Region und Industriegesellschaft. Oberschlesien im 19. und 20. Jahrhundert

Region und Industriegesellschaft. Oberschlesien im 19. und 20. Jahrhundert

Organisatoren
Haus der Geschichte des Ruhrgebiets
Ort
Bochum
Land
Deutschland
Vom - Bis
20.11.2008 - 23.11.2008
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Von
Susanne Peters-Schildgen / Gregor Ploch, Oberschlesisches Landesmuseum

Unter dem Titel „Region und Industriegesellschaft: Oberschlesien im 19. und 20. Jahrhundert“ fand vom 20. bis zum 23. November 2008 im Haus der Geschichte des Ruhrgebiets in Bochum eine Tagung statt. Den Rahmen boten die Feiern zum zwanzigjährigen Bestehen der Partnerschaft der Ruhr-Universität Bochum mit der Universität Breslau. Unterstützt wurde die Tagung von der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit / Fundacja Współpracy Polsko-Niemieckiej, Warschau, vom Rektorat der Ruhr-Universität Bochum, Stabsstelle Akademisches Auslandsamt, und von der Stiftung Bibliothek des Ruhrgebiets.

Methodisch stand nicht der allgemeine Vergleich zwischen Oberschlesien und dem Ruhrgebiet im Vordergrund, vielmehr richtete diese Tagung den Blick auf die Bedeutung der ethnischen Vielfalt in der Geschichte der Region als Einführung in die Diskussion über die oberschlesische Wirtschaftsgeschichte. Durch die Auswahl der Beiträge sollte vor allem auch ein Dialog zwischen der jüngeren regionalgeschichtlichen und vergleichenden Industrialisierungsforschung ermöglicht werden, mit dem Ziel, die Wirtschaftsgeschichte Oberschlesiens als für diese Industrieregion charakteristische Entwicklung zu erfassen. Themenschwerpunkte der einzelnen Sektionen waren: „Region, Industrie, Zuwanderung“, „Oberschlesische Eliten in Wirtschaft und Gesellschaft“, „Die Politisierung der Oberschlesier Ende des 19. / Anfang des 20. Jahrhunderts“, und „Die oberschlesische Wirtschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“.

In seinem Einführungsbeitrag über „Oberschlesien – eine europäische Region im Schnittpunkt dreier Kulturräume“ hob MANFRED ALEXANDER (Köln) als charakteristisches Merkmal Oberschlesiens dessen Zerschneidung von drei Nationalstaaten nach dem Ersten Weltkrieg hervor. Gerade diese besondere Entwicklung erschwere eine einheitliche Betrachtung dieser Grenzregion und der in ihr zu verschiedenen Zeiten lebenden Bevölkerung: Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges waren das die einheimischen deutschen und polnischsprachigen Bewohner. Unter den letzteren gab es eine Gruppe, die sich mit der polnischen Kultur identifizierte, während sich zahlreiche polnischsprachige Oberschlesier weder als Deutsche noch als Polen, sondern als Oberschlesier fühlten. Diese Gruppe wurde „Schlonsaken“ genannt, ein Begriff, der teilweise auch pejorativ genutzt wurde. Hinzu kam im südlichen Teil Preußisch-Oberschlesiens ein starker mährischer Einfluss. Ein Teil Oberschlesiens, das Teschener Schlesien, gehörte dagegen zu Österreich, wodurch die Identität der in dieser Region lebenden Oberschlesier völlig anders war. Nach Flucht und Vertreibung deutscher Bevölkerungsteile als Folge des Zweiten Weltkrieges setzte sich die Bevölkerung aus Autochthonen, tschechischen und polnischen Zuwanderern sowie der in Oberschlesien verbliebenen deutschen Minderheit zusammen.

DIETER ZIEGLER (Bochum) gab in seinem für die erste Sektion und die Tagung insgesamt konzeptionell wichtigen Beitrag einen Überblick über die „Entwicklung und Perspektiven des Konzepts der regionalen Industrialisierung“. Er verwies zunächst auf das Problem der hierzulande unzureichenden Kenntnisnahme der neueren Literatur in Polen zur Industrialisierungsforschung in Oberschlesien und machte deutlich, dass die Erfassung statistischer Daten zur Industrialisierung in Europa in nationalen Kategorien und auf der Basis von politischen Verwaltungseinheiten zu einer verfälschten Wahrnehmung des oberschlesischen Industriereviers führe. So habe es schon vor 1914 einen europäischen Wirtschaftsraum gegeben, in dem technisches Wissen ausgetauscht wurde. Als wesentliches Merkmal für diesen Wirtschaftsraum nannte Ziegler die sektorale Ungleichzeitigkeit der europäischen Reviere, die zu verschiedenen Zeiten in den Industrieprozess eintraten. Ergänzend wurde in der Diskussionsrunde auf starre Grenzen und Zollschranken, Oberschlesiens Randlage, die mangelnde Infrastruktur und das im Vergleich zum Ruhrgebiet kleinere Hinterland als Gründe für einen erschwerten Austausch mit anderen Revieren hingewiesen.

ANDRZEJ MICHALCZYK (Bochum) ging in seinem Referat der Frage nach, ob mit der Entwicklung von der Agrar- zur Industriegesellschaft gleichzeitig eine Entwicklung von lokalen zu nationalen Loyalitäten verbunden sei. Für die gesellschaftliche Ausgangslage in Oberschlesien, das nach 1815 von Oppeln aus verwaltet wurde, war die Bedeutung des katholischen Klerus maßgeblich. Wenige adelige, zumeist protestantische deutschsprachige Familien betrieben ihre landwirtschaftlichen Güter, während der Großteil der Bevölkerung überwiegend katholisch und slawophon war. Alte Städte wie Beuthen und Gleiwitz hatten nur wenige Tausend Einwohner; die spätere Industriestadt Kattowitz war noch ein Dorf. Gravierende Transformationsprozesse charakterisieren die weitere Entwicklung im 19. Jahrhundert, die durch einen raschen Verstädterungsprozess und einen rasanten Bevölkerungsanstieg gekennzeichnet ist, infolgedessen die agrargeprägte Lebenswelt langsam an Bedeutung verlor. Bismarcks Kulturkampf und dessen rigorose Germanisierungspolitik in den preußischen Ostprovinzen habe die Aufnahme der Oberschlesier in die deutsche Nationalkultur aufgehalten. Vielmehr geriet Oberschlesien in den Blick der polnischen Nationalbewegung. Jedoch führten die einschneidenden Veränderungen der Arbeitswelt – erweiterte Kommunikation, standardisierte Sprache als notwendige gemeinsame Basis, Aufbrechung der Grenzen isolierter Dorfgemeinschaften – nicht zwangsläufig zur Ausbildung einer nationalen Identität. Diese gewann zwar an Bedeutung. Gleichzeitig förderten konfessionelle Elemente und die besonderen lokalen Verhältnisse ein stärker regional ausgeprägtes Bewusstsein in der Bevölkerung.

Am Beispiel des Borsigwerkes in Biskupitz/Biskupice (heute ein Ortsteil von Zabrze) stellte BERNARD LINEK (Oppeln/Opole) soziale Modernisierungswege in Oberschlesien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor. Industrialisierung, Urbanisierung und Modernisierung prägten die Entwicklungsgeschichte Oberschlesiens in den letzten 150 Jahren. Im Unterschied zu anderen Industrieregionen erfolgte in Oberschlesien keine größere Zuwanderung von außerhalb. Vielmehr wurde der vermehrte Arbeitskräftebedarf größtenteils durch die Bevölkerung aus dem Regierungskreis Oppeln getragen. Insofern bildete der Berliner Unternehmer Albert Borsig eine Ausnahme, als er 1863 300 auswärtige Arbeitskräfte nach Biskupitz holte. Borsigs liberale Weltanschauung, in der wirtschaftliche Aspekte im Vordergrund standen, wirkte prägend auf die sozialen Strukturen in Biskupitz, dessen Bevölkerung sich aus drei Gruppen zusammensetzte: den altpolnischen Bauern und dem Kleinbürgertum, den deutschen Grundbesitzern und Bergleuten sowie aus den Zuzüglern aus Preußen und dem Königreich Polen.

Im Unterschied zum oberschlesischen Industrierevier ging mit der Industrialisierung im Ruhrgebiet eine ausgeprägte Ost-West-Binnenmigration einher. Am Beispiel der „Ruhrpolen und Ruhrschlonsaken?“ beleuchtete LUTZ BUDRASS (Bochum) in seinem Referat die ethnische Differenzierung der Einwanderung ins Ruhrgebiet. Einleitende Gedanken über die Wahrnehmung von Menschen polnischer Herkunft in Deutschland, die sich erst durch den politischen Freiheitskampf in den 1980er-Jahren zu einem positiveren Bild gewandelt habe, lenkten den Blick auf die Eigen- und Fremdwahrnehmung verschiedener Migrantengruppen aus dem preußischen Osten im Ruhrgebiet zur Zeit der Industrialisierung. Herkunft und Sprachzugehörigkeit waren für den preußischen Staat und die Behörden Hauptkriterien für die statistische Erfassung dieser Gruppen. In der eigenen Wahrnehmung der evangelischen Masuren spielten Konfession, deutsche Sprachzugehörigkeit und preußische Tradition eine wichtige Rolle. Am Beispiel der Stadt Bottrop, in der Zuwanderer aus Oberschlesien besonders zahlreich vertreten waren, ging Budraß der Frage nach der Entstehung neuer Identitäten nach. Grundlage bildete hier die 1982 erschienene Publikation von Richard C. Murphy über „Gastarbeiter im Deutschen Reich. Polen in Bottrop 1891-1933“.1 Eine frühe Anwerbekampagne für die Zechen Prosper I und II führte zahlreiche Oberschlesier nach Bottrop, die wiederum Verwandte und Freunde nachzogen. Um 1900 lebten dort 5.500 Oberschlesier. Sie stammten hauptsächlich aus den Kreisen Rybnik und Ratibor und konzentrierten sich in den Ortsteilen Batenbrock/Lehmkuhle. Dort förderte die Ansiedlung der Oberschlesier in zunächst kompakten dörflichen Gemeinschaften mit vertrauter Sprache und Kultur die Ausbildung lokaler Identitäten. Nach dem Ersten Weltkrieg blieb ein großer Teil der Oberschlesier in Bottrop. Ihr politischer Einfluss spiegelte sich nicht nur in den Wahlergebnissen der Polenpartei wider, sondern reichte bis zum Amt des Oberbürgermeisters, das Ernst Wilczok, Nachfahre mährisch-schlesischer Enwanderer, mit Unterbrechungen von 1949 bis 1988 bekleidete. Bis heute ist die oberschlesische Tradition in Bottrop präsent. So gab es bereits 1951 ein erstes Oberschlesier-Treffen in der Stadt Bottrop, die als erste nordrhein-westfälische Stadt eine Patenschaft über Gleiwitz aufnahm.

Gleichzeitig bot die erste Sektion nordrhein-westfälischen Institutionen, die sich mit der oberschlesischen Geschichte befassen, ein Forum zur Präsentation ihrer Arbeit. SUSANNE PETERS-SCHILDGEN (Ratingen) stellte das Oberschlesische Landesmuseum in Ratingen (Hösel) vor, dessen Entstehungsgeschichte eng mit der von der Bundesregierung 1982 entwickelten „Grundsatzkonzeption zur Weiterführung der ostdeutschen Kulturarbeit“ und deren Förderung nach der Errichtung von Landesmuseen für die größten ostdeutschen Regionen zusammenhängt. Träger des Museums ist die 1971 gegründete Stiftung Haus Oberschlesien. Beide Einrichtungen werden institutionell vom Land Nordrhein-Westfalen gefördert. Im Haus Oberschlesien befindet sich das Fachinformationszentrum Schlesien – Mähren – Böhmen (FIZ) als Präsenzbibliothek mit vielfältiger Literatur und Materialien zu verschiedenen Kultur- und Wirtschaftsbereichen der Zielregionen. Zu den Aufgaben von Stiftung und Museum zählen die Sammlung, Bewahrung, Auswertung und Präsentation von Objekten insbesondere aus den Teilen Oberschlesiens, die zu den Woiwodschaften Oppeln und Schlesien sowie zur Tschechischen Republik gehören. Ausgehend von der persönlichen, subjektiven Erinnerung des Einzelnen, zeigt die Dauerausstellung die facettenreiche Geschichte und Kultur Oberschlesiens und der Oberschlesier in Vergangenheit und Gegenwart. Die zahlreichen grenzüberschreitenden Aktivitäten des Oberschlesischen Landesmuseums mit Museen und anderen kulturellen Einrichtungen in der Zielregion im heutigen Polen und in der Tschechischen Republik tragen dazu bei, ein möglichst differenziertes Bild der Kultur und Geschichte Oberschlesiens zu vermitteln. Als Landeseinrichtung ist das Oberschlesische Landesmuseum überdies Kooperationspartner bei größeren Vorhaben des Landes NRW und der Woiwodschaft Schlesien.

WOLFGANG KESSLER (Herne) gab einen Einblick in die Sammlungsgebiete und Aufgaben der Martin-Opitz-Bibliothek in Herne, die 1989 vom Land Nordrhein-Westfalen und der Stadt Herne unter finanzieller Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland als Stiftung errichtet wurde. Vorläufer war die Bücherei des deutschen Ostens mit ca. 80.000 Titeln. Mit ca. 250.000 Titeln, 3.500 Periodika und ca. 2.000 Landkarten ist die Martin-Opitz-Bibliothek die größte einschlägige Spezialbibliothek in Deutschland. Sie übernimmt für das regionale Sammelgebiet die Funktion einer Zentralbibliothek. Die Sammelgebiete der Martin-Opitz-Bibliothek decken den gesamten Raum Ostmittel-, Ost- und Südosteuropas ab. Der Schwerpunkt der Sammlungen liegt dabei auf den Regionen im heutigen Polen, dem historischen Ostdeutschland. Der Verbundkatalog östliches Europa weist mit über 600.000 Titeln die EDV-erschlossenen Bestände von 23 Bibliotheken und kulturell-wissenschaftlichen Einrichtungen in Deutschland, Polen und - in Kürze auch - Tschechien nach, die nicht über den Karlsruher Virtuellen Katalog recherchierbar sind. Als so genannte „graue Literatur“ findet man in der Herner Bibliothek Literatur zur Stadt- und Ortsgeschichte ebenso wie Vereins- und Wirtschaftschroniken. Lücken im historischen Bestand bis 1945 werden durch digitale Kopien geschlossen.

Als dritte Einrichtung stellte VERONIKA GRABE (Essen) den Arbeitskreis Ruhrgebiet – Oberschlesien vor. Der Kreis ist ein informeller Zusammenschluss von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern verschiedener kultureller Einrichtungen im Ruhrgebiet. Er entstand aus der Vorbereitung zweier deutsch-polnischer Tagungen, die im Rahmen der Partnerschaft des Landes Nordrhein-Westfalen und der Woiwodschaft Schlesien im Landesauftrag der vergleichenden Untersuchung des Strukturwandels in den Montanregionen Ruhrgebiet und Oberschlesien gewidmet waren (und aus denen zwei Tagungsbände hervorgegangen sind).2 Er hat im Frühjahr 2008 mit dem LWL-Industriemuseum, Westfälisches Museum für Industriekultur in Dortmund, ein Kooperationsabkommen geschlossen, das die verwaltungstechnische Abwicklung von Anträgen und Projekten ermöglicht. Der Arbeitskreis widmet sich dem historischen Erbe der Industrie in postindustrieller Zeit und fragt nach dem Umgang sowie nach dem Aussagewert von Bauten, Objekten, Bild- und Schriftquellen. Er nimmt dabei vor allem die parallelen Entwicklungen im Ruhrgebiet und in Oberschlesien in den Blick. Ziel ist die Aufarbeitung der Industriekultur, der Träger, Institutionen und Netzwerke zur Erforschung der Geschichte der Industrialisierung, die im Ruhrgebiet und in Oberschlesien einen bedeutenden Beitrag zur regionalen Geschichtskultur leisten. Der Arbeitskreis Ruhrgebiet – Oberschlesien ist darüber hinaus offen für die Zusammenarbeit mit anderen Industrieregionen, z.B. mit der Region Pas de Calais, mit der Nordrhein-Westfalen ebenfalls verbunden ist.

Zwei weitere Sektionen befassten sich mit oberschlesischen Eliten in Wirtschaft und Gesellschaft und mit der Politisierung der Bevölkerung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. BARBARA KALINOWSKA-WÓJCIK (Kattowitz/Katowice) verdeutlichte am Beispiel der Entwicklung der Städte im Kreis Pless, dass die Industrialisierung im Kern des oberschlesischen Industriegebiets auch vom Kern der Gesellschaft getragen wurde. Hingegen nahmen die Randgebiete an diesem Aufschwung lediglich in geringerem Maße teil. Dabei spielten die Bedingungen im Landkreis Pless eine besondere Rolle. Sie werfen ein anderes Licht auf dieses Gebiet, dessen Entwicklung im 19. Jahrhundert auf den ersten Blick wie eine Geschichte von Misserfolgen anmutet. So übernahmen die Städte des am Rande des oberschlesischen Steinkohlebeckens gelegenen Kreises Pless die Rolle eines Hinterlandes, dienten als Reservoir für Arbeitskräfte und sicherten die landwirtschaftliche Versorgung der Industriegesellschaft. Bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es keine größeren Industrieansiedlungen. Die infrastrukturelle Erschließung durch die Eisenbahn wirkte kaum stimulierend auf die weitere Entwicklung. Bis 1900 entstanden in Nikolai eine Löffelfabrik, mehrere Hütten, zwei Kokereien, eine Papier- und Dampfkesselfabrik, die mit zum Teil mäßigem Erfolg betrieben wurden. Auch von Alt Berun gingen bis auf die Entstehung einer Sprengstofffabrik durch Georg von Giesches Erben keine größeren bedeutenden Initiativen aus. Vielmehr war der Fürst von Pless, Hans Heinrich XIV., besonders darauf bedacht, sein Jagdrevier, in das er namhafte Gäste aus vielen Teilen Europas einlud, vor der Zerstörung durch die Industrie zu schützen.

Anschließend beleuchtete SEBASTIAN ROSENBAUM (Kattowitz/Katowice) den Elitenwechsel und neue politische und gesellschaftliche Handlungsmuster in der nördlich von Kattowitz gelegenen Industriestadt Tarnowitz. Dabei war Tarnowitz gegen Ende des 19. Jahrhunderts keine typische Industriestadt, sondern eine Beamtenstadt. Dort befand sich der Sitz wichtiger Verwaltungseinrichtungen, so z.B. der Knappschaft oder des Oberbergamts, es gab zudem eine Bergschule. Die Beamten stammten aus unterschiedlichen Teilen Preußens und waren überwiegend protestantisch. Die Arbeiter kamen teilweise aus dem oberschlesischen Hinterland. Viele von ihnen rekrutierten sich aus zahlreichen preußischen Gebieten. Mit der Entstehung und Vergrößerung der oberschlesischen Industriestädte zu Beginn des 20. Jahrhunderts verlor Tarnowitz an Bedeutung.

Zu einem kirchenhistorischen Thema referierte EDYTA KOŁTAN (Breslau/Wrocław), die im Rahmen ihrer Promotion die Geschichte der 1854 gegründeten Kongregation der Marienschwestern von der Unbefleckten Empfängnis in Oberschlesien untersucht. Diese marianische Frauenkongregation betätigt sich sozial und karitativ. Sie widmet sich insbesondere jungen Mädchen und Frauen, die in Städte strömen, um nach Arbeit zu suchen. Zunächst gab es eine Kongregation in Breslau, die für ganz Schlesien zuständig war. Als die deutsch-polnischen Spannungen in den 1920er-Jahren ihren Höhepunkt erreichten, initiierte der Breslauer Bischof Adolf Kardinal Bertram die Gründung einer oberschlesischen Provinz in Kattowitz. Besonders interessant ist die Geschichte der Kongregation vor dem Hintergrund der nationalen Konflikte zwischen Deutschen und Polen im 20. Jahrhundert, die an den Schwestern nicht spurlos vorübergegangen sind.

Den letzten Teil der Tagung bildete eine Analyse der oberschlesischen Wirtschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In ihrem Vortrag zeichnete STEFANIE VAN DE KERKHOF (Bochum) die Ausweitung des Einflusses („rent-seeking“) schwerindustrieller oberschlesischer Eliten im Kaiserreich nach. Die Montanregion erstreckte sich auf die Kreise Beuthen, Tost-Gleiwitz, Rybnik und Pless. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es zu folgenschweren Umbrüchen in der Industrie. Seit 1850 konnte eine Stagnation der Steinkohleförderung verzeichnet werden. Seit 1870 war die Roheisenproduktion vom drastischen Rückgang um 50 Prozent betroffen, so dass Oberschlesien auf Rohstoffimporte beispielsweise aus Schweden angewiesen war. Extrem hohe Schutzzölle machten den Export nach Russland oder nach Kongresspolen nahezu unmöglich. Diese Entwicklung erklärt, warum die Ausreisewelle der Oberschlesier ins Ruhrgebiet ab 1871 einen Massencharakter annahm. Im Gegensatz zum Ruhrgebiet wurde die Industrialisierung nicht vom Staat, sondern von oberschlesischen Magnaten vorangetrieben, die ihrerseits mit den höchsten politischen Eliten Preußens verkehrten. Fast alle Magnaten waren im Reichstag sowie im Preußischen Herrenhaus vertreten. So unterhielt beispielsweise Guido Henckel Graf von Donnersmarck sehr enge Beziehungen zum preußischen Ministerpräsidenten und späteren Reichskanzler Otto von Bismarck. Bei den Friedensverhandlungen nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1871 war er an der Aushandlung von Reparationszahlungen maßgeblich beteiligt. Inwieweit jedoch die oberschlesischen Magnaten Einfluss auf die politischen Entscheidungen in Preußen ausübten, lässt sich nach der vorliegenden Quellenlage nicht beantworten.

In einer zeitlichen Fortsetzung skizzierte HARALD WIXFORTH (Bochum) die wirtschaftlichen Folgen der Teilung Oberschlesiens nach 1921/22. Zu Beginn stellte er kritisch fest, dass die Wirtschaftsfolgen für Deutschland nach 1918 eindeutig aus westdeutscher Sicht beurteilt würden, da der Blick auf das Ruhrgebiet und nicht auf andere Industriegebiete wie Oberschlesien fokussiert werde. Die Situation dieser beiden Industriegebiete unterschied sich wesentlich. Anders als im Ruhrgebiet, hatte die Rohzinkerzeugung in Oberschlesien neben Kohle und Stahl eine große Bedeutung. Dennoch brach die Schwerindustrie in Oberschlesien nach 1918 völlig zusammen. Der Grund dafür war, dass sich die Magnaten, in deren Händen sich die Industriebetriebe befanden, wegen der unsicheren gesellschaftspolitischen Situation zurückzogen. So blieben die dringend notwendigen Innovationen und Modernisierung aus. Dagegen versuchten einige Spekulanten, kurzfristige Gewinne zu erzielen, so dass die ohnehin schwächelnde Industrie noch stärker belastet wurde. Als Fazit stellte Wixforth die These auf, dass die Konfliktlage in Oberschlesien größer als im Ruhrgebiet gewesen sei, da die stabilitätstragenden Netzwerkbeziehungen völlig zusammengebrochen seien.

Zum Abschluss analysierte HELMUT MAIER (Bochum) die Bedeutung der oberschlesischen Energiewirtschaft für die Nationalsozialisten. Das größte Problem stellte die „schlesische Krankheit“, nämlich die schwache Verkehrsinfrastruktur dar, wonach oberschlesische Industrieerzeugnisse auf langen und beschwerlichen Wegen transportiert werden mussten, was sie weniger konkurrenzfähig machte. Dennoch stellte Oberschlesien für die Nationalsozialisten als „Luftschutzkeller des Reiches“ eine strategisch bedeutende Region dar. Aufgrund der großen Entfernung zu England und den weiteren westeuropäischen Staaten war die Region durch eventuelle Bombardierung weniger stark gefährdet, so dass Oberschlesien für die deutsche Energiepolitik nach 1933 von großem Interesse war. So entstand in Auschwitz das große Buna-Werk und ein großes Kraftwerk, in dem auch Zwangsarbeiter eingesetzt wurden.

Insgesamt konnten die Tagungsteilnehmer eine positive Bilanz ziehen. Die internationale und interdisziplinäre Besetzung der Referenten ermöglichte eine facettenreiche Analyse der Wirtschafts-, Politik-, Sozial-, Kultur- und Kirchengeschichte des oberschlesischen Industriegebiets. Die Tagung erschloss neue Forschungsfelder und zeigte Forschungsdesiderata auf. Es wurde deutlich, dass sich deutsche Historiker, die über die Industriegeschichte forschen, zu wenig mit der Rolle Oberschlesiens auskennen und beschäftigen, was jedoch unumgänglich ist. Insbesondere führten die Folgen der Migrationswellen im 19. und 20. Jahrhundert zu engen gesellschaftlichen Verknüpfungen zwischen dem Ruhrgebiet und Oberschlesien, die immer noch zu wenig erforscht sind. Die Herausgeber planen, einen Tagungsband zu publizieren und eine Fortsetzung der Tagung im Herbst 2009 zu organisieren.

Konferenzübersicht::

Manfred Alexander (Universität zu Köln):
Oberschlesien - eine europäische Region im Schnittpunkt dreier Kulturräume

Sektion 1 / Leitung: Helmut Maier

Einführung: Region, Industrie, Zuwanderung

Dieter Ziegler (Ruhr-Universität Bochum):
Entwicklung und Perspektiven des Konzepts der regionalen Industrialisierung

Andrzej Michalczyk (Ruhr-Universität Bochum):
Von der Agrar- zur Industriegesellschaft = Von lokalen zu nationalen Loyalitäten?

Bernard Linek (Schlesisches Institut Oppeln/Slaski Instytut Naukowy w Opolu):
Biskupice-Borsigwerk: Soziale Modernisierungswege in Oberschlesien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts

Lutz Budraß (Ruhr-Universität Bochum):
Ruhrpolen und Ruhrschlonsaken? Einige Überlegungen zur ethnischen Differenzierung der Einwanderung ins Ruhrgebiet.

Vorstellung von Institutionen der oberschlesischen Geschichte in Nordrhein-Westfalen:
Das Oberschlesische Landesmuseum, Ratingen (Susanne Peters-Schildgen)
Die Martin-Opitz-Bibliothek, Herne (Wolfgang Kessler)
Der Arbeitskreis Ruhrgebiet – Oberschlesien (Veronika Grabe)

Sektion 2 / Leitung: Harald Wixforth

Oberschlesische Eliten in Wirtschaft und Gesellschaft

Sebastian Rosenbaum (Institut für Nationales Gedenken Kattowitz/IPN Katowice): Tarnowitz/Tarnowskie Góry im 19. Jahrhundert. Elitenwechsel und neue politische und gesellschaftliche Handlungsmuster

Barbara Kalinowska-Wójcik (Staatsarchiv Kattowitz/Archiwum Panstwowe w Katowicach) Der Einfluss der Industrialisierung auf die Entwicklung der Städte im Kreis Pless

Sektion 3 / Leitung: Andrzej Michalczyk

Die Politisierung der Oberschlesier Ende des 19. Jahrhunderts / Anfang des 20. Jahrhunderts

Michal J. Witkowski (Schlesische Universität Kattowitz/Uniwersytet Slaski w Katowicach): Politische Mobilisierung der Oberschlesier Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts am Beispiel der Stadt Königshütte.

Edyta Koltan (Universität Breslau/Uniwersytet Wroclawski):
Oberschlesische Marienschwestern zwischen Nationalisierung und Ordensleben (1921-1956).

Sektion 4 / Leitung: Lutz Budraß

Die oberschlesische Wirtschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Stefanie van de Kerkhof (Ruhr-Universität Bochum):
Rent-seeking schwerindustrieller oberschlesischer Eliten im Kaiserreich.

Harald Wixforth (Ruhr-Universität Bochum): Wirtschaftliche Folgen der Teilung Oberschlesiens.

Helmut Maier (Ruhr-Universität Bochum):
Die Bedeutung der oberschlesischen Energiewirtschaft für die Nationalsozialisten.

Anmerkungen:
1 Richard C. Murphy, Gastarbeiter im Deutschen Reich. Polen in Bottrop 1891-1933 (Düsseldorfer Schriften zur Neueren Landesgeschichte und zur Geschichte Nordrhein-Westfalens, 5), Wuppertal 1982.
2 Arbeitskreis Ruhrgebiet – Oberschlesien (Hrsg.), Ruhrgebiet - Oberschlesien. Dokumentation der Tagung auf Zollverein, Essen, 10./11. April 2003, Essen 2004; ders., Ruhrgebiet – Oberschlesien. Stadt Region Strukturwandel. Eine Tagung im Rahmen der kulturellen Präsentation des Landes Nordrhein-Westfalen in der Wojewodschaft Schlesien 2004, Essen 2006.