Die Stadt in der Spätantike - Niedergang oder Wandel?

Die Stadt in der Spätantike - Niedergang oder Wandel?

Organisatoren
Abteilung Alte Geschichte im Historischen Seminar der LMU, München, Prof. Dr. Jens-Uwe Krause, Dr. Christian Witschel
Ort
München
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.05.2003 - 31.05.2003
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Von
Christian Witschel, München

Einleitung: Zielsetzung des Kolloquiums

Die Abteilung Alte Geschichte im Historischen Seminar der LMU München veranstaltete unter der Leitung von Prof. Dr. Jens-Uwe Krause und Dr. Christian Witschel am 30. und 31. Mai 2003 im Historicum der LMU ein internationales Kolloquium zum Thema "Die Stadt in der Spätantike - Niedergang oder Wandel?" mit insgesamt 17 Referenten. Die Veranstaltung wurde durch Zuschüsse der DFG und der Münchener Universitätsgesellschaft unterstützt. Die Publikation der Beiträge wird in der Reihe "Historia Einzelschriften" erfolgen.

Für die Wahl dieses Themas waren zwei wesentliche Motive ausschlaggebend: Zum einen der Abschluß der ersten Phase eines größeren Forschungsprojektes zur Stadt in der Spätantike, das am Lehrstuhl von Prof. Krause angesiedelt ist und ebenfalls von der DFG gefördert wird (s. http://www.geschichte.uni-muenchen.de/ag/projekte/agstadt/vorstellung.shtml); zum anderen das Erscheinen des lange erwarteten Buches "The Decline and Fall of the Roman City" von Wolfgang Liebeschuetz (Oxford 2001), das die Forschungen zur spätantiken Stadt auf eine neue Grundlage gestellt hat, aber durch seine prononcierten Thesen, wie sie bereits im Titel des Werkes zum Ausdruck kommen, auch zur Diskussion herausfordert. Neben der Frage nach dem Vorhandensein regionaler "patterns" und dem Funktionieren der Städte nach der (angeblichen) Marginalisierung der Curialen sollte dabei insbesondere erörtert werden, inwieweit die unbestreitbaren Veränderungen, die sich in den spätantiken Städten in politischer, sozialer und urbanistischer Hinsicht beobachten lassen, tatsächlich mit dem Terminus ‚Niedergang' beschrieben werden können oder ob hierfür nicht eher ein neutraler Begriff wie ‚Wandel', der die Entwicklung nicht von vorneherein negativ festlegt, angebracht wäre.

Einzelreferate

Wie Claude Lepelley (Paris-Nanterre; c.lepelley@wanadoo.fr) in seinem Vortrag "La cité africaine tardive: De la lente rupture avec la cité classique à la disparition" aufzeigt, zeichnet sich in Africa wie in vielen anderen Regionen des Reiches eine Zweiteilung der spätantiken Stadtgeschichte ab, nämlich einerseits das späte 3. und 4. Jh. und andererseits das 5. und 6. Jh., was in Africa der vandalisch-byzantinischen Epoche entspricht. Während sich für die erste Phase das von Lepelley bereits früher entworfene Modell einer äußerst stabilen, prosperierenden und konservativen Stadtkultur durch die epigraphischen und archäologischen Neufunde der letzten Jahre mannigfach bestätigt hat, wendet er sich nun gegen eine zu optimistische Einschätzung der späteren Phase. Er sieht vielmehr Anzeichen für eine tieferreichende Krise in Africa bereits vor der vandalischen Eroberung im Jahre 429 und nimmt für die Zeit danach einen zunächst schleichenden Niedergang an, der sich dann im Laufe des 6. Jhs. rapide beschleunigt habe. Verantwortlich hierfür sei in erster Linie der zunehmende Druck der halbnomadischen Berber aus dem Süden und Osten der Region gewesen. Allerdings ist der Zustand der afrikanischen Städte in vandalischer und byzantinischer Zeit nach wie vor schwer zu beurteilen, da es an einer gründlichen archäologischen Aufarbeitung der Hinterlassenschaften dieser Epoche fehlt. Immerhin ist in Africa wie in anderen Regionen des Reiches gerade in dieser Zeit ein großer Kirchenbauboom zu beobachten, der in seiner Bedeutung nicht zu unterschätzen ist.

Für das Städtewesen in Italien ergibt sich nach den Ausführungen ("Cadavera urbium, nuove capitali e Roma aeterna: l'identità urbana in Italia fra crisi, rinascita e propaganda [secoli III - VI d.C.]") von Federico Marazzi (Napoli; federico.marazzi@unisob.na.it) das differenzierte Bild eines langsamen Wandels ohne einschneidende Krisen-Momente, der vielerorts bereits im späteren 2. Jh. begonnen hatte. Gerade im überurbanisierten Süden, aber auch in einigen Regionen des Nordens kam es dabei zu einem Ausleseprozeß, der schließlich zu einer neuen Hierarchisierung des Städtenetzes führte, welche durch die Provinzialisierung der Halbinsel im späten 3. Jh. noch einmal erheblich bestärkt wurde. Städte, die sich in irgendeiner Weise in die neuen staatlichen Strukturen eingliedern konnten, profitierten hiervon, sei es als kaiserliche Residenzen, sei es als Provinzhauptstädte oder auch nur als eine Art ‚Servicestädte' für die zivile oder militärische Verwaltung. Andere Orte, die nicht an den zentralen Routen lagen, fielen hingegen zurück, wobei hier oft recht frühzeitig Auflösungserscheinungen in der urbanen Struktur zu beobachten sind. Von einem generellen Niedergang des Städtewesens in Italien kann aber zumindest bis zum 5. Jh. keine Rede sein, zumal der Staat sich weiterhin in hohem Maße auf die Städte stützte.

In Bezug auf die spätantiken Städte Galliens wurden in zwei Referaten unterschiedliche Perspektiven vorgeführt: Simon Loseby (Sheffield; s.t.loseby@sheffield.ac.uk) hebt in seinem Vortrag "The Changing Cities of Late Antique Gaul", der die Entwicklung der ‚profanen' Stadt zum Thema hat, zunächst auf die starke Veränderung der Stadtbilder ab, die in dieser Region zwischen dem späten 2. und dem frühen 4. Jh. eingetreten war. Besonders auffällig sind hierbei die vielerorts vorkommenden, ‚reduzierten' Mauerringe, die oftmals die öffentlichen Gebäude der hohen Kaiserzeit nicht miteinbezogen. Auf der anderen Seite blieben wichtige städtische Funktionen und auch die munizipale (Selbst)Verwaltung in hohem Maße erhalten. ‚Gescheiterte' Städte sind denn auch in Gallien eher selten, und noch für Gregor von Tours war die civitas ein bestimmendes Element seiner Vorstellungswelt. Die Untersuchung der Christianisierung der gallischen Stadtbilder durch Jean Guyon (Aix-en-Provence; guyon@mmsh.univ-aix.fr) in seinem Referat "La topographie chrétienne des villes des Gaules" weist zudem auf ein weiteres vitales Element des spätantiken Urbanismus hin, nämlich auf den Kirchenbau. Dies zeigt sich sowohl in der Errichtung großzügiger Kathedralkomplexe, die teilweise von der Peripherie in das Zentrum der Stadt verlagert wurden (so in Arles) oder dieses gar ganz dominierten (z.B. in Genf), als auch in dem Kranz von suburbanen Kirchen, der sich um viele Städte entwickelte (z.B. in Clermont-Ferrand) und deren Bezugsachsen neu definierte.

Ein komplexes Bild ergibt sich mittlerweile, nach einer stadtarchäologischen ‚Revolution' in den letzten 20 Jahren, auch in Hispanien, wie Michael Kulikowski (Knoxville; mkulikow@utk.edu) in seinem Beitrag "The Late Antique City in Spain" herausarbeitet. Im Gegensatz zur früheren Forschung wird man für die Spätantike kein generalisiertes Niedergangs-Szenarium mehr postulieren können, auch wenn der Bauboom der tetrarchisch-konstantinischen Zeit im wesentlichen nur den großen Hauptstädten zugutekam und sich spätestens im 5. Jh. auch in bedeutenderen Orten eine starke Vernachlässigung der städtischen Infrastruktur und eine Auflassung zentraler Plätze beobachten läßt. Insgesamt fügt sich die Entwicklung der Städte Hispaniens, die von einem langfristigen Wandel gekennzeichnet war, nun besser in die für Italien und Gallien entworfenen Modelle ein, allerdings mit einer Besonderheit: Die Christianisierung der Stadtbilder war in Hispanien ein offenbar erst spät einsetzender Prozeß, und es dauerte sehr lange (oft bis in das späte 5. Jh.), bis auch im Inneren der Städte Kirchenbauten errichtet wurden.

Die Situation der Städte in Ägypten wird weniger durch die Archäologie als durch die zahlreichen nur hier erhaltenen Papyri beleuchtet; allerdings, wie der Überblick von Peter van Minnen (Cincinnati; peter.vanminnen@classics.uc.edu) "Thinking about Cities in Later Roman Egypt" zeigt, sowohl chronologisch wie gattungsmäßig in sehr unterschiedlicher Intensität. Die Curien, die in Ägypten ohnehin erst sehr spät (nämlich zu Beginn des 3. Jhs.) eingerichtet worden waren, verschwanden bereits im Laufe des 4. Jhs. wieder weitgehend aus der papyrologischen Evidenz, so daß ihre Bedeutung für die ägyptischen Städte aus einer Gesamtsicht eine eher ephemere gewesen zu sein scheint. Die Städte kehrten in der Spätantike somit weitgehend zu ihrem vor-curialen Zustand zurück, wobei nun allerdings kein Bauboom wie im 1./2. Jh. mehr zu verzeichnen ist, wohl aber zahlreiche Anstrengungen zur Erhaltung des überkommenen Baubestandes unter Einbeziehung breiterer Bevölkerungskreise, etwa der Korporationen. Kontrovers diskutiert wurden van Minnens Thesen zur wirtschaftlichen Entwicklung Ägyptens in der Spätantike: Er postuliert einen durch höhere Steuern und geringere Erträge bedingten ökonomischen Niedergang der (städtischen) Eliten, was anderen Modellen und auch generellen Einschätzungen zur Lage in der Spätantike zu widersprechen scheint.

Eine spätantike Blüte des Städtewesens, getragen von einem wirtschaftlichen und demographischen Aufschwung, ist hingegen mit Sicherheit für Syrien und Palästina zu konstatieren. Hier wurde, wie Stephan Westphalen (Göttingen; lembke.katja@t-online.de) in seinem Vortrag "`Niedergang oder Wandel?´ - Die spätantiken Städte in Syrien und Palästina aus archäologischer Sicht" demonstriert, noch bei einigen Neugründungen des 6. Jhs. versucht, gewisse urbane Standards einzuhalten, während bestehende Städte expandierten und auch nach Naturkatastrophen mit erheblichem Aufwand restauriert wurden. Allerdings lassen sich gleichzeitig vom klassischen Städtebau wegführende Tendenzen beobachten, etwa in der zunehmenden Verbauung dieser Straßen mit Läden u.ä. - ein in Chronologie und Bedeutung umstrittenes Phänomen, das aber doch wohl bereits in die spätantike Epoche (5./6. Jh.) gehört und nicht ohne weiteres als Zeichen eines Niederganges gewertet werden darf. Zudem zeigt die Betrachtung der in der Spätantike expandierenden Besiedlung in den ariden Marginalzonen der Region durch ‚Groß-Dörfer' auf, daß hier auch gänzlich andere, offenbar stärker indigene Traditionen des ‚Städtebaus' existierten.

Daß bei der Betrachtung des spätantiken Städtewesens im Osten des Reiches auch das jeweilige Umland unbedingt in die Betrachtungen einbezogen werden muß, betont Clive Foss (Washington D.C.; cff@georgetown.edu) bei seinem Vergleich der Situation in Kleinasien und Syrien ("Cities of Late Antique Asia Minor and Syria: Parallel Developments"). Einige besonders aussagekräftige Regionen können dabei zeigen, wie stark hier auch die ländlichen Siedlungen in der Spätantike prosperierten (z.B. Lykien oder im nordsyrischen Kalksteinmassiv). Ein echter Niedergang ist in vielen Städten Kleinasiens wohl erst im späteren 6. Jh., in Nordsyrien noch etwas später festzumachen, während in Südsyrien sogar eine relativ ungebrochene Kontinuität zur arabischen Epoche zu erkennen ist. Allerdings fehlt es vielerorts an genaueren Datierungen, um diesen Prozeß zeitlich besser fixieren zu können.

Welche Forschungsfortschritte auf diesem Gebiet durch moderne Ausgrabungs- und Surveytechniken noch zu erreichen sind, demonstriert exemplarisch der Vortrag von Marc Waelkens (Leuven; Marc.Waelkens@arts.kuleuven.ac.be) am Beispiel seines groß angelegten Forschungsprojektes im pisidischen Sagalassos ("The Late Antique City in Southwest Anatolia. A Case Study: Sagalassos and its Territory"). Hier ist die Stadtentwicklung in der Spätantike detailliert nachzuzeichnen, wodurch sich das Bild eines schrittweisen Wandlungs- und Umwertungsprozesses ergibt: Das 4. Jh. war als Epoche einer fortdauernden Prosperität gekennzeichnet durch eine weitgehende Erhaltung des monumentalen Baubestandes. Die Christianisierung machte sich im Stadtbild erst später deutlich erkennbar, und zwar insbesondere durch die Überbauung des Bouleuterions mit einem Kathedralkomplex im frühen 5. Jh. Einschneidendere Veränderungen in den städtischen Strukturen lassen sich erst ab dem späten 5. Jh. beobachten: Zwar wurden Teile der öffentlichen Gebäude nach einem Erdbeben nochmals restauriert, aber in anderen nisteten sich nun Handwerkerbauten ein. Insgesamt war die Infrastruktur der Stadt aber noch bis ins mittlere 6. Jh. einigermaßen in Ordnung. Erst in der letzten Phase der Stadt (zweite Hälfte 6./frühes 7. Jh.) lassen sich echte Niedergangssymptome konstatieren, bevor der Ort um die Mitte des 7. Jhs. gänzlich aufgegeben wurde.

Giovanni A. Cecconi (Firenze; giovannialberto.cecconi@unifi.it) stellt in seinem Vortrag "Crisi e trasformazioni del governo municipale in Occidente fra IV e VI secolo" die für die spätantike Stadtentwicklung besonders bedeutsame Frage nach der Rolle der Curien und der Curialen nach den Verwaltungsreformen der diokletianisch-konstantinischen Zeit: Waren die Curien nur noch die mehr oder minder unterdrückten Ausführungsorgane für Befehle der Zentralverwaltung oder behielten sie eine gewisse eigenständige Bedeutung? Cecconi zeichnet ein nuanciertes Bild der Beziehungen von staatlichen Behörden und munizipalen Institutionen. Vielfach war eine Zusammenarbeit zwischen den Statthaltern und den Curialen möglich und auch gewollt, wobei letztere - und damit auch ihre Städte - bei geschicktem Verhalten aus dieser neuen Ordnung durchaus ihre Vorteile ziehen konnten. Es ist also Vorsicht angebracht, das Bild vom Niedergang der Curialen (zumindest bis in das 5. Jh.) einseitig zu überzeichen. Ebenso ist die Entwicklung während des 5. Jhs., also der allmähliche Übergang der Stadtverwaltung zu einem Regime von Notablen (bestehend aus Bischöfen, honorati und den schwer zu definierenden possessores), differenziert zu sehen. So ist deutlich darauf hinzuweisen, daß die Curialen durch diese neue Oberschicht keineswegs völlig verdrängt wurden, sondern als Ansprechpartner des Staates gerade in der Fiskalverwaltung wichtig blieben.

Luke Lavan (Ankara; luke_lavan@lineone.net) beschäftigt sich in seinem Beitrag "The other late antique city: social and political topography in the 4th-6th c." vor allem mit dem bereits vorhandenen Baubestand in den spätantiken Städten (vornehmlich des Ostens) außerhalb des kirchlichen Bereichs. Bei genauerem Hinsehen sind im archäologischen Befund weitaus mehr Indizien für die Weiternutzung bzw. die Restaurierung bestehender Anlagen wie Agorai oder Theatern zu beobachten als bisher angenommen. Diese sind allerdings in den meisten Fällen nicht genauer datierbar, was ihre historische Einordnung häufig schwierig macht. Ein wichtiger urbanistischer Einschnitt ist im mittleren bis späten 5. Jh. festzumachen, als vielerorts die Bouleuteria, also die zentralen Versammlungsorte des Stadtrates, aufgelassen bzw. überbaut wurden (s.o. Waelkens). Teilweise geschah ähnliches mit den Agorai, während die Bedeutung der großen Straßen als Orte der Repräsentation und des innerstädtischen Zeremoniells zunahm, obwohl diese gleichzeitig (wohl schon ab dem 5. Jh.) immer stärker kommerziell genutzt wurden (s.o. Westphalen).

Noel Lenski (Boulder/München; lenski@colorado.edu) wirft in seinem Referat "Public Slaves and the City in Late Antiquity" einen Blick auf die servi publici als einen wichtigen Bestandteil des städtischen Apparates, der zur Aufrechterhaltung der Verwaltung, des Baubestandes und der Infrastruktur in den kaiserzeitlichen Gemeinden unentbehrlich war. Städtische Sklaven sind in diesen Funktionen im 4. Jh. noch recht gut belegt, während ab dem 5. Jh. entsprechende Zeugnisse deutlich seltener werden. Lenski sieht zwei wesentliche Gründe hierfür, die etwa gleich zu gewichten sind: Einerseits die teilweise Ersetzung der städtischen Sklaven durch Freie mit ähnlichen Funktionen, da letztere nun in vielen Bereichen fast wie Sklaven behandelt werden konnten; andererseits aber auch eine Auswirkung des Niedergangs vieler vormals wichtiger städtischer Funktionen im Laufe des 5. Jhs.

Christian Witschel (München; christian.witschel@lrz.uni-muenchen.de) geht in seinem Vortrag "Der epigraphic habit in der Spätantike: Das Beispiel der Provinz Venetia et Histria" auf das Problem ein, wie die unbestreitbaren Veränderungen in der Inschriftenkultur während der Spätantike zu deuten sind. Als Grundlage diente eine detaillierte Aufbereitung des spätantiken Inschriftenmaterials der Provinz Venetia et Histria. Hier läßt sich - wie in vielen anderen Regionen des Reiches - ein drastischer Rückgang von Kaiser-, Ehren- und Bauinschriften (also der sog. "civic inscriptions") bereits im 4. Jh. beobachten. Im Gegensatz zu Liebeschuetz möchte Witschel dies aber nicht ohne weiteres als Indiz für einen Niedergang der traditionellen Stadtkultur werten, sondern verweist auf alternative Formen der inschriftlichen (aber auch der nicht-epigraphischen) Zurschaustellung von Prestige und Urbanität: Meilensteine, ‚Musealisierung' von Platzanlagen, Selbstdarstellung im Privathaus und bei öffentlichen Auftritten, Stifterinschriften auf den Mosaikböden der Kirchen und christliche Grabinschriften mit einer Abbildung des Verstorbenen in reicher Gewandung.

Johannes Hahn (Münster; hahnj@uni-muenster.de) fragt in seinem Beitrag "Die Christianisierung der spätantiken Stadt vom 4.-6. Jahrhundert: Parameter und Probleme" nach Möglichkeiten zur Abschätzung der Bedeutung, die die Christianisierung der römischen Gesellschaft für die Funktionsweise und das Aussehen der Städte im 4. und früheren 5. Jh. gehabt haben könnte, und wendet sich hierbei dem Kirchenbau als besonders aussagekräftigem Phänomen zu. Im Gegensatz zu dem Bild, das die zeitgenössischen Quellen in bezug auf das constantinische Kirchenbauprogramm evozieren, prägten Kirchen in den meisten Städten des Reiches das Stadtbild zumindest im alten urbanen Zentrum während weiter Teile des 4. Jhs. noch nicht in entscheidender Weise. Gerade die innerstädtischen Kathedralen wurden zumeist nicht vor dem späten 4. Jh. errichtet; der Gottesdienst dürfte sich somit bis dahin auf die archäologisch kaum wahrnehmbaren domus ecclesiae sowie auf die sub- bzw. extraurbanen Coemeterial- und Märtyrerkirchen konzentriert haben, wobei letzteres allerdings als nicht ganz unproblematisch erscheint.

Jens-Uwe Krause (München; jens-uwe.krause@lrz.uni-muenchen.de) stellt in seinem Vortrag "Überlegungen zur Sozialgeschichte des Klerus im 6. Jh." an. Bei der Untersuchung der Christianisierung der städtischen Gesellschaft wurde der Fokus bislang zumeist auf den Bischof gerichtet, während Krause das kirchliche Personal auf den unteren Ebenen, also den Klerus, in das Blickfeld nimmt und dabei folgende Frage aufwirft: Handelt es sich bei den Klerikern nach sozialer Zusammensetzung und politischen Wirkungsmöglichkeiten um einen Teil der neuen Elite in der ‚post-curialen Stadt' des 5. und 6. Jhs.? Obwohl eine solche Schlußfolgerung auf den ersten Blick naheliegt, muß die Antwort im wesentlichen doch negativ ausfallen. Die Kleriker waren nämlich zumeist kleine Leute, die häufig für ihren Lebensunterhalt in der Landwirtschaft arbeiten mußten und deren Bindung an die Stadt deswegen nicht selten eher gering war. Der Ausbau des Klerus hat also auf lange Sicht nicht unbedingt zur Stärkung der Städte beigetragen, sondern vielmehr eine allmähliche Loslösung des Umlandes vom städtischen Zentrum in kirchlicher Hinsicht bewirkt.

Michael Whitby (Warwick; clsag@csv.warwick.ac.uk) setzt sich in seinem Referat "Violence and the Decline of the Late Roman City" intensiv mit der These von Liebeschuetz auseinander, in den Städten des späteren 5. und 6. Jhs. habe die innerstädtische Gewalt dramatisch zugenommen, welche insbesondere von den Circusfaktionen ausgegangen sei, einem wichtigen Bestandteil der ‚neuen' städtischen Ordnung dieser Zeit. Whitby meint nun, Liebeschuetz habe zwar zu Recht die politische Funktion der Faktionen im lokalen Rahmen betont, aber die von ihnen ausgehende Gewalt wohl doch überschätzt, gerade auch im Vergleich zu religiös motivierten Gewaltausbrüchen. Zugleich werde von ihm die integrierende Funktion der Faktionen unterschätzt, da diese die städtische Gewalt gewissermaßen institutionalisierten und so Bürgerkriege bei Herrschaftswechseln zu verhindern halfen - sie stellten also eher ein stabilisierendes Element in der spätantiken Stadt dar und können nicht ohne weiteres als ein Symptom für einen "decline" angesehen werden.

Wolfgang Liebeschuetz (Nottingham; wolf@Liebeschuetz5472.fsnet.co.uk) faßt in einem Ausblick die Erkenntnisse aus den verschiedenen Beiträgen zusammen und schließt mit einem Plädoyer dafür, den Begriff ‚Niedergang' nicht von vorneherein aus der historischen Betrachtungsweise auszublenden, da dies einer Form von Zensur gleichkäme. Da Niedergangsphänomene nun einmal in der menschlichen Entwicklung verankert seien, müßten sie auch explizit als solche benannt werden dürfen, und das träfe gerade auf die letzte Phase der spätantiken Stadtentwicklung im 5. und insbesondere im 6. Jh. zu.

Fazit: Einige generelle Ergebnisse

Die äußeren chronologischen Grenzen des Phänomens "Spätantike Stadt" sind recht klar zu benennen, wie sich in fast allen Beiträgen des Kolloquiums gezeigt hat: Die politisch-administrativen Veränderungen des späten 3. und frühen 4. Jhs. bedeuteten, auch wenn sie als Zäsur keineswegs überschätzt werden dürfen, doch eine neue Etappe innerhalb der Entwicklung des antiken Städtewesens, während in fast allen Regionen (mit gewissen Ausnahmen wie etwa in Südsyrien) im Laufe des späteren 6. oder des frühen 7. Jhs. ein markanter Einschnitt beobachtet werden kann, durch den die spätantike Stadt ihr endgültiges Ende fand. Relativ deutlich bestätigt hat sich in vielen Bereichen auch die von Liebeschuetz eingeführte Unterteilung in eine "Late City" (spätes 3. - frühes 5. Jh.) und eine "Later Late City" (frühes 5. - frühes 7. Jh.).

Für die erste dieser Phasen läßt sich bei allen regionalen Divergenzen eine relativ hohe Kontinuität zur vorangegangenen, kaiserzeitlichen Stadt ausmachen, die allerdings sehr unterschiedlich stark ausfallen konnte, wenn man im Westen beispielsweise Africa auf der einen mit Gallien auf der anderen Seite vergleicht. Gleichzeitig bedeutete diese Phase in vielen Regionen eine fortdauernde Prosperität in den Städten, auch wenn sich gewisse Ausdrucksformen des klassischen ‚Stadtgefühls' wie etwa die Inschriftenkultur bereits nicht unerheblich verändert hatten. Auch die zunehmende staatliche Kontrolle des Städtewesens sollte in ihren Auswirkungen nicht übertrieben bzw. einseitig negativ bewertet werden. Von einem markanten Niedergang der Städte im Gesamtsystem des Reiches kann also für diese Zeit noch kaum gesprochen werden.

Wesentlich schwerer zu beurteilen ist die zweite Phase, denn die in der Zeit um 400 beginnenden, markanten Transformationsprozesse veränderten das Bild der Städte sowohl in politisch-sozialer wie auch in urbanistischer Hinsicht noch einmal nachhaltig. An erster Stelle zu nennen wären hier die Ersetzung der traditionellen städtischen Führungsschicht der Curialen durch neue, informeller zusammengesetzte Gruppen (das "post-curial government" nach Liebeschuetz) und die nun erst wirklich an Dynamik gewinnende Christianisierung der Städte, die sich vor allem in einer neuen Rolle des Bischofs und einem vielerorts zu beobachtenden, massiven Kirchenbauboom manifestierte. Die Beurteilung dieser Vorgänge fällt aber unterschiedlich aus: Während einige Forscher in dem zuerst genannten Prozess lediglich die Ablösung einer städtischen Führungsschicht durch eine andere, ebenso stark in den Städten verwurzelte und zumeist aus den alten Familien hervorgegangene Aristokratie sehen, betonen andere Gelehrte wie Liebeschuetz den damit verbundenen profunden Wertewandel, der von der klassischen Stadtkultur ("the Roman city") weggeführt habe, was man etwa an der Auflassung oder Umwidmung zahlreicher öffentlicher Gebäude im Laufe des 5. Jhs. und an dem entsprechenden Abbau des städtischen Apparats z.B. im Bereich der servi publici sehen könne. Ähnlich divergent werden die Folgen der nun tatsächlich spürbaren Christianisierung bewertet: So verweist der Kirchenbauboom des 5. und 6. Jhs. einerseits auf weiterhin vorhandene, nicht unerhebliche wirtschaftlichen Ressourcen in den Städten, zumal er häufig von einem christlichen Euergetismus aus den städtischen Ober- und Mittelschichten begleitet wurde; andererseits wurden aber dadurch die Stadtbilder radikal verwandelt, auch wenn die zunächst zumeist in Randlage errichteten Kirchen erst langsam in das Stadtinnere vordrangen. Auch die sozialen Veränderungen sind schwierig einzuschätzen: Zwar ist vor einer voreiligen Postulierung einer ‚bischöflichen Stadtherrschaft' in vielen Regionen zu warnen, aber die Betrachtung des Klerus hat gezeigt, wie der immer stärkere Ausbau kirchlicher Strukturen auf lange Sicht die traditionell enge Verbindung zwischen Stadt und Umland zu verändern begann. Betrachtet man diese Entwicklungen vom Standpunkt der klassischen Stadtkultur her, so ist eine Einordnung als ‚Niedergang' nicht unverständlich; sieht man hingegen die spätantike Stadt eher als eigenständige Phase und vergleicht sie mit der nachfolgenden Epoche, so ist vielleicht doch eher der Terminus ‚Wandel' angebracht.

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