Calvin - Saint or Sinner?

Calvin - Saint or Sinner?

Organisatoren
Institut für Reformationsforschung, Theologischen Universität Apeldoorn
Ort
Apeldoorn
Land
Netherlands
Vom - Bis
30.10.2008 - 01.11.2008
Url der Konferenzwebsite
Von
Sebastian Heck, Heidelberg

Vom 30. Oktober bis zum 01. November 2008 veranstaltete das Institut für Reformationsforschung der Theologischen Universität Apeldoorn ein Calvin-Symposium unter der Leitfrage „Calvin - Saint or Sinner?“. Mit dieser Tagung war der offizielle Auftakt zum Calvinjahr 2009 gegeben, in dem sich die Geburt des Genfer Reformators Johannes Calvin (1509-1564) zum 500. Mal jährt. Führende europäische und nordamerikanische Wissenschaftler gingen in Putten/Niederlande, den Fragen nach, inwiefern Calvin wirklich Reformator oder in erster Linie „Sünder“ oder „Heiliger“ war.

Die Konferenz wurde mit der Vorstellung des lang erwarteten Calvin-Handbuchs, herausgegeben von Herman J. Selderhuis, dem Leiter des Apeldoorner Instituts für Reformationsforschung, eröffnet. Das Handbuch ist ein ehrgeiziges Projekt, an dem 52 namhafte Wissenschaftler mitgearbeitet haben. Es soll eine wichtige Hilfe für die zukünftige Auseinandersetzung mit dem Reformator sein. Bisher ist das Handbuch nur auf holländisch (Kok) erschienen, im Erscheinen begriffen ist es allerdings laut Selderhuis auch auf deutsch (Mohr Siebeck), auf englisch (Eerdmans) und auf italienisch (Claudiana).
Selderhuis, zugleich Präsident des Internationalen Calvinkongresses, informierte auch über den Beschluss des Präsidiums desselben Gremiums, den nächsten Internationalen Calvinkongress vom 22.-27. August 2010 in Bloemfontein, Südafrika, abzuhalten und lud herzlich dazu ein. Außerdem verabschiedete er Wilhelm Neuser aus dem Präsidium des Calvinkongresses, dem dieser seit 1972 angehört hatte, und bedankte sich im Namen der internationalen Calvinforschungsgemeinschaft bei Neuser für dessen Verdienste.

ELSIE MCKEE (Princeton, Ney Jersey) begann die Vortragsreihe mit einem Überblick über die Spiritualität Calvins. Sie hob die Kontinuität der Spiritualität der Reformatoren, besonders Calvins, mit mittelalterlicher Frömmigkeit hervor, argumentierte dann allerdings für die Notwendigkeit einer neuen Spiritualität, hervorgerufen durch die Realität der Reformation. Die Entdeckung des sola scriptura als Formalprinzip der Reformation, die Übersetzungen der Schrift in die jeweiligen Volks- und Landessprachen, sowie die veränderte Rolle der Kirche ermöglichten und erforderten einen neuen Zugang zur Spiritualität, die Calvin in seinen Schriften, insbesondere der Institutio, konsequent vertrat. Besonders die vermeintlichen calvinischen „Zentrallehren“ wie Vorsehung und Prädestination führten nicht, wie teilweise unterstellt, zu einer unsicheren und ungewissen Spiritualität (anxious spirituality), sondern eher dazu, dass die Gläubigen auch angesichts von Verfolgung und widrigen Umständen im Glauben gewiss und zuversichtlich sein konnten. Calvins Vorstellung von Spiritualität, so McKee, sei fest verwurzelt im kirchlichen Leben, beinhalte jedoch auch eine robuste persönliche Frömmigkeit.

SCOTT MANETSCH (Chicago, Illinois) ging in seinem Vortrag der Frage nach, ob die von Calvin eingeführte Genfer Kirchenzuchtpraxis eher ein heiliger Terror (holy terror) oder echte Seelsorge war. Manetsch, der auf die langjährige Arbeit von Robert Kingdon aufbaut und selbst seit Jahren die Akten des Genfer Konsistoriums analysiert, argumentierte, dass das Genfer Konsistorium im 16. Jahrhundert zwar eine maßgebliche Rolle im öffentlichen Leben inne hatte, dass es jedoch weder eine moralische Schreckensherrschaft ausübte, noch ein Instrument weitreichender sozialer Überwachung war (contra Alister McGrath). Manetsch belegte anhand seiner Analyse der Akten des Konsistoriums von 1542-1551 und von 1560-1600 einen nicht zu übersehenden Zusammenhang zwischen der relativ häufig ausgeübten Kirchenzucht und der geistlichen Seelsorge der Ältesten und Pastoren an ihren Gemeindegliedern. So wurde beispielsweise die „große Exkommunikation“ (dauerhafter Ausschluss aus der Kirche) weitaus seltener (nur ungefähr ein bis zwei Prozent aller Exkommunikationen für den untersuchten Zeitraum) verhängt, als dies weitläufig angenommen wird. Fünf Motivationen für die Praxis der Kirchenzucht in Genf ließen sich hinter dem Handeln des Konsistoriums erkennen: echte Sorge um die Menschen und ihre Probleme, das Anliegen der Herzensveränderung, die Sorge um die Schwachen (z.B. misshandelte Kinder) und Benachteiligten, das Ziel der christlichen Unterweisung und schließlich das Anliegen der Konfliktlösung. So haben die Maßnahmen des Konsistoriums oft zur Versöhnung von Ehepartnern und zur Klärung anderer zwischenmenschlicher Streitigkeiten geführt.

Auf der Grundlage seiner Monographie „Marias Lied in Luthers Deutung: Der Kommentar zum Magnifikat (Lk 1, 46b-55) aus den Jahren 1520/21, Tübingen 2007“ verglich CHRISTOPH BURGER (Amsterdam) die Magnifikatauslegungen Martin Luthers und Calvins miteinander. Auch wenn Calvin wohl Luthers Übersetzung sowie seinen Kommentar zum Magnifikat aufgrund der Sprachbarriere (Calvin konnte kein deutsch!) nicht kannte, gibt es große Übereinstimmungen. Beide Exegeten wehrten sich gegen eine Idealisierung Marias, indem ihre demütige Haltung als Tugend ausgelegt wurde, wie dies in der römischen Kirche geschehen war; beide lehnten auch das Bild Marias als regina coeli ab. In Calvins Magnifikatauslegung sei der Begriff des Bundes von zentraler Bedeutung, bei Luther eher untergeordnet.

JOHN L. THOMPSON (Pasadena, Kalifornien) versuchte uns davon zu überzeugen, dass die Exegese Calvins in einer bisher unbezahlten Schuld (unpaid debt) gegenüber Origenes steckt. So gesehen sei Calvin kein echter Reformator der Exegese, kein radikaler oder gar revolutionärer Erneuerer der Exegese und schon gar kein Vorläufer der kritischen Exegese. Vielmehr sei er bis zum Schluss zu großen Teilen der klassischen Exegese verhaftet geblieben. Calvin habe zwar scharfe Kritik an Origenes geübt, doch habe er jenen fast ausschließlich durch die Rezeption Melanchthons und Bucers kennen gelernt. So distanziere sich Calvin zwar rhetorisch von Origenes (insbesondere dessen allegorischer Schriftauslegung), in der Praxis sei er jenem doch viel näher (z.B. im anagogischen Schriftsinn) als er das als Reformator im 16. Jahrhundert jemals hätte öffentlich zugeben können.

EMIDIO CAMPI (Zürich) plädierte in seinem Vortrag dafür, die reformierte Konfession nicht ausschließlich von Calvin und Genf her zu verstehen (die „Schleiermachersche Maxime der großen Gestalten“), sondern vor allem auch von Heinrich Bullinger und den Zürcher Theologen her. Er nannte vier Problemkreise in der Konsolidierung der reformierten Konfession als kirchliche Größe: das Schriftverständnis, das Abendmahlsverständnis, die Prädestination und das Verhältnis von Kirche und Staat, wovon er nur die beiden letzteren entfaltete. Calvin habe sich mit seiner Erwählungslehre, insbesondere der doppelten Prädestination, bewusst von Bullinger entfernt, der in diesem Punkt Bolsec näher stand als dem Genfer Reformator und zwar die praescientia ad damnatione lehrte, nicht aber die praedestinatio. Und doch seien diese beiden Interpretationen der Prädestinationslehre in ihrer Spannung Teil der reformierten Konfession geblieben—bis zur fatalen Dordrechter Synode wo sie aufgelöst und das Reformiertentum auf eine „ungewöhnlich rigide Version der Prädestinationslehre“ verpflichtet wurde. Calvin könne jedoch nicht als Stifter der „Karikatur“ der Prädestinationslehre, wie sie uns in den Dordrechter Canones begegnet, vereinnahmt werden. Was das Verhältnis von Kirche und Staat angehe, so haben die Reformierten, besonders Calvin, das Staatskirchenmodell favorisiert, indem Kirche und staatliches Gemeinwesen auf Konsens ausgelegt waren („checks and balances“) und nicht voneinander getrennt werden konnten. Die These von der radikalen Trennung zwischen Kirche und Staat sei lediglich von den Täufern vertreten worden, sonst im 16. Jahrhundert von niemandem. Campi schloss mit einigen Forschungsdesideraten: zum einen dem Wunsch, dass in Darstellungen der Reformation Calvin nicht allein, sondern im Zusammenhang mit anderen Reformierten (v.a. Bullinger) gesehen werde, zum anderen, dass neue Texteditionen der Werke der reformierten Theologen des 16. Jahrhunderts entstehen, die in den Apparaten den historischen Zusammenhängen Rechnung tragen.

MAX ENGAMMARE (Genf) betonte sowohl das iustus als auch das peccator im Leben Calvins anhand der sieben „Todsünden“. Nach zeitgenössischem Urteil (Beza, Caroli) sei Calvins Hauptsünde (primary sin) wohl der Zorn (ira) gewesen, doch auch der Stolz (superbia) sei ein latentes Problem für Calvin gewesen, bei dem selbst seine sich wandelnde Unterschrift sein übersteigertes, wenn auch nicht ungebremstes, prophetisches Selbstbewusstsein reflektierte.

CHRISTIAN LINK (Bochum) reflektierte die „pathetische Unmenschlichkeit“ (Max Weber) der Lehre von Erwählung und Prädestination bei Calvin. Dabei spaltete er den Reformator förmlich auf in Calvin, den Lehrer (vgl. Institutio), und Calvin, den Prediger (vgl. seine Predigten). In der Institutio begegne uns „der blanke Vorsatz Gottes“, durch den die Erwählung aus ihrem biblisch Sitz im Leben befreit und die „geschichtliche Klammer“ des Alten Testaments aufgelöst werde. Demzufolge sei die Prädestination „geschichtslos“, noch tragischer aber sei die Tatsache, dass sie nicht christologisch sei, d.h. hinter die Geschichte Jesu Christi zurück schaue. Ganz anders die Verkündigung Calvins. In seinen Predigten begegne uns die Gnade der Erwählung. Hier sei die Erwählungslehre konsequent christologisch entworfen, geschichtlich verankert und nicht in einem decretum absolutum begründet. Wie lösen wir diese Spannung im calvinischen Entwurf auf? Überhaupt nicht. Nach Link spricht es gerade für Calvin, dass er keine Lösung suchen wollte. Unsere theologische Erkenntnis sei bruchstückhaft und wir sähen nur „wie in einem Spiegel“.

ANTHONY N.S. LANE (London) skizzierte die Parallelität der beiden programmatischen theologischen Auseinandersetzungen des 16. Jahrhunderts zwischen Luther und Erasmus einerseits und zwischen Calvin und Pighius andererseits. Gegen Matthew Heckel ist Lane der Ansicht, Calvin sei nicht direkt beeinflusst durch die Schriften Luthers (vor allem. De Servo Arbitrio). Auch wenn Calvin mit Luther in essentieller Übereinstimmung steht, so kann doch nicht (wie Haeckel) von „völliger Übereinstimmung“ zwischen Calvin und Luther in Bezug auf den menschlichen Willen die Rede sein.

Mit viel Mut eröffnete GÜNTER FRANK (Bretten) aufs Neue das Thema natürliche Theologie bei Calvin (und Melanchthon). Als Resultat der neueren Forschung sei es nun endlich möglich, dieses Thema neu zu beleuchten. Dieser neue Zugang müsse anerkennen, dass nicht jede natürliche Theologie sogleich Ontologie ist und deshalb auch unter dem vernichtenden Urteil Karl Barths zur analogia entis stehe. Nach Frank sei es nie das Anliegen der Reformatoren gewesen, eine Seinsmetaphysik oder Ontologie auf der Basis der natürlichen Theologie zu konstruieren. Im Mittelalter sollte die natürliche Theologie der Begründung der Prinzipien der Theologie, also der Theologie als deduktiver Wissenschaft, dienen. Insofern gebe es eine Kontinuität zwischen den mittelalterlichen und scholastischen principia, den vier loci des Thomas, den ciceronischen sedes argumentorum, den topoi des Boethius und schließlich den loci Melanchthons. Bei Melanchthon sowie bei Calvin im Rückgriff auf Melanchthon gehe die natürliche Theologie nicht vom Sein aus (analogia entis), sondern vom Geist, d.h. der Erkenntnis („analogia mentis“). Wenn auch bei Calvin einige Elemente der philippistischen Epistemologie nicht vorhanden waren, so ließe sich doch auch Calvin der Tradition des Innatismus zuordnen. Somit sei die in der Calvinforschung (via Barth) weit verbreitete Ansicht, bei Calvin gebe es lediglich die „formale Möglichkeit“ einer natürlichen Gotteserkenntnis, fehlgeleitet, denn bei Calvin habe es sich, ebenso wie bei Melanchthon, bereits um tatsächliche Erkenntnis gehandetl, die auch durch den Sündenfall nicht völlig ausgelöscht werden konnte.

FRANS P. VAN STAM (Amsterdam) ging in seinem Vortrag „Calvin as Plagiarist“ der Frage nach, ob die bisher in der Calvinforschung meist Calvin zugeschriebene Vorrede zur Olivetanbibel von 1535 mit dem Titel „A Tous Amateurs de Jesus Christ“ tatsächlich von Calvin stammt. In sechs Punkten argumentierte er für die Verfasserschaft des Olivetan selbst und damit gegen Calvin.1

JON BALSERAK (Edinburgh) skizzierte das Verständnis des Prophetenamts bei Calvin und verknüpfte es mit dem prophetischen Selbstverständnis Calvins. Calvin identifizierte sich selbst mit dem Los der alttestamentlichen Propheten und nahm auch selbst eine gewisse prophetische Rolle ein. Doch Balserak ging noch weiter, in dem er argumentierte, dass Calvin sich selbst als Prophet sah. In seiner neutestamentlichen Exegese sieht Calvin das Amt des Propheten als grundlegend für die Kirche und damit als (nahezu) ausgestorben an. Doch in der alttestamentlichen Perspektive meint Calvin nicht nur eine dauerhafte Rolle für Propheten in der Heilsgeschichte zu sehen, sondern sich selbst auf subtile, wenn auch nicht explizite, Weise in die Reihe dieser Propheten einreihen zu können.

Mit IRENA BACKUS und ISABELLE GRAESSLÉ widmeten sich zwei kompetente Wissenschaftlerinnen aus Genf in zwei ganz unterschiedlichen Vorträgen der Frage nach Hagiographie und Ideologie in den Calvindarstellungen vom 16. Jahrhundert bis in die Neuzeit. In diesem Rahmen wurde auch Professor Backus neuestes Buch „Life Writing in Reformation Europe. Lives of Reformers by Friends, Disciples and Foes, Aldershot 2008“ präsentiert. Schließlich eröffnete OLIVIER MILLET (Paris) einen überaus menschlichen Zugang zu dem „Heiligen“ Calvin, indem er zeigte, wie dieser von körperlichen Leiden geprägt war.

Im Resümee lässt sich sagen, dass in fast allen Vorträgen die Ambivalenz der ursprünglichen Fragestellung „Calvin - Saint or Sinner?“ deutlich Profil gewinnen konnte. Während in manchen Vorträgen einige alte Vorurteile zu Calvins Theologie und Persönlichkeit gepflegt wurden,, haben andererseits engagierte Beiträge neue Erkenntnisse aus der Calvinforschung zutage gebracht und zur Diskussion gestellt sowie neue Zugänge zur Person des französischen Theologen geschaffen, die mit Spannung erwarten lassen, was das Jubiläumsjahr noch bringen wird.

Konferenzübersicht:

Eröffnung der Konferenz und Vorstellung des Calvin-Handbuches (Herman J. Selderhuis)

Abendvortrag Elsie Anne McKee: Calvin as Reformer of Spirituality

Sektion I - Calvin the Reformer

Scott Manetsch: Holy Terror or Pastoral Care? Church Discipline in Calvin’s Geneva, 1542-1595

Christoph Burger: Calvin, Luther und das Magnifikat

John L. Thompson: Calvin, Reformer of Exegesis?

Emidio Campi: Calvin, Reformator der Konfession

Max Engammare: John Calvin’s Seven Deadly Sins

Kees van der Kooi: Calvin’s Christology. What’s new?

Christian Link: Erwählung und Prädestination

Anthony N.S. Lane: Anthropology – Calvin between Luther and Erasmus

Günter Frank: Natürliche Theologie bei Calvin und Melanchthon

Abendvortrag Olivier Millet: Berufung, Arbeit und Krankheiten: Calvin als Leidensmann

Sektion II - Calvin the Saint

Isabelle Graesslé: Geneva against Calvin. The myth of the non-saint

Frans P. van Stam: Calvin as Plagiarist

Jon Balserak: Expounding the “mens prophetae”. Calvin on the prophets and Calvin as a prophet

Irena Backus: Calvin in 16th Century Biographies

Karin Maag: Calvin as the Ideal Teacher

Anmerkung:
1 Vgl. seine Schrift Der Autor des Vorworts zur Olivetan-Bibel A tous amateurs aus dem Jahr 1535, in: Dutch Review of Church History 84, S. 248-67.


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