hätte.

Im Rückblick auf die „Exzellenzinitiative“, die den gesamten Hochschulbereich in Deutschland in den letzten beiden Jahren stark geprägt und verändert hat, wandte sich Herbert dezidiert gegen das „Gießkannenprinzip“: Die Forschung solle künftig an konkurrenzfähigen Universitäten gebündelt werden, da schon allein aus finanziellen Gründen nicht alle Universitäten in gleichem Maße ausgestattet werden könnten. Die Zukunft werde zeigen, welche Fördermodelle sich letztlich durchsetzen würden. In diesem Zusammenhang wandte er sich insbesondere gegen die Umstellung vom Prinzip der Grundausstattung auf das Prinzip der zeitlich begrenzten Projektmittel. Vor allem aber plädierte er dafür, wesentliche Teile der Drittmittel in Grundausstattung fließen zu lassen und jungen Forschern langfristige Perspektiven in der Wissenschaft zu geben. Seines Erachtens führe Drittmittelfinanzierung, die nicht an Qualifikationsarbeiten gebunden sei, oft zu wenig greifbaren Ergebnissen.

PETER STROHSCHNEIDER unterstrich seinerseits, dass die Geisteswissenschaften letztlich nicht unterproportioniert im Vergleich zu den Naturwissenschaften von der Exzellenzinitiative profitiert hätten. Den positiven Entwicklungen in der Forschung stünden aber Defizite in der Lehre gegenüber. Insbesondere sei ein Abbau der Mittelbaustellen bei gleichzeitigem Anstieg der Studierendenzahlen festzustellen. Weiterhin hob der Vorsitzende des Wissenschaftsrats hervor, dass die Aufgabe von Wissenschaften nicht auf ihre reine „Nützlichkeit“ reduziert werden könnte. Dies gelte sowohl für die Naturwissenschaften als auch für die Geisteswissenschaften. Es sei Anliegen wie Aufgabe der Geisteswissenschaften, den Möglichkeitsreichtum von Alternativen für die moderne Wissensgesellschaft aufzeigen. Zur Förderung der geisteswissenschaftlichen Forschung schlug Strohschneider vor, den individuellen Forschern größere Freiräume zu gewähren, in längerfristige Projekte zu investieren und temporäre Verbünde von Forschern zu schaffen. Die Einrichtung dauerhafter Forschungsgruppen sei hingegen aus seiner Sicht wenig sinnvoll.

In seinem Kommentar zu den vorausgegangenen deutschen Beiträgen betonte PIERRE MONNET (EHESS/CNRS/DFH) die Unterschiede zwischen beiden Wissenschaftssystemen und -kulturen. So ließe sich der Begriff Geisteswissenschaft nicht ins Französische übersetzen, auch würden die französischen „Sciences humaines“ zum Teil andere Fächer einschließen. Des Weiteren wies er auf den unterschiedlichen Status der Universitäten und Grandes Écoles in Frankreich hin. Als besonders wichtige Elemente der Förderung der Geisteswissenschaften in Deutschland wie in Frankreich nannte Monnet neben der Netzwerkbildung die Bewilligung von Übersetzungsmitteln und Bibliotheksaustattungen sowie themenoffene Ausschreibung von Forschungsprojekten. Die seit 2008 existierende Kooperation zwischen der Agence Nationale de la Recherche (ANR) und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) begrüßte er ausdrücklich.

Im zweiten Teil seines Beitrags umriss Monnet die Rolle der Geisteswissenschaften in der Förderpolitik der DFH. Grundsätzlich fördere die DFH alle Disziplinen als Bachelor, Master und Dissertationen. Die Geisteswissenschaften nähmen hier im Bereich der binationalen Doppelstudiengänge (B.A. und M.A.) eine zentrale Stellung ein. Auch im Bereich der binationalen Graduiertenkollegs umfassten sie nahezu ein Drittel. Besonders stark seien die Geisteswissenschaften ferner bei individuellen Programmen wie der Cotutelle-Förderung und Programmen zur Netzwerkbildung von Nachwuchswissenschaftlern vertreten.

Die zweite Sektion widmete sich dem Thema Geisteswissenschaftler im Netz – neue Arbeits- und Publikationsinstrumente für die Geisteswissenschaften.

Geistes- und sozialwissenschaftliche Forschungsergebnisse online zu publizieren, hat sich in Frankreich in den letzten Jahren gut etabliert und institutionalisiert, als dies in Deutschland der Fall ist. Der erste Vortrag im zweiten Abschnitt des vom Deutschen Historischen Institut Paris und der Fondation Maison des sciences de l’homme organisierten Tags der Geisteswissenschaften stellte die beiden Plattformen revues.org und hypothèses vor.

Schwerpunkt der Präsentation von MARIN DACOS (Direktor des Centre pour l’édition électronique ouverte (CLEO) sowie Wissenschaftsadministrator am Centre national de la recherche scientifique (CNRS)) war die Zeitschriftenplattform revues.org. Mehr als 100 geistes- und sozialwissenschaftliche Zeitschriften sind hier zum gegenwärtigen Zeitpunkt in digitalem Volltext abrufbar. Viele weitere sind in Vorbereitung und das Plattformkonzept erfreut sich derartiger Beliebtheit, dass zahlreiche weitere Zeitschriften sich beim zuständigen wissenschaftlichen Beirat um Zugang bewerben.

Die Angebote sind unterschiedlich: Zeitschriften können sowohl genuin digital, als auch hybrid erscheinen, das bedeutet traditionell in Papierform und zusätzlich, mit unterschiedlicher zeitlicher Verzögerung, digital auf revues.org. Daneben besteht die Möglichkeit, ganze Archive vergangener Jahrgänge nach dem Open-Access-Prinzip anzubieten. Die Vorteile liegen für Nutzer wie Anbieter auf der Hand: Die online publizierten Inhalte sind über die großen Suchmaschinen recherchierbar, was ihre Sichtbarkeit und ihre Zitationshäufigkeit signifikant erhöht (um das Zitieren zu erleichtern, sind die Absätze in der html-Anzeige nummeriert), und im Einzelfall bietet das Internet eine sinnvolle Ergänzung zur Druckfassung. So etwa im Fall der „Études photographiques“, die es dem Nutzer ermöglichen, einzelne Fotografien in hoher Auflösung herunterzuladen. Zwei zusätzliche Angebote bereichern die Plattform: „Calend“ bietet einen Rahmen zur Ankündigung von Seminaren, Konferenzen, Stipendienausschreibungen u.ä. und ist ein etabliertes Organisationsforum von und für Wissenschaftler geworden. Hypothèses.org hat sich auf Betreiben der einzelnen Zeitschriften aus dem ursprünglichen revues.org-Konzept heraus entwickelt. Es entstand als eine Art Blog für die Leser und ist zum Kommunikationswerkzeug für aktuelle wissenschaftliche Projekte geworden: Der Austausch von work-in-progress-Ergebnissen löst Diskussionen aus, welche direkt der Arbeit der Forscher oder Forschergruppen zugute kommen.

Im zweiten Vortrag stellten CLAUDIE PAYE (DHIP / Bayerische Staatsbibliothek München) und MICHAEL KAISER (DHIP / Stiftung DGIA, Bonn) perspectivia.net vor, eine Publikationsplattform für die Geisteswissenschaften, die nach einjähriger Vorbereitungszeit just am Tag des Kolloquiums online ging. Es handelt sich um ein BMBF-gefördertes Projekt des Deutschen Historischen Instituts Paris, das 2008 sein 50-jähriges Bestehen feierte und dessen seit einem Jahr amtierende Direktorin Gudrun Gersmann das Institut verstärkt an die Herausforderungen und Möglichkeiten der digitalen (Wissenschafts-)Welt heranführt. Perspectivia.net ist ein unter ihrer Leitung entstandenes Angebot an alle der Stiftung DGIA angehörenden deutschen geisteswissenschaftlichen Auslandsinstitute und deren Partnerorganisationen. Diese können hier sowohl ihre bisher erschienenen Reihen und Monographien retrodigitalisiert, als auch aktuelle und künftige Schriften und Buchrezensionen genuin digital nach dem Open-Access-Prinzip zugänglich machen. Der internationalen Ausrichtung des Projekts – immerhin sind die Projekte von London bis Moskau verstreut – werden eine mehrsprachige Plattformoberfläche sowie Publikationen in allen Landessprachen der beteiligten Institute gerecht. Eine signifikante Erhöhung der internationalen Visibilität der deutschen Geschichtswissenschaft ist das Ziel. perspectivia.net wird in enger Kooperation mit der Bayerischen Staatsbibliothek realisiert, die neben dem Prozess der Retrodigitalisierung selbst auch für die Langzeitarchivierung der Texte sorgt. Erst im Frühjahr wurde im Zuge der Konzeption von perspectivia.net an der BSB ein „Zentrum für elektronisches Publizieren“ (ZEP) eingerichtet, das die in Bad Godesberg tätige Zentralredaktion stützt. Als Mitarbeiterin des ZEP stellte CLAUDIE PAYE am Beispiel der seit 1973 am DHI Paris herausgegebenen Fachzeitschrift Francia den Prozess der Digitalisierung und die ausnehmend positiven Resonanzen der Autoren vor. Letztere müssen vor der Onlinestellung ihrer Beiträge um Erlaubnis gefragt werden, was bei einer traditionsreichen Zeitschrift mit mehr als 1.500 Autoren erheblichen Aufwand bedeutet. Daneben war die Frage der Bildrechte in retrodigitalisierten Publikationen insbesondere im Hinblick auf das Grundkonzept eines barrierefreien Zugangs im Vorfeld des Onlinegangs ein mit besonderem Augenmerk behandelter Aspekt, zumal die Rechtslage sich hier in beständigem Wandel befindet. Bislang ist hier noch keine tragfähige und vor allem internationale Lösung gefunden – eine dringlich zu lösende Aufgabe für DFG, BMBF, die VG-Bild und deren jeweilige ausländische Schwestergesellschaften; letztlich auch für die großen Bibliotheken. Das Beispiel der Francia zeigt darüber hinaus exemplarisch, wie sich eine traditionelle wissenschaftliche Zeitschrift auf die Möglichkeiten der neuen Medien einstellen und diese nutzen kann: Die bisher jährlich dreibändig epochenspezifisch erscheinenden Aufsätze werden künftig weiterhin (nun in einem Band) gedruckt erscheinen („Francia-Print“), während der bislang ebenfalls gedruckte Rezensionsteil als „Francia-Recensio“ ausschließlich online erscheinen und damit dem Anspruch auf zeitnahe Rezipierbarkeit dieses wissenschaftlichen Werkzeugs gerecht wird. Zusätzlich werden alle bisher erschienenen Bände als „Francia-Retro“ angeboten und stetig mit einem Abstand von zwei Jahren um den aktuellsten Band ergänzt. Zum Online-Gang der Plattform sind darüber hinaus Schriften des DHI Moskau, des DHI London sowie der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten abrufbar.

HINNERK BRUHNS (CNRS/FMSH) stellte im dritten Vortrag das Konzept der seit April 2008 bestehenden deutsch-französischen Online-Zeitschrift Trivium vor. Er schlug damit die Brücke zum ersten Beitrag Marin Dacos’, denn Trivium erscheint unter revues.org, herausgegeben mit Unterstützung deutscher und französischer Partner von den Éditions de la Maison des sciences de l’homme. Grundidee ist es, einschlägige deutsche Fachpublikationen zum ersten Mal in französischer und umgekehrt relevante französische Beiträge in deutscher Übersetzung anzubieten. Allzu häufig scheitert der wissenschaftliche Austausch beider Länder an sprachlichen Barrieren. Trivium ermöglicht es dem Leser, online und kostenfrei auf Übersetzungen zentraler, zunächst in renommierten Fachzeitschriften (seltener auch in Sammelbänden) abgedruckter Aufsätze zugreifen zu können. Neben speziellen Themenausgaben, die dem wissenschaftlichen Beirat der Zeitschrift von einzelnen Forschern oder Forschergruppen vorgeschlagen werden können, werden in Trivium auch Übersetzungen großer Einzelaufsätze erscheinen, die unter Geisteswissenschaftlern nachhaltige Resonanz ausgelöst haben. Soeben erschien die zweite Ausgabe zum Thema „Politische Kultur und symbolische Kommunikation“. Trivium entsteht in enger Zusammenarbeit mit dem DHI Paris, dem Deutschen Forum für Kunstgeschichte (Paris), der Mission historique française en Allemagne (Göttingen), dem Centre Marc Bloch (Berlin) und anderen Institutionen. Es geht aus dem seit 2007 bestehenden gemeinsamen deutsch-französischen Förderprogramm in den Geistes- und Sozialwissenschaften hervor, in dem ANR und DFG bilaterale Forschungsprojekte fördern.

An diesem Punkt schließt sich der vierte und letzte Vortrag an: HELGA EBELING, Wissenschaftsreferentin der Deutschen Botschaft Paris, sprach über Entwicklung und Perspektiven deutsch-französischer Forschungskooperation. Als verbesserungswürdig sieht sie die Forschungs- und Wissenschafts-Außenpolitik beider Länder, denn grundlegende Reformen des französischen Forschungswesens der letzten Jahre blieben in Deutschland nahezu unbekannt und vice versa. In der deutschen Außenpolitik insgesamt aber habe sich die Frage von Innovation/Forschung/Hochschulen inzwischen zu einem stabilen, wichtigen Standbein entwickelt. Besonders auf französischer Seite habe sich die Kooperation mit der deutschen Wissenschaft bisher vor allem auf institutionelle Zusammenarbeit im Bereich Technik konzentriert. Geistes- und Sozialwissenschaften seien vor allem in Frankreich eher Teil der Kultur- denn der Wissenschaftspolitik gewesen. Regelmäßige Forschungsforen, bei denen monatlich Vertreter von rund 40 Wissenschafts-, Bildungs- und Forschungsorganisationen zusammenkommen, erleichtern gegenseitiges Kennenlernen und nicht zuletzt auch Diskussionen über gemeinsame Konzepte in der Förderung wissenschaftlichen Nachwuchses – ein Aspekt, der den „Tag der Geisteswissenschaften“ am DHI Paris wie ein roter Faden durchzog.

Die dritte Sektion behandelte das Thema Geisteswissenschaften als Vorreiter? – Deutsch-französische Zusammenarbeit in Forschung und Lehre.

MATTHIAS KLEINER, Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), ging der Frage nach, inwieweit die deutsch-französische Zusammenarbeit in den Geisteswissenschaften ein Wegbereiter für die Forschungszusammenarbeit in Europa sein könnte. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Erfahrung, dass Forschung sich zwar nie innerhalb nationaler Grenzen abspielt, diese aber oftmals ein Hindernis für die wissenschaftliche Kooperation darstellen. Kleiner warf insbesondere die Frage auf, inwiefern das Prinzip der Subsidiarität als Grundsatz der Forschungsförderung in Europa gelten solle. Konkret hieße das, ob eine fruchtbare Zusammenarbeit in Europa sich eher über eine supranationale als durch eine bi- oder multilateral ausgerichtete Einrichtung verwirklichen ließe. Kleiner identifizierte drei Säulen als konstitutiv für die europäische Forschungsförderung. Um die Vielfalt zu bewahren, stelle die erste Säule, die der nationalen Förderorganisationen und ihrer bi- und multilateralen Zusammenarbeit, die wichtigste dar. Die zweite Säule stellten multilaterale Organisationen, wie die European Science Foundation (ESF) dar, die die Zusammenarbeit zwischen den nationalen Förderorganisationen koordinierten. Die dritte Säule sei die der supranationalen Einrichtungen, wie die der europäischen Kommission oder des European Research Council (ERC), die europaweite Ausschreibungen durchführten.

Kleiner stützte seine Überlegungen auf seine Erfahrung mit der Zusammenarbeit zwischen der DFG und dem CNRS sowie, ab 2006, der ANR. Während in den Anfängen der Zusammenarbeit mit dem CNRS die Ausschreibungen zur Förderung deutsch-französischer geisteswissenschaftlicher Projekte meist themengebunden gewesen seien, hätten durch das DFG-ANR-Förderprogramm Fortschritte erzielt werden können, da in diesem Rahmen jährlich themenoffene Ausschreibungen organisiert würden. Ein Vorteil dieses Förderprogramms liege in einer vereinfachten Antragsstellung. Da es diese Förderprogramme bisher nur im Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften gebe, übernehme dieser Wissenschaftsbereich die Vorreiterrolle insofern, als in den anderen Disziplinen die Ausschreibungen bisher ausschließlich themengebunden seien. Trotz dieser Errungenschaften in der deutsch-französischen Forschungsförderung bestehe innerhalb der Geisteswissenschaften bisher keine Nachfrage nach Projektfinanzierung im Rahmen größerer interdisziplinär angelegter Forschungsgruppen.

Im Ausblick auf die weitere Entwicklung der europäischen Forschungsförderung sprach sich Kleiner für die Durchsetzung eines „Lead Agency“-Verfahrens, ähnlich dem im D-A-CH-Verbund bereits praktizierten Verfahren, auch im Bereich der deutsch-französischen Forschungsförderung aus. Des Weiteren regte er die Begründung eines „Europäischen Forschungswährungsverbundes“ an, der die Ausgabe von Förderschecks anstelle von Geld ermöglichen könnte, die nach Bedarf in den jeweiligen nationalen Forschungsförderungsorganisationen eingelöst werden könnten.

Im Anschluss an den Vortrag fand eine von Bruhns geleitete Podiumsdiskussion statt, an der vor allem französische Wissenschaftler und Akteure der nationalen Forschungsförderungsorganisationen teilnahmen.

Als erster ergriff JEAN-MICHEL RODDAZ (ANR/Bordeaux III) das Wort und stellte die Zusammenarbeit zwischen DFG und ANR aus seiner Sicht dar. Er betonte eingangs die Vorreiterrolle, die die deutsch-französischen Geisteswissenschaften auf dem Feld der binationalen Kooperation einnähmen. Bei der Zusammenarbeit zwischen der ANR, die nach dem Modell der DFG gestaltet worden sei, und der DFG sei es zunächst darum gegangen, die Schwierigkeiten, die sich aufgrund unterschiedlicher Wissenschaftssysteme und unterschiedlicher Sprachen ergaben, zu beseitigen. Bei der ersten Ausschreibung zum DFG-ANR-Förderprogramm hätten sich Forscher/innen aus 90 bereits existierenden Projektgruppen beworben, was für die Überwindung dieser Probleme auf der Ebene der Wissenschaftler/innen spreche. Auch in der gemeinsamen Bewertungskommission hätten die Teilnehmer/innen in über 80 Prozent der Fälle einen Konsens über die Annahme oder Ablehnung eines Förderungsantrags gefunden, was auf eine erfolgreiche Erarbeitung geteilter wissenschaftlicher Standards hinweise. Im Allgemeinen stelle sich die Zusammenarbeit zwischen deutschen und französischen Forschungsförderungsorganisationen als fruchtbarer heraus als die Kooperation eines dieser Akteure mit englischen Forschungsförderern. Dennoch arbeiteten DFG und ANR daran, ihre Zusammenarbeit auf das Feld der multilateralen Beziehungen auszuweiten.

THOMAS WIEMER (DFG) unterstrich noch einmal die drei wichtigsten Elemente in der Zusammenarbeit deutscher und französischer Wissenschaftler/innen einerseits und deutscher und französischer Forschungsförderungsorganisationen andererseits: Vertrauen, Sprache und die Nähe der Forschungsförderungsorganisationen zu den Wissenschaftler/innen. Voraussetzung für einen wissenschaftlichen Dialog seien das Vertrauen in die Fähigkeiten des jeweils Anderen, was in den gemeinsamen Gremien von DFG und ANR durch die Verwendung der jeweils eigenen Muttersprache gewährleistet werden soll. Ein weiterer wichtiger Punkt für Wiemer ist die Transparenz der Bewilligungs- bzw. Ablehnungskriterien der Förderung für die Wissenschaftler/innen.

PIERRE MONNET (EHESS/DFH) konzentrierte sich in seinem Redebeitrag auf die Doktorandenausbildung und ihre Förderung durch die Deutsch-Französische Hochschule (DFH). Er wies darauf hin, dass es bereits bei den ersten Forschungsvorhaben (Dissertationen) eine Förderung geben sollte und stellte heraus, dass die binationalen Graduiertenkollegs besondere sprachliche und kulturelle Kompetenzen vermittelten. Die Erfahrungen, die auch die Betreuer eines binationalen Graduiertenkollegs sammelten, wirkten sich förderlich auf die Schaffung gemeinsamer Standards bei der Bewertung von Forschungsarbeiten aus.

PATRICK FRIDENSON (EHESS) sprach sich für eine deutsch-französische Zusammenarbeit in zunächst kleinen Gruppen aus, deren Mitglieder sich aus den an Hochschulen tätigen Wissenschaftler/innen rekrutieren sollten. In diesem Zusammenhang verwies er auch auf die Exzellenzinitiative der Bundesregierung. Er hob die Vorteile dieser Evaluation der universitären Forschung im Vergleich mit der französischen Opération Campus hervor: Im Gegensatz zum deutschen Verfahren hätten bei der französischen Bewertung zu wenige Diskussionen mit den Forscherteams stattgefunden, seien keine ausländischen Expert/innen zu Rate gezogen worden und es hätte im Vergleich weniger Geld zur Verfügung gestanden.

DENIS PESCHANSKI (Paris I/CNRS) stellte in seinem Überblick über die französische Forschungslandschaft in den Geisteswissenschaften deren Stärken und Schwächen heraus. Traditionell bestehe sie aus den Universitäten, den Grandes Écoles, der CNRS und der ANR. Ihm zufolge weist die französische Forschung sowohl Vor- als auch Nachteile im internationalen Vergleich auf. Zu den Nachteilen zähle die große Anzahl kleinerer Universitäten und Forschungsinstitute, denen allein die Kapazitäten für effektive Forschung fehlten und die sich außerdem zunehmend voneinander abgrenzten. Hier könnten Fusionen Abhilfe schaffen, da diese eine internationale Dimension bei gleichzeitiger Beibehaltung der regionalen Verankerung fördern würden. Des Weiteren kritisierte er die Arbeitsbelastung der an der Universität angestellten Wissenschaftler, denen zwischen Lehre und Verwaltungsaufgaben nur wenig Zeit für die Forschung bleibe. PESCHANSKI sprach sich für eine Verbesserung der Lage der französischen Forschung durch eine stärkere internationale Vernetzung aus.

Als Bilanz kann festgehalten werden, dass sich die Rahmenbindungen geisteswissenschaftlicher Forschung in Deutschland und Frankreich in Folge der Bologna- und Lissabonprozesse sowie der verstärkten Umstellung auf Projekt- und Drittmittelfinanzierung in ähnlicher, wenn auch nicht gleicher Art und Weise verändern. So einschneidend die Veränderungen zurzeit auch sein mögen, so sehr scheinen die Geisteswissenschaften ihren Platz in der Wissenschaftslandschaft zu behaupten. Der aktuelle Vergleich der Entwicklung in zwei Ländern mit grundsätzlich anders strukturierten Wissenschaftssystemen ist dabei stimulierend für die Selbstverortung im Rahmen der Veränderungen im eigenen Land.

Konferenzübersicht:

Eröffnung

Gudrun Gersmann (DHI, Paris): Begrüßung
Angelika Willms-Herget (BMBF, Bonn): Grußwort

I. Nach dem „Jahr der Geisteswissenschaften“ – Stand und Perspektiven des deutschen Modells der Förderpolitik

Moderation: Stephan Geifes (DHI Paris)

Wolfgang Schieder (Stiftung DGIA)
Geisteswissenschaften – und kein Ende?

Ulrich Herbert (Freiburg)
Bürokratie des Kreativen. Perspektiven und Desiderate der Förderpolitik für die Geisteswissenschaften

Peter Strohschneider (Wissenschaftsrat)
Möglichkeitssinn. Geisteswissenschaften im Wissenschaftssystem

Pierre Monnet (Paris / Saarbrücken)
Forschungsförderung einer binationalen Einrichtung: das Beispiel der Deutsch-Französischen Hochschule

II: Geisteswissenschaftler im Netz – neue Arbeits- und Publikationsinstrumente für die Geisteswissenschaften

Moderation: Stephan Geifes (Paris)

Marin Dacos (Lyon)
Die Online-Projekte „revues.org“ et „hypothèses“

Michael Kaiser, Claudie Paye (Bonn / München)
Die Publikationsplattform „perspectivia.net“

Hinnerk Bruhns (Paris)
„Trivium“ Die deutsch-französische Zeitschrift für Geistes- und Sozialwissenschaften

Helga Ebeling (Paris)
Deutsch-französische Forschungskooperation und Netzwerke

III. Geisteswissenschaften als Vorreiter? – Deutsch-französische Zusammenarbeit in Forschung und Lehre

Moderation: Hinnerk Bruhns (Paris)

Matthias Kleiner (Bonn)
Die deutsch-französische Zusammenarbeit in den Geisteswissenschaften – ein Wegbereiter für Forschungszusammenarbeit in Europa?

Anschließende Podiumsdiskussion mit Patrick Fridenson (Paris), Maurice Godelier (Paris),
Pierre Monnet (Paris, Saarbrücken), Denis Peschanski (Paris), Jean-Michel Roddaz (Bordeaux) und Thomas Wiemer (Bonn)


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