Kommunikation im Spätmittelalter: Spielarten - Deutungen - Wahrnehmungen

Kommunikation im Spätmittelalter: Spielarten - Deutungen - Wahrnehmungen

Organisatoren
Universität Zürich: Romy Günthart und Michael Jucker
Ort
Zürich
Land
Switzerland
Vom - Bis
06.06.2003 - 07.06.2003
Url der Konferenzwebsite
Von
Stefan Rohdewald, Osteuropäische Geschichte, Universität Zürich/Frankfurt am Main

Am 6. und 7. Juni 2003 fand an der Universität Zürich unter dem Titel "Kommunikation im Spätmittelalter: Spielarten - Deutungen - Wahrnehmungen" eine internationale, interdisziplinäre Nachwuchstagung zur Kommunikationsgeschichte statt. Insgesamt zwanzig Forscherinnen und Forscher von Leeds bis Zürich und von Berlin bis Fribourg präsentierten an diesen beiden Tagen ihre aktuellen Forschungen zur Kommunikation im Spätmittelalter.

Nach einer kurzen Einführung in das Thema durch die Zürcher Organisatoren Romy Günthart {Germanistik) und Michael Jucker (Geschichte) und einer Begrüßung durch den Interimsleiter des Kompetenzzentrums "Zürcher Mediävistik", Roger Sablonier, eröffnete Andreas Kränzle (Zürich) die Reihe der Vorträge mit einer Darstellung des Luhmannschen Kommunikationsbegriffes. Wesentlich war die Unterscheidung von Bewusstseinsvorgängen einerseits und Kommunikation als autopoietischem, selbstreferentiellem System andererseits. Kommunikation ist in diesem Verständnis nicht Handlung, und soziale Systeme werden nicht durch handelnde Menschen geschaffen. Vielmehr entsteht ein soziales System im Selektionsprozess von Kommunikationsereignissen.

Jürgen Fröhlich (Kassel) stellte spätmittelalterliche und frühneuzeitliche gedruckte Flugblätter mit Homepages im Internet in einen prozessuellen Zusammenhang. Beide seien Übergangsphänomene der ersten Anwendung neuer Medien. Obschon diese Entwicklung nicht absehbar sei, würden durch solche pragmatischen Entwicklungen die habituelle Kommunikation verändert. Im Sinne von Evolution würden unbewusst Weichen für die spätere Entwicklung der Benutzung der neuen Medien gestellt.

Das erste, den Blick ganz auf das Mittelalter richtende, Referat hielt Lucas Burkart (Basel). Während Saint-Denis seinen Status vor der Amtszeit des Abtes Suger mit Texten verteidigt hatte, inszenierte dieser im ausgehenden 11. Jh. den Primatsanspruch des Klosters mit öffentlich präsentierten Reliquien. Der mit Edelmetallen zum Kopfreliquiar homogenisierte Schädel des Patrons des Klosters wurde als Klosterschatz zur politischen Kategorie. Mit der Teilnahme der Könige an den entstehenden Ritualen konnte das Kloster ihnen gegenüber eine mächtige Position herstellen. Als Philipp der Schöne den Kopf in die Privatkapelle des königlichen Palastes überführte, schmälerte er die politische Stellung des Klosters und steigerte gleichzeitig seine sakrale Position.

Sabine Sommerer (Fribourg und Dresden) verglich Kommunikationsmodelle spätmittelalterlicher Balkenmalereien in zwei Häusern der Oberschicht Basels ("Schönes Haus" und "Zerkindenhof") sowie im Palazzo "Lo Steri" in Palermo. Sie unterschied anhand der Anordnung und des Inhalts der Abbildungen jeweils von einander unabhängige und konsequent verfolgte Strategien der Kommunikation: Bewusst ungeordnetes, unverbindliches Zitieren mit dem Ziel der Bekräftigung des erlangten sozialen Status im "Schönen Haus", gesellige Kommunikation durch die Darstellung spezifischer biographischer Ereignisse ohne Überzeugungsfunktion im "Zerkindenhof" sowie das Erzählen einer zusammenhängenden (biblischen) Geschichte in der Kombination mit erläuternden, teilweise aber auch gänzlich sinnentleerten Inschriften in Palermo.

Sabine Häussermann (Augsburg) befasste sich mit "Zeigen als Erzählen" als einer spezifischen Strategie visueller Kommunikation der Buchillustration. Mit der exemplarischen Analyse der zeigenden Erzählerfigur im Druck zu Boners "Edelstein" führte sie in das Kommunikationsmodell ein. Die Erzählerfigur erwies sich dabei nicht in erster Linie als visualisierter Erzähler, sondern vielmehr als personifizierte Hand respektive "nota bene", und damit als redaktioneller Fingerzeig des Buchherausgebers. Er machte den Leser auf von ihm unbeeinflusste Bilder, nicht auf erzählte Texte aufmerksam. Darüber hinaus wies die Figur den Leser auf den verborgenen Sinn des angezeigten Bildes auf seiner inhaltlichen Ebene als zu deutende Fabel hin.

Patrick Oelze (Konstanz) beschrieb im Konstanz des beginnenden 15. Jh. einen Differenzierungsprozess der politischen Teilhabe. Einer Geschichte der sich seit dem Ende des 14. Jh. insbesondere mit zunehmender Schriftlichkeit festigenden und spezialisierenden Institutionen hielt er eine Geschichte der Ereignisse gegenüber, in der die Verflechtung von Zunftleuten und Patriziern von den Zünftlern als Ordnungsproblem wahrgenommen und aufzulösen versucht wurde. Mit Verordnungen untersagten die Zünftler den Patriziern die Verbindung von Geselligkeit mit Politik. Oelze beobachtete damit einen Diskurs über Rahmenbedingungen städtischer Politik im spätmittelalterlichen Konstanz.

Mit einer Präsentation des spätmittelalterlichen Rathauses als "Ort der Kommunikation" am Beispiel Braunschweigs folgte Matthias Ohm (Schleswig). Er setzte die vielfältigen Kommunikationssituationen, in denen der Rat der Bevölkerung Informationen bekanntgab, in Bezug zu spezifisch für diese Funktion des Rathauses als Promulgationsort errichteten, architektonischen Öffnungen zur Bevölkerung. Orte der Bekanntgabe von Regelungen und anderen Informationen seien durch besonders aufwändigen Schmuck hervorgehoben gewesen.

Björn Christlieb (Freiburg i. Br.) verglich die Kommunikation zwischen dem Landvogt Kaspar von Mörsberg und den Städten Freiburg und Basel. In Freiburg wurden die schriftlichen Ehrabschneidungen und Eingriffe als ein neuer "stylum" wahrgenommen, mit dem der Landvogt seine Interessen gegenüber der Stadt formulierte. Diese zeitgenössische Normenreflexion wurde als Versuch gewertet, verlorene politische Spielräume auf der Ebene der Schriftlichkeit zurückzugewinnen. Der Sprachstil der Missiven Basels hingegen stand für ein ganz anderes Selbstverständnis, mit denen die in weitere Kommunikationskreise integrierten Basler auch in Auseinandersetzungen mit dem Mörsberger gewandt und erfolgreich argumentierten. Die Missiven und ihre schriftliche Sprache konstituierten politische Handlungsspielräume.

Christian Jörg (Trier) konzentrierte sich auf das städtische Nachrichtenwesen und seine Funktion im Beziehungsgeflecht zwischen dem Königtum und den Reichsstädten. Im Krisenfall wie der Absetzung König Wenzels konnten Netzwerke über die traditionellen Kontakte innerhalb bestimmter Städtegruppen hinaus aktiviert und der Nachrichtenfluss erheblich beschleunigt werden. Nur in der Kommunikation untereinander konnten die Städte gemeinsame politische Linien herstellen. Rücksichtnahmen auf Loyalitäten und Informationslücken im Unterschied zwischen geheimer oder verlautbarter offizieller Kommunikation sowie Gerüchten ermöglichten das Phänomen bewusst verspätet inszenierter öffentlicher Reaktionen.

Peter Niederhäuser (Winterthur) untersuchte Kommunikationsformen und Kontaktnetze Winterthurs mit dem Habsburger Fürsten. Obwohl 1467 an Zürich verpfändet, schufen Vertreter der Kleinstadt im Zusammenhang von verschiedenen gerichtlichen Auseinandersetzungen mit Hilfe nach wie vor bestehender Kontakte nach Innsbruck geschickt einen beachtlich großen Spielraum kleinstädtischer "Außenpolitik". Das externe wie das interne politische Handeln Winterthurs lag in der Hand einer kleinen, eng miteinander verschwägerten obersten Führungsgruppe. Winterthur war auf deren persönliche Netzwerke stärker angewiesen als größere Städte mit einem Gesandtenwesen. Kommunikation über große Distanz sicherte einen städtischen Spielraum und gleichzeitig den Einfluss einer für das städtische Gemeinwohl engagierten Elite.

Mirjam Reich (Zürich und Konstanz) schilderte Kommunikationsbedingungen, die in Beschreibungen mystischen Erlebens zwischen dem Autor, Gott sowie der/dem Lesenden durch das Medium der Schrift entstanden. Mechthild von Magdeburg reflektierte im "Fliessenden Licht der Gottheit" Probleme schriftlicher Fixierung persönlicher Erfahrungen mit Gott. Sich an den Leser wendend, situierte sie sich in einem doppelten Kommunikationsprozess, in dem sie Empfangenes schriftlich festhielt und der Leserschaft über den Tod hinaus vermittelte. Mit dem Selbstverständnis eines beauftragten "Schreibrohr Gottes"‚ erfüllte sie einerseits den göttlichen Auftrag Zeugnis abzulegen und wappnete sich andererseits vor böswilligen und unverständigen Lesern.

Henrik Otto (Hildesheim) skizzierte die Rezeption volkssprachlicher Mystik unter Angehörigen der schmalen Bildungsschicht. Die Volkssprachlichkeit von Texten Taulers, Seuses und anderer war durch ihre Entstehung im Kontext der Seelsorge an geistlich lebenden Frauen ohne tiefere Lateinkenntnisse bedingt. Sie behinderte aber die Verbreitung der Texte unter den interessierten Gebildeten. Lateinische Randbemerkungen an volkssprachlichen Schriften bezeugen Interesse von Gelehrten, aber nicht gelehrtes Interesse, wie es erst Luther praktizierte. In diesem Kontext konnten die Schriften Taulers und des "Frankfurters" als Verbündete gegen das traditionelle scholastische Denken erscheinen.

Jürgen Römer (Kassel) richtete den Blick auf den in der Fülle urkundlicher Schriftlichkeit des Spätmittelalters enthaltenen schriftlichen Niederschlag persönlicher Beziehungen von Konventualen an der oberen Weser. Die Urkunden verstand er dabei als schwaches Echo lebhafter Gespräche. In der Verknüpfung der einzelnen Menschen rekonstruierte er Kommunikationsstrukturen über größere Zeiträume in ihrem geographischen Zusammenhang. Damit wandte er sich von der abstrakten Vorstellung einer Klosterlandschaft des Oberweserraumes ab, die seit Jahrzehnten beschrieben, aber nicht als im Geflecht persönlicher Beziehungen von Menschen konstituiert verstanden worden ist.

Sabine Arend (Heidelberg) untersuchte Strategien der Stellensuche bzw. den spätmittelalterlichen Arbeitsmarkt des Pfarrklerus am Beispiel der nördlichen Teile des Bistums Konstanz. Bei der Besetzung geistlicher Stellen ließen sich die unterschiedlichsten Kommunikationsformen zeigen. Zum erfolgreichen Erwerb einer Pfründe waren Mund-zu-Mund Kommunikation, Tauschvereinbarungen und persönliche Kontakte entscheidend. Erst in einer zweiten Phase setzte offizielle Kommunikation ein, so bei der Präsentation und Proklamation sowie bei der symbolisch kommunizierten Einsetzung.

Susanne Knackmuss (Berlin) gab einen Einblick in Kommunikationsstrukturen zwischen "Innen" und "Außen" am Beispiel der Nürnberger Äbtissin Caritas Pirckheimer und ihres Konvents St. Clara. "Öffentlichkeit" im und um den Sonderlebensraum "observantes Frauenkloster" veränderte sich durch Medienwandel und Reformation, wenn beispielsweise bei der klösterlichen Tischlesung höchstaktuelle polemische Flugblätter verlesen wurden. Die sehr gut informierte Äbtissin entwickelte aus der Klausur einen beeindrucken "privaten" Briefverkehr. Zeitgenossen machten den Nürnberger Nonnen ihre Briefoffensive und public-relation-Arbeit zum Vorwurf. Die Klostermauern und das Redefenster erwiesen sich als durchlässige Membran, die spezifische Öffentlichkeiten und Innenräume in ihrem gegenseitigen Bezug zueinander herstellten.

Alan Murray (Leeds) zeichnete den Wandel von Funktion und Zweck militärischer Musik vom 13. bis ins 16. Jh. nach. Schon im 13. Jh. war der Einsatz von Musik als offensiver Waffe bekannt: ununterbrochener Krach stellte den Gegner vor die Wahl zwischen Friede respektive Ruhe oder Tod. Flämische, schottische und eidgenössische Haufen nutzten als mobile Infanterie ebenfalls Militärmusik. Erst im 16. Jh. ist das Ziel nachweisbar, mit Musik eine gute Ordnung und Gleichschritt herzustellen. Mit der Basler Fasnachtsmusik konnte ein akustisches Beispiel für die Musik einer in ihrem Ursprung spätmittelalterlichen städtischen Miliz demonstriert werden.

Martina Hacke (Düsseldorf) thematisierte den Einfluss politischer Wandlungsprozesse auf Kommunikation von Institutionen mit politischer Bedeutung am Beispiel der Universität von Paris. In der Zeit des Schismas war die Entsendung von Rotuli an den Papst unmöglich, da er sonst als anerkannt gegolten hätte. Mit der Anpassung Basler Reformdekrete auf dem Konzil von Bourges 1438 gingen juristische Grundlagen für die Versendung von Legationen verloren. 1446 wurde die Universität dem Parlament unterstellt, ihr Gesandtschaftswesen verlor politisches Gewicht.

Georg Wolf (München) richtete den Blick auf den Wandel "internationaler Beziehungen" an der Wende zur Frühen Neuzeit und damit auf die Entstehung neuzeitlicher Diplomatie. Mit dem Übergang von ad hoc Gesandten zu ständigen Botschaften veränderte sich der Zugang zu aktuellen Nachrichten. Regelmäßige Verbindungen und Verbindungswege erschienen als Teil der Institutionalisierung neuer Kommunikationsnetze an der "Epochenschwelle".

Dass das Thema Kommunikation im Spätmittelalter noch lange nicht ausgereizt ist, zeigten nicht nur die vielfältigen Vorträge, sondern auch die Fragen und Diskussionsbeiträge der ca. 50 Besucherinnen und Besucher zu den Beiträgen und in der Schlussdiskussion. So wurden auch thematische und disziplinäre Lücken angesprochen, beispielsweise die Abwesenheit von Rechtshistorikern oder Philosophen. Letztlich hatte es aber nicht der Sinn der Tagung sein können, möglichst flächendeckend Themen und Zugänge anzusprechen, sondern mit verschiedenen Kommunikationsbegriffen arbeitende junge Mediävisten zusammenzuführen und eine interdisziplinäre Diskussion frei von akademischen Hierarchien zu ermöglichen. Im Rückblick erscheinen insbesondere Kommunikationssituationen, in denen die Bedingungen von Kommunikation zur Sprache gebracht und reflektiert wurden, als höchst aufschlussreich für die Wahrnehmung und Differenzierung von Kommunikationssträngen. Ein Band zur Tagung ist geplant und kann mit Spannung erwartet werden.