Absolut Jena: Totalität des Geistes und die Physik im Großen – Vom »absoluten Proceß« der Simulation zu einem neuen Lebensalter der Kunst

Absolut Jena: Totalität des Geistes und die Physik im Großen – Vom »absoluten Proceß« der Simulation zu einem neuen Lebensalter der Kunst

Organisatoren
Kunsthistorisches Seminar, Friedrich-Schiller-Universität Jena in Zusammenarbeit mit dem Zeiss-Planetarium Jena
Ort
Jena
Land
Deutschland
Vom - Bis
13.11.2008 -
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Von
Isabell Schrickel, Humboldt-Universität zu Berlin

"Totalität des Geistes und die Physik im Großen – Vom »absoluten Proceß« der Simulation zu einem neuen Lebensalter der Kunst" – so lautete der vollständige Titel des feierlich angekündigten Symposiums, gefördert vom Verein der Freunde und Förderer der FSU Jena, welches in seinem Verlauf das "Systemprogramm für Parasemantik und Präemptive Kultur" inaugurierte.

Als sich vor nun bald zweihundert Jahren die Entscheidung einer in Berlin zu errichtenden höhern Lehranstalt unter dem Eindruck der politischen Notlagen verzögerte, machte Schleiermacher den kühnen Vorschlag, die Gelehrten selber sollten die Universität aus eigener Initiative provisorisch eröffnen.1 Möglicherweise hatten wir es in Jena mit einer ähnlich kühnen Geste zu tun, welche – in Ermangelung eines Ortes, an dem die zeitgenössische Wissenschaft mit der zeitgemäßen Kunst der programmatisch erneuerten Frage nach der Einheit ihres Wissens nachgehen kann – in einer freien Forschungsinitiative den Faden des "Älteste[n] Systemprogramm[s] des deutschen Idealismus" wieder aufnahm und das "Jenaer Programm"2 aktualisierte. Das 1797 entstandene und nur als Fragment überlieferte "Älteste Systemprogramm" prognostiziert für die späteren Zeitalter: "wenn die Philosophie die Ideen, die Erfahrung die Data angibt, können wir endlich die Physik im Großen bekommen" – und zwar unter der alles vereinigenden "Idee der Schönheit"3. Die Konstellationsforschung des Jenaer Programms aber verpasste es, dem Geist diese Flügel zu verleihen, ihn für den "Höhenflug des Prozesses"4 zu rüsten, in dessen Verlauf ultimative Einsicht in das Werden des Wissens gewonnen werden kann, sei es als Wissenschaft (Hegel) oder Kunst (Hölderlin). Im "Bezugsfeld von physis und techné, wie es sich in drei entscheidenden Initiativen des abendländischen Denkens konstelliert – in der Theorie der Zahl und im Entwurf der Möglichkeit einer mathematischen Physik in der Antike, im Prozeß-Denken des deutschen Idealismus und heute, in der Zusammennahme beider, angesichts der Zeit"5 – verhandelte das Symposium dieses Projekt erneut. Das »systemprogrammatische Denken« begreift den »absoluten Proceß« als "das ausgezeichnete Verfahren des Geistes, sich willentlich in die Schranken der Natur zu begeben; es ist die maßgebliche Technik seiner Entäußerung, im Durchgang zeitkritischer Modelle die Natur nachzuahmen und im Laufe einer asynchronen, gemäß den Rhythmen des Kalküls unterbrochenen Mimesis praktischen Aufschluss über die Welt zu gewinnen. Weil die Verfahrensweisen solcher Simulation seit jeher (Aristoteles) der Kunst ebenso sehr angehören wie der Wissenschaft im heutigen Sinne, ist ihr Vollzug die entscheidende Schnittstelle beider."6 Die Aktualisierung dieses Programmes bedeutet am »Horizont des Machens« (Bense) des Jahres 2008 ein Aufbrechen "zu den phänomenologischen Geheimnissen der Wahrnehmung, an den rhythmischen Grund der Physik und in das morphogenetische Feld der Lebensprozesse" an der erwähnten Schnittstelle, die in der Konfiguration der Veranstaltung ersichtlich wurde: Zwei theoretische und gleichsam paradigmatische Beiträge aus der Wissenschaft traten in der Bibliothek in einen Dialog mit der künstlerischen und naturwissenschaftlichen Praxis. Anschließend wurde die versammelte theoria in das gegenüberliegende Zeiss-Planetarium geladen, um einem kosmischen und nur dank zeitkritisch avancierter techné möglichem Tunnelbau beizuwohnen, der den Klang von Delphischem Gesang und Saitenspiel durch dessen medienarchäologische Rekonstruktion im Jahre 2008 realisierte.

Die Begrüßung des Gastgebers HANS-CHRISTIAN VON HERRMANN (Jena / Berlin) vom Kunsthistorischen Seminar der Friedrich-Schiller-Universität verlegte die Wissenschaft sogleich in die Zuständigkeit der Ästhetik und charakterisierte beide als Prozess einer aktiven realen Bestimmbarkeit und höchsten Potenzialität.7 MARTIN CARLÉ (Berlin) schnallte der Versammlung die verloren gegangenen Flügel "von Ionien bis Jena"8 an. Der Dichter Hölderlin habe durch die Wiederaufnahme der vorsokratischen Initiative und deren Auffassung von der Natur als einer "ontologischen Zirkularität"9 in einer Sphäre der Zeit die Differenz von Subjekt und Objekt überwunden und damit eine Grundlage für die "Jenaer Naturphilosophie" gelegt. Er wendete die Entäußerung des absoluten Geistes, die sich in Hegels »System der Sonne« als ein »absoluter Proceß« im Anderen vollzieht zur Frage seiner veränderten Verfahrensart angesichts der Temporalität heutiger Simulationstechnologien.

Nach dieser Einstimmung interviewte die Konzeptkünstlerin SUSANNE GERBER (Berlin) den Sinnesbiologen ANDREAS ELEPFANDT (Berlin) vom Institut für Biologie der HU Berlin und versuchte dabei, die methodischen Konvergenzen wissenschaftlicher und künstlerischer Strategien auszuloten.

GERALD WILDGRUBER (Basel) rekonstruierte in großer Luzidität die Filiation von Fiktion und moderner, im Wesentlichen axiomatischer Mathematik. Die Aristotelische "Poetik", die Kurt von Fritz den Höhepunkt der griechischen Reflexion auf die Kunst nannte, theoretisiere das Geschehen in den Tragödien des Sophokles als eine progressive und formelhaft-optimierte Handlung, als ein Vollzug des nach der Notwendigkeit Möglichen10, als ein hypothetisches, quasi deduktives Verfahren, in dessen Verlauf sich Mensch und Götter begegnen. Diese Bestimmung der Tragödie erfahre 1637 eine wissenschaftstheoretische Wendung in Descartes' "Discours de la méthode". Das Narrativ des Waldgängers – das im Fall von Orientierungslosigkeit im Wald fordert, einer einmal gewählten Richtung rigide zu folgen – gebe eine "praktische Verhaltenslehre auf Zeit", die in ihrer kategorialen Verschränkung von Möglichkeit und Notwendigkeit die von Aristoteles eben für die poetische Logik beschrieben wurde, wieder aufnimmt. In einem dritten Schritt deutete Wildgruber die Entwicklung der nicht-euklidischen Geometrien bei Gauß, Bolyai und Lobatschewski an. All dies bildete schlussendlich einen Kommentar, eine Einführung in die Methode des Friedrich Hölderlin und den gesetzlichen Kalkül seiner Dichtung, der die "Wiederkehr der Götter" vorbereiten und absichern soll. In naturphilosophischer Konsequenz leitet sich daraus ein anderes naturwissenschaftliches Bewusstsein ab, das von einem neuen Lebensalter der Kunst kündet. Das, was Paul Valéry im Text "Einführung in die Methode des Leonardo da Vinci" unternommen hatte, geschah hier in performativer Wechselrede zu einem Gedicht Hölderlins selbst.

PETER BERZ (Wien) lauschte dem "Gesang der Natur", dem "Echo des Wachstums" in Hölderlins Dichtung nach, um in einer wiederum wissenshistorischen Rekonstruktion mit Hegel und Lamarck ein Plädoyer für die alternativen Biologien der Morphogenese zu halten, statt dem gegenwärtigen biological turn darwinistischer Prägung, "der uns, um es polemisch zu sagen, auf höheren Befehl des molekulargenetisch-industriellen Komplexes gegenwärtig heimsucht und noch gewaltig heimsuchen wird" (Peter Berz), zu gehorchen. Die Lehren Darwins kümmerten sich wenig um den "organischen Prozess", sondern beruhten auf war of nature, economy of nature und der Parallelisierung works of nature / works of art. Sie fragten einzig nach Funktionen, weshalb die Biologie seitdem eine rein technische Wissenschaft sei, die mit der daraus abgeleiteten substanziellen Homogenität von nature und art (also Technik) den industriellen Komplex der Molekulargenetik noch anfeuert. Der Redner wies daher die systemprogrammatische Initiative auf einen großen Unterschied hin: das Verfahren, Prozesse zu simulieren, lässt diesen Prozess mit dem Verfahren noch nicht identisch werden, also keine Homogenität von nature und art (Simulation). Biologien der Morphogenese fragten demgegenüber zunächst nach den inneren Organisationsprozessen (beschreibbar z.B. im katastrophischen Strukturalismus René Thoms), dem Sein und "wie aus Bauplänen Welten werden" können (was Martin Heideggers "Grundbegriffe der Metaphysik" beschreiben).

Unter der Kuppel des zwischen 1919 und 1926 erbauten Zeiss-Planetariums, dem "welterste[n] Simulationssystem"11 luden JOULIA STRAUSS, MARTIN CARLÉ und SÖNKE HAHN (Berlin) am Abend zur Lecture-Performance: "Von der Konserve der Sphäre in das enharmonische Gewächshaus der Synthetischen Skulptur – 7 mit der neuen All-Dome-Laser-Projection in den Kosmos geworfene Mathematische Operationstiere der Cat-Notation zerbeißen die konservierende Schale der Sphärenharmonie und rütteln im Reigen ihrer archaischen Charaktäre vom Sockel die Repräsentation der klassischen Skulptur." Zunächst entdeckte die reale Forschungsinitiative in den überaus komplexen Systemata der altgriechischen Musik und ihrer "parasemantisch" genannten Notation eine Gemeinsamkeit zu den heutigen epistemologischen Anforderungen in Kunst und Wissenschaft: Da die Physis der Modulation zwischen den charaktertragenden Skalen der Griechen während des musikalischen Prozesses nicht auf dem Papier rekonstruierbar ist und weil die Dynamik im »Wechsel der Töne« des Lyraspiels nicht durch die simple Relektüre ihrer Notation wiedererklingen kann, ist dieses System nur im präemptiven Register zeitgenössischer Echtzeit-Programmierung einzuholen. Dank dieser "künstlichen Vertiefung unseres Zeitspielraums"12, die heutzutage ubiquitär in der wissenschaftlichen Praxis ist, wird uns auch das musikalische Denken der Griechen in seiner rhythmischen Zeitlichkeit und Kunst der Ekstase erst nachvollziehbar. Im enharmonischen Gewächshaus der Synthetischen Skulptur, in dem auch ein Blumenregen kultiviert wurde, fand die Darbietung der "Ersten delphischen Hymne an Apollon" im Simulations-Set um die echte Lyra statt, die dem Geist von Absolut Jena schließlich die poetische und simulative Evidenz verlieh.

Im Geflecht von Wissenschaft und Kunst bildete sich ein Potenzial, das die ganze Welt der griechischen Musen zu erleben gab und das sehr selten auf einer wissenschaftlichen Tagung anzutreffen ist. Die Veranstaltung gewann daher im aktuell vielerorts und von beiden Seiten aus diskutierten Dualis von Kunst und Wissenschaft in der expliziten Durchführung dieser Verbindung ein eigenständiges Profil und einen starken Standpunkt: Kunst und Wissenschaft wurden genetisch geeint und einander nicht nur exemplarisch als wechselseitige Impulsgeber vorgeführt. Hier wurde etwas Grundsätzliches gewagt, man könnte fast sagen, es wurde sogar ein eigenes Genre begründet.

Kurzübersicht:

Hans-Christian von Herrmann: Begrüßung

Martin Carlé: Weltbauplatz Jena. Einführende Bemerkungen zum »absoluten Prozess« der Simulation

Susanne Gerber: kunst-texte zur simulation (das artefakt knackt. eXsistenz. der gnom und das genom. der code und der tod. dada.)

Susanne Gerber im Interview mit Andreas Elepfandt: Wo ist die Kunst Wissenschaft und wo die Wissenschaft Kunst?

Gerald Wildgruber: Gesetzlicher Kalkul und Poëtische Logik. Einführung in die Methode des Friedrich Hölderlin

Gerald Wildgruber und Peter Berz: Modulation: Vom Delphin. Ein Hölderlinscher Pindar-Kommentar in Wechselrede

Peter Berz: Morphogenesen, Oder: "Das Echo des Wachstums"

Joulia Strauss und Martin Carlé: Von der Konserve der Sphäre in das enharmonische Gewächshaus der Synthetischen Skulptur. 7 mit der neuen All-Dome Laser Projection in den Kosmos geworfene Mathematische Operationstiere der Cat-Notation zerbeissen die konservierende Schale der Sphärenharmonie und rütteln im Reigen ihrer archaischen Charaktäre vom Sockel die Repräsentation der klassischen Skulptur. Lecture-Performance in Zusammenarbeit mit Moritz Mattern und Sönke Hahn

Empfang am Kunsthistorischen Seminar, Blauer Salon.

Anmerkungen:
1 Vgl. Wilhelm Weischedel (Hrsg.), Idee und Wirklichkeit einer Universität: Dokumente zur Geschichte der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Berlin 1960, S. XVIII.
2 Dieter Henrich, Der Anfang in Jena – Aufschluss und Aufnahme, Rede anlässlich des Erhalts der Ehrendoktorwürde der Friedrich-Schiller-Universität am 23. Juni 2005, <http://www.uni-jena.de/rede_henrich-skin-print.html> (24. November 2008).
3 Ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus, in: Frankfurter Hölderlin Ausgabe, hrsg. von D.E. Sattler, Bd. 14, S. 14-17.
4 Dieter Henrich, Der Anfang in Jena.
5 Systemprogramm für Parasemantik und präemptive Kultur (SfPPK – Martin Carlé, Joulia Strauss, Gerald Wildgruber), <http://systemprogramm.info/Materialien/Absolut_Jena_Programm_B.pdf> (19. November 2008).
6 Ebd.
7 Vgl. Friedrich Schiller, Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, Briefe 19-21, in: Sämtliche Werke, Bd. 5, München 1962, S. 626-636.
8 Carlé zitierte den Entdecker des "Ältestes Systemprogramms" (1917): Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, Frankfurt am Main 1921.
9 Vgl. Márcio dos Santos Gomes, Die ontologische Zirkularität: Hölderlins Vorsokratiker-Rezeption und ihr Einfluss auf seine Poetologie, Diss. Universität Jena 2004.
10 Aristoteles, Poetik, Buch 9, 1450a-1451b.
11 SfPPK, ebd.: "[…] weil es bereits die Totalität möglicher Himmels-Konstellationen enthält und Zeitreisen durch die Geschichte des Kosmos an jeden beliebigen Schauplatz der Erde verspricht."
12 Ebd.


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