Kontrolle und Virtualität

Kontrolle und Virtualität

Organisatoren
Hans-Joachim Lenger, Michaela Ott, Sarah Speck, Harald Strauß, Hochschule für Bildende Künste, Hamburg; Georg Christoph Tholen, Universität Basel; Alain Brossat, Universität Paris VIII - Saint Denis
Ort
Hamburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
03.11.2008 - 08.11.2008
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Von
Anna-Lena Wenzel, Hamburg

´Kontrolle und Virtualität` waren die zwei Stichwörter eines umfangreichen Symposions an der HfBK, das vom 3. bis 8. November an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg stattfand. Ausgangspunkt war ein Zitat von Gilles Deleuze, in dem er die modernen Gesellschaften als Systeme charakterisiert, die sich durch „unablässige Kontrolle und unmittelbare Kommunikation“ auszeichnen. Doch wie stellen sich die Kontrollgesellschaften heute dar, wie gestaltet sich die unmittelbare Kommunikation?

Die Analyse heutiger Macht- und Kontrolldispositive, sowie deren medialen Formen, wurde auf dem Symposion durch einen Vortrag von Klaus Theweleit über Godard eingeleitet. Kernthese seines Vortrags über Godards Spätwerk, die er mit ausführlichen Filmzitaten unterlegte, war das Fehlen der Subjekte in seinem ästhetischen Werk. In den folgenden Tagen wurde auf verschiedenen panels („Film“, „Das zersplitterte Panoptikum“, „Die Macht der Effekte“, „Selbstkontrolle der Arbeit“, „aisthesis des Denkens“) die Frage nach den heutigen politisch-ökonomischen sowie künstlerisch-ästhetischen Dimensionen der Kontrollgesellschaften und ihren Auswirkungen auf Subjekte, universitäre Strukturen etc. diskutiert. Ausgangslage bildeten Deleuze Ausführungen zur Kontrollgesellschaft.1 Schon 1990 schrieb er: “Wir sind dabei, in ´Kontroll`-Gesellschaften einzutreten, die genaugenommen keine Disziplinargesellschaften mehr sind. Foucault gilt nicht selten als der Denker der Disziplinargesellschaften und ihrer prinzipiellen Technik, der Einschließung. Aber in Wirklichkeit gehört er zu den ersten, die sagen, dass wir dabei sind die Disziplinargesellschaft zu verlassen, dass das schon nicht mehr unsere Gegenwart ist. Wir treten ein in Kontrollgesellschaften, die nicht mehr durch Internierung funktionieren, sondern durch unablässige Kontrolle und unmittelbare Kommunikation.”2 Deleuze knüpft damit an Michel Foucaults Untersuchungen der Disziplinargesellschaften an und erweitert sie auf unsere heutigen Gesellschaften. Wie in einigen Vorträgen betont wurde, bedeutet die Ausrufung einer Kontrollgesellschaft jedoch nicht die Ablösung der einen Gesellschaftsform durch die andere, sondern ihre Aktualisierung. Somit lassen sich sowohl Kontinuitäten als auch Gleichzeitigkeiten verschiedener Machtformen diagnostizieren. Laut Foucault sind schon die Disziplinargesellschaften diejenigen Machtverhältnisse, “die nicht mit dem Recht sondern mit der Technik arbeiten, nicht mit der Normalisierung, nicht mit der Strafe sondern mit der Kontrolle”. 3 Diese Kontrollmechanismen zeichnen sich durch eine gesteigerte Differenzierung aus und wirken zusehends in Mikrologien. Sie lassen lediglich minimale und ambivalente Lückenbildungen zu und gehen mit Veränderungen im politischen, sozialen, kulturellen, medialen und wirtschaftlichen Bereich einher, die es im Symposion zu untersuchen galt.

HANS-JOACHIM LENGER (HfBK Hamburg) hob in seiner dichten und zugleich präzisen Einführung drei Aspekte der Kontrollgesellschaften hervor: erstens die Mutation des Kapitalismus, zweitens die Veränderungen der technologischen Medien (Kybernetik und Computer als die Maschinen dieses Gesellschaftstyps) und drittens die Auswirkungen auf Lebenswelten und Subjekte. Besonders die Verlagerung der Macht in die Subjekte führe dazu, dass sich diese in Selbstführung und Selbstkontrolle üben. Die meisten Beiträge untersuchten aus diesem Grund aktuelle Formen der Kontrollgesellschaft und ihrer Sicherheitsdispositive (wie ALAIN BROSSAT und PETER KOLL beide Universität Paris VIII). ULRICH BRÖCKLING (Universität Leipzig) konkretisierte diese Entwicklung am Beispiel der Prävention. Von GEORG CHRISTOPH THOLEN (Universität Basel) eindrucksvoll thematisiert wurde außerdem das Blickregime des panoptisch organisierten Fernsehens. Dabei ging es jedoch immer auch um die Frage nach Möglichkeiten künstlerischer, politischer und wissenschaftlicher “Widerständigkeiten“, nach dem „Virtuellen“, wie Hans-Joachim Lenger im Anschluss an Deleuze formulierte. Wie lassen sich Fluchtlinien denken, die sich der Logik des Möglichen und Wirklichen entziehen? Wie das ´Ungeschichtliche`, das sich immer wieder in Brüchen des Politischen und in Kreativiäten des Künstlerischen Ausdruck verschafft? Wo ergeben sich Möglichkeiten des Nicht-so-regiert werdens? Dieser Frage wurde insbesondere in den letzten Vorträgen nachgegangen. OLAF SANDERS (Universität Köln) entwickelte aus Deleuze` Pädagogiken eine ´Ethik des Widerstands gegen die funktionale Verdummung an Universitäten`. KATHRIN BUSCH (Universität Lüneburg) stellte das essayistische Denken als eines heraus, das in einem Zwischenbereich zwischen Kunst und Wissenschaft angesiedelt ist und Räume des Nicht-Erwartbaren und Unvorhergesehenen ermöglicht. Aber auch sie warnt vor einer einseitigen, unkritischen Übernahme wissenschaftlicher Ansätze und Begriffe, wie sie in den letzten Jahren im Kunstfeld gerade in Zusammenhang mit der Einrichtung von Promotionsstudiengängen an Kunsthochschulen zu beobachten waren. Grundsätzlich wird kritisiert, dass die Ökonomisierung der Lehre und des Studiums zum Verlust zeitlicher und denkerische Freiräume führe. Doch sei es nicht einfach, Strategien zu entwickeln und Situationen herzustellen, die das ´Denken im Denken halten` ohne sich in der Passivität zu verkriechen. Möglichkeiten anderer Techniken wurden dabei von SANDRO GAYCKEN (Universität Stuttgart, Chaos Computer Club) und CLEMENS APPRICH (Institut für Wissenschaften vom Menschen Wien) eröffnet. Erster sprach vom Counterdevelopment als Gegenentwicklung auf technologischer Ebene, zweiter über das Netzpionierprojekt Public Netbase. In den Vorträgen von CHRISTIAN HOFFSTADT/ MICHAEL NAGENBORG (Universität Karlsruhe) und HANS CHRISTIAN DANY (Hamburg) wurde jedoch deutlich, wie sehr Technologien wie das Computerspiel ´World of Warcraft` und ´Die Pflicht zum Rausch` Bestandteil eines militärisch-kapitalistischen Gefüges sind. Aus dem Wunsch heraus, unterschiedliche Texturen, Formate, und Gruppen miteinander zu verbinden, sie ´in Konstellationen zu versetzen, die sich überlagern, interferieren und möglicherweise für Überraschungen sorgen` 4 gab es neben den Vorträgen weitere Veranstaltungen an der Schnittstelle von Theorie, Kunst, Musik und Aktivismus, die das Symposion rhizomartig verbreiteten und vernetzten.

Zum Auftakt des Symposions wurde das Thema in einer Theaterperformance aufgegriffen, die im Nachtasyl des Thalia Theaters aufgeführt wurde. Neben der theoretischen Erörterung des Themas mit Hilfe von Foucault-Zitaten lag der Schwerpunkt von ´Coach Yourself. Management ab 11`, das von Kindern aufgeführt wurde, auf der Sichtbarmachung der Mechanismen der Selbstkontrolle. Diese wurden in nachgestellten Szenen aus Coachingseminaren, Entspannungs- und Sportkursen anschaulich gemacht. Außerdem präsentierte Michaela Ott Filme von Sandra Schäfer und Angela Melitopoulos, gab die Wiener cross-gender Sängerin Gustav ein Konzert in der HfBK und veranstaltete MAKNETE e.V. einen Abend ´in memorian Gilles Deleuze`. Besonders gelungen war die Aktion der Gruppe LIGNA, das „Labor für unkontrollierbare Situationen“, organisierte eine Performance in der Europapassage in der Hamburger Innenstadt, die Information, Aktion und Reflektion miteinander verband. Die Aktion griff die vielfältigen Kontrollmechanismen im öffentlichen Raum im Allgemeinen und den Einkaufspassagen im Besonderen auf. Dazu zählt nicht nur die hohe Präsenz von Sicherheitsdiensten und Überwachungsmechanismen in zusehends privatisierten Räumen, sondern auch die Steuerung des Einkaufsverhaltens durch eine spezifische Einkaufsarchitektur, Einkaufsmusik und Duftberieselung. Die mit Radioempfängern ausgestatteten Teilnehmer wurden aufgefordert, kleine abweichende Bewegungen durchzuführen, um die Gesten des warenförmigen Raumes zu parodieren. Trotz (oder gerade wegen) der gelungenen Verknüpfung und Vernetzung des Symposions mit weiteren Veranstaltungen stand am Ende des Symposions die Frage nach der geeigneten Form eines theoretisch ausgerichteten Symposions erneut im Raum, die Busch kurz vorher in ihrem Vortrag ebenfalls thematisiert hatte. Sie hatte am Beispiel des essayistischen Denkens für die Verknüpfung von Form und Inhalt plädiert. Als problematisch erwiesen sich in diesem Zusammenhang das enge Zeitkorsett, sowie die räumliche Determinierung der Diskussionen durch die Hörsaalkonstruktion. Sie führten mit dazu, dass es an einigen Stellen zu wenig Zeit und Raum gab, den Diskussionen und Kontroversen nachzugehen, wie es insbesondere in den Eröffnungsreden des HfBK-Präsidenten Martin Köttering und der Hochschulbeauftragten des französischen Konsulats, Valérie Le Vot, gefordert worden war. Denn kontroverse Positionen gab es genug. So betonte MARIA MUHLE (Universität Weimar) in ihrem Vortrag die Omnipräsenz der Macht bei Foucault, die keine Möglichkeiten eines Widerstandes zulasse, der außerhalb der Machtmechanismen angesiedelt ist. Nicht als Gegenmodell zu den Kontrollmechanismen ist das Widerständige zu denken, sondern als temporäre Möglichkeit der Umdeutung und Beschleunigung der Entwicklungen der Kontrollgesellschaft: Das ´Politische` als Dissens und Verbindung unterschiedlicher Aufteilungen des Sinnlichen, wie Muhle es mit Rancière formulierte. Das bedeutet aber auch, dass sich das ´Politische` auflöst und sich immer wieder neu artikuliert. Wie es in dieser Situation möglich sein soll, klare Definitionen des Politischen zu formulieren, wie es Prof. Brossat forderte, wurde leider nicht weiter diskutiert. Es bleibt zu hoffen, dass sich die angeregten Diskussionen und eröffneten Spannungsfelder an anderer Stelle fortsetzen und weitere Fluchtlinien produzieren. Dem gut besuchten Symposion gelang es jedenfalls, die aktuellen Aspekte und Formen der Kontrollgesellschaft anschaulich zu machen und einen produktiven Raum der Auseinandersetzung zu schaffen.

Konferenzübersicht:

Programm:
Eröffnungsvortrag von Klaus Theweleit: Godard - Virtualität und Subjekt
Michaela Ott: Einführung

Miriam Schaub: Die Entschiedenheit der Peripherie. Subversive Strategien in Kubricks "Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb"

Ralf Adelmann: Fernsehen als Medium der Kontrollgesellschaft

Andrea Seier: Fernsehen der Mikropolitiken. Televisuelle Formen der Selbstführung

Alain Brossat: "Die Dispositive der Sicherheit"

Maria Muhle: Leben und Widerstand - Deleuze und Foucault

Peter Koll: Subjektivierung und Naturalisierung. Die Form des Seienden in der Kontrollgesellschaft

Olivier Razac: Das elektronische Armband: ein neues Strafmodell?

Christian Hoffstadt/ Michael Nagenborg: Infowar@Azeroth: Über das Panoptikum der World of Warcraft

Hans Christian Dany: Die Pflicht zum Rausch

Ulrich Bröckling: Vorbeugen oder Aufrichten? Die politische Rationalität der Prävention

Katja Diefenbach: Lebendige Arbeit, gestaltendes Feuer. Über den Begriff der biopolitische Arbeit im Postoperaismus

Harald Strauß: "Humankapital"Georg Christoph Tholen: Dispositive und Diagramme der Macht - Über das Sichtbare und Sagbare nach Foucault und Deleuze

Marc Rölli: Sensibilität - Ambivalenzen der Macht

Sandro Gaycken: Couterdevelopment

Clemens Apprich: Interventionen im Datenraum: Public Netbase (1994-2006)

Olaf Sanders: Deleuze` Pädagogiken als Ethik des Widerstands gegen funktionale Verdummung an Universitäten

Kathrin Busch: Künstlerisches Forschen - essayistisches Denken

Mario Vötsch: Nomadische Praktiken im Kulturfeld

Anmerkungen:
1 Zu nennen wäre hier das Gespräch ´Kontrolle und Werden`, das er 1990 mit Antonio Negri führte, sowie sein ´Postscriptum über die Kontrollgesellschaften` ebenfalls von 1990. Beide sind in seinem Band ´Unterhandlungen 1972-1990` (Frankfurt am Main 1993) zusammengeführt.
2 Gilles Deleuze, Unterhandlungen, Neuauflage, 2004, S.250.
3 Foucault zit.n. Gabriel Kuhn, Tier-Werden, Schwarz-Werden, Frau-Werden. Münster 2005, S.120.
4 Hans-Joachim Lenger, Virtualität und Kontrolle. Gespräch über ein Symposion an der HfBK Hamburg. In: Newsletter der HfBK, November 2008, S.III.


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