Modern Jewish Identities: An Interdisciplinary Exploration. Jewish Studies Colloquium

Modern Jewish Identities: An Interdisciplinary Exploration. Jewish Studies Colloquium

Organisatoren
Marcus Pyka (München) und Lisa Silverman (Yale)
Ort
Wien
Land
Austria
Vom - Bis
16.05.2003 - 18.05.2003
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Von
Nicole L. Immler, Karl Franzens Universität Graz

Der Historismus ist nicht nur ein prägendes Stilelement in Wien, er charakterisiert auch das Bedürfnis nach Repräsentation und Identifikation. Insofern ist Wien der passende Ort für ein Colloquium über moderne jüdische Identitäten – waren es doch zahlreiche Juden, die das Wiener Fin de Siècle maßgeblich beeinflusst haben. Über die Bewertung dieses Faktums streitet die Forschung, was sogleich tief in die Debatte führt. Unterstrichen von dem Umstand, dass es nicht leicht war, für eine Tagung zum Thema ‚Modern Jewish Identities’ einen Veranstaltungsort zu finden: In ihren kritischen Bemerkungen zur Einführung skizzierte Lisa Silverman die Widerstände im Vorfeld der Tagung sowie deren (nicht nur spezifisch österreichisch-) historischen Bezugsrahmen. Auch die Polarisierungen in der Wissenschaft gehören hierzu: Auf der einen Seite die Position Steven Bellers, der das Kreativitätspotential der Jahrhundertwende in ausschließlichem Zusammenhang mit der jüdischen Differenzerfahrung sieht, 1 auf der anderen der Kunsthistoriker Ernst Gombrich, der die Idee von einer spezifisch jüdischen, säkularen Kultur in Europa sowie die Bedeutung einer jüdischen Identität für die assimilierten Juden in Wien um 1900 in Frage stellt. 2 Beide Ansätze sind problematisch, weil sie dem Jüdischen für das Wien um 1900 entweder zu wenig oder zu viel Bedeutung zumessen. Denn wie Michael Steinberg (Cornell) in seinem Einführungsvortrag betonte, sind ‚Identität' und ‚Erinnerung' Begriffe von „Desire" und weniger von Realität.

Augenscheinlicher (nicht nur im Wortsinne) ist das Beispiel der Architektur. Nachdem den Juden das Recht, in der Stadt sichtbar zu werden, das Recht auf Besitzerwerb und die Ansiedlung in der Innenstadt 1867 erlaubt worden war, suchten sie – in etwa zeitgleich mit dem Bau der Ringstrasse – nach einem eigenen Repräsentationsstil. Der Zeitgeist des Historismus bot eine freie Wahl der Identifikation, die Frage war nur, den orientalischen Ursprung oder die europäische Tradition zu betonen oder einen eigenen Stil zu kreieren. Entsprechend war, wie Elana Shapira (Wien) verdeutlichte, die jeweils gewählte Stilrichtung Ausdruck der Selbstpositionierung in der Wiener Gesellschaft. Nur wenige Vertreter des progressiv assimilierten Judentums wagten es die Tradition zu brechen und die Moderne zu unterstützen, wie den Bau der Sezession oder die Architekten Josef Hoffmann und Adolf Loos. Denn die Wahl moderner Architektur bedeutete, sich zu exponieren; weshalb die Mehrheit des Besitzbürgertums sehr konservativ agierte.

Besitz wiederum hatte im österreichisch-jüdischen Kontext eine besondere Relevanz, weil er den Juden lange per Gesetz nicht gestattet war. Lisa Silverman forderte deshalb auf, die Restitutionsfragen auch jenseits des Materiellen zu behandeln, in der Kategorie des Symbolischen. Ein Ansatz, der mit Georg Simmels Gedanken zum Geld als dem großen ‚Gleichmacher‘ von Unterschieden noch weitergeführt werden könnte, wie der Tel Aviver Soziologe Nathan Sznaider in einem Diskussionsbeitrag anmerkte. Die ausschließliche Suche nach dem spezifisch Jüdischen in Wien berge jedoch nach Joachim Schlör (Potsdam/Wien) die Gefahr, eine „Geschichte von oben" zu schreiben. Hier ist Carl Schorskes Bild der „kreativen Milieus" in Wien-um-1900 zu hinterfragen, denn dieses beschränkt sich auf die immer selben wenigen Familien, während Wien auch eine Stadt der Vorstädte, der Leopoldstadt (dem ärmeren Judenviertel), des Nationalitätenhaders etc. war. Hier wären komparative Studien mit anderen Minoritäten aufschlussreich, um das spezifisch jüdische Element besser verstehen zu können.

Aber kann man überhaupt von ‚den Juden’ als einer Gruppe im Sinne einer Einheit in irgendeiner sinnvollen Weise sprechen? Dan Stone (London) verwies auf die historisch oft praktizierte Verwechslung von Kultur und Rasse: Eine bloße jüdische Herkunft allein sei nicht identitätsstiftend. Sich als Angehöriger einer Minderheit zu fühlen sei aber ein Reflexionspotential, das – so könnte man weiterführen – viele Vertreter der Jewish Studies mit denen der Cultural Studies und der Postcolonial Studies teilen. Jeweils waren es persönliche Motive – ob die Emanzipation der Arbeiterstudenten im Oxbridge-England oder von Literaten aus den ehemaligen Kolonien – die die etablierte Wissenschaftsperspektive erweiterten (um die Popularkultur) oder hinterfragten (die Kolonisation als einen wechselseitigen Austauschprozess zu betrachten). Dieser Blick auf Subgruppen, ihre Strategien und ihre wechselseitige Beeinflussungen könnte auch für die Jewish Studies eine produktive Herausforderung sein.

Hier war der Fokus des Colloquiums auf Orte und Kontexte des Jüdischseins gewinnbringend. Sei es in der Detail-Untersuchung des Kopenhagener jüdischen Mikrokosmos in der Emanzipationszeit durch Thorsten Wagner (Kopenhagen/Berlin), der Vergleich von Intellektuellen nach ihrem jeweiligen katholischen oder protestantischen Bezugsrahmen (Michael Steinberg) oder die Konstruktion (und Popularisierung) einer spezifisch „ostjüdischen“ Identität durch den Historiker Simon Dubnow als konkretem Gegenentwurf zum vorherrschenden deutsch-jüdischen Weltbild (Anke Hilbrenner (Bonn)) – die dabei oftmals geübte, romantisierende Projektion vom Anderen diente dabei zumeist zu nichts anderem als zur Selbstverortung und Selbstvergewisserung. Was insgesamt deutlich wurde: Prozesse der Identitätsbildung waren immer herausfordernd und nie selbstverständlich, verliefen immer in einem Dialog, der dem ‚Sprechakt’ an sich Bedeutung zuwies; reflektiert im Sprachzweifel der Jahrhundertwende in Mitteleuropa.

In welchem Maße solche Zweifel Eingang in die Literatur fand, zeigte Stefanie Leuenbergers (Potsdam) Beitrag ‚Circling Jerusalem’. Stefan Zweig und Franz Werfel beschreiben in ihren literarischen Visionen der (Juden und Christen gleichermaßen) Heiligen Stadt den schillernden Charakter von Identität. Deren immer währende Suche ihrer Protagonisten fand eine bemerkenswerte Spiegelung in Alexandra Nockes (Potsdam) Untersuchung des gegenwärtigen und realen Israel, wo sie anhand der Vorstellung einer „Mediterranéité“/Yom Tikhoniut die Suche nach einem eigenständigen Weg zwischen Orient und Okzident aufzeigte. Dieser Weg, der sich über Alltägliches und Popkultur definiert und jegliche Ideologie verweigert, weist nach Franka Marquardt (Bern) bemerkenswerte Parallelen auf zur mittlerweile viel zitierten ‚Generation Golf’ in Mitteleuropa.

Generell sind die Jewish Studies eine Wissenschaft, die bisweilen mit dem Stigma behaftet ist, den Blick nach innen zu richten, hier ausschließlich das spezifisch Eigene zu suchen und diese Konstruktion zu bestärken, statt die Kategorien von Selbst- und Fremdzuschreibungen zu hinterfragen und Essentialismen zu dekonstruieren. Differenzierung war hingegen der Tenor dieses interdisziplinären Colloquiums und bereits im Titel angelegt: Modern Jewish Identities. Hier ging es um Plurale, um das heterogene, widersprüchliche und ambivalente Nebeneinander von Identifikationsmustern.

Schnell wurde deutlich, daß die Frage nach der ‚jüdischen Identität’ eine generelle Problematik beinhaltet, eine, die sich auf einer theoretischen Metaebene schon längst disziplinübergreifend etabliert hat – als ein Ergebnis des ‚cultural turn' in den Wissenschaften. Interdisziplinär wird nun gefragt: Ist ‚Identität' ein brauchbarer Begriff für die Wissenschaft, und was macht Identität zur Identität? Seitdem der Psychoanalytiker Erik Erikson in der Nachkriegszeit den Begriff öffentlichkeitswirksam eingeführt hatte, eine Frage, die seit den 1970er Jahren um definitorische Klärung ringt. Insbesondere in den letzten Jahren wurde der Begriff in seiner Erkenntnisfähigkeit in Frage gestellt und die ausufernde Verwendung kritisiert. 3 Auch in der Colloquiums-Diskussion wurde klar, dass nicht jede Identifikation zugleich als Identität zu verstehen ist. Das Sprechen von Identität kreiere oder verschärfe sogar eher die Grenzen, suggeriere Einheit und Eindeutigkeit, wo Vielfalt herrsche, wie es auch Differenzen naturalisiert statt jene als gesellschaftspolitische Konstellationen offen zu legen.

Dies konnte durchaus den Charakter einer (impliziten) Agenda annehmen, wie Gregor Pelger (Duisburg) für die Wissenschaft des Judentums im 19. Jahrhundert verdeutlichte: Angesichts des zunehmend diffusen Charakters der Moderne bedeutete diese Art der Identitätsfindung eine stete Suche nach klaren Konturen. Diese Verhaltensweise sei auch bis in die Gegenwart hinein zu finden, so Anthony Kauders (München) kritisch über das eigene Fach, mit der Gefahr, dass eine vor allem über sich selbst forschende Minderheit eher die jüdische Geschichte schreibe anstatt Differenzierungen innerhalb sichtbar zu machen und das Interesse an der Suche als solches zu historisieren.

Den Jewish Studies wird ähnlich den Cultural Studies oft politische Instrumentalisierung und Förderung von Partikularismen vorgeworfen, da sie mit Begriffen (wie Rasse, Religion, etc.) Minderheiten nicht nur Aufmerksamkeit verschaffe, sondern auch Unterschiede konstruiere. Diese Konstruktionsprozesse gelte es dagegen kritisch zu beleuchten. Denn die neuen Migrationen innerhalb Europas wie auch im globalen Rahmen machen diese Fragestellungen nach Übersetzungs- und Aneignungsprozessen für die Zukunft relevant. Deswegen ist z.B. die Frage nach den jüdischen Identitätsfindungsprozessen um 1900 von einem allgemeinen Interesse, da es hierbei um Mechanismen geht, die zwar zeitlich und historisch nicht Kontext-unabhängig sind, aber doch paradigmatischen Wert haben.

Anmerkungen:

1 Vgl. Steven Beller, Central Europe. Birthplace of the Modern World?, in: Austrian History Yearbook 23 (1992), 89.
2 Auf der Tagung des Londoner Austrian Cultural Institut Fin de Siecle Vienna and its Jewish Cultural Influences im November 1996, kamen die gegensätzlichen Positionen zu Wort. Emil Brix faßt die Position Bellers prägnant zusammen, in: Brix, Preface, in: Ernst Gombrich, Lecture 17.11.96. The Visual Arts in Vienna circa 1900 – Reflections on the Jewish Catastrophe (Occasions 1, ed. b. the Austrian Cultural Institute), London 1997, 26 u. 5.
3 Vgl. zum Identitätsbegriffs: Charles Taylor, Sources of the Self: The Making of Modern Identity Cambridge 1989; vgl. zur Differenzierung des Identitätsbegriffs: Rogers Brubaker, Frederick Cooper, Beyond ‚identity', in: Theory and Society 29 (2000), 1–47.


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