Bürgertum und Bürgerlichkeit zwischen 1870 und 1930. Kontinuität und Wandel

Bürgertum und Bürgerlichkeit zwischen 1870 und 1930. Kontinuität und Wandel

Organisatoren
Ruhr-Universität Bochum, Zentrum für interdisziplinäre Ruhrgebietsforschung/ Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeschichte
Ort
Essen
Land
Deutschland
Vom - Bis
26.03.2003 - 28.03.2003
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Von
Jörg Lesczenski, Zentrum für interdisziplinäre Ruhrgebietsforschung, Ruhr-Universität Bochum

„Die Jugend aller Bevölkerungsteile hat Gefühl und Begriff der Bürgerlichkeit schlechthin verloren. Für uns ältere Generation war Bürgerlichkeit noch eine Lebensform, von der wir die Anschauung hatten, auch wenn wir sie für uns ablehnten. (...) Für die jüngste Generation liegt die Bürgerlichkeit außer aller Erörterungsbedürftigkeit, jenseits jedes Oppositionsinteresses, ja außerhalb der bloßen Kenntnisaufnahme.“1 – Theodor Geiger stand mit den Ergebnissen seiner Gesellschaftsanalyse in den späten Jahren der Weimarer Republik wahrlich nicht allein. Die zeitgenössischen Beobachter in Wissenschaft, Literatur und Publizistik kamen zu einem nahezu einhelligen Urteil: Das bürgerliche Zeitalter habe seinen Zenit längst überschritten, das Bürgertum sei als eine homogene soziale Formation nicht mehr identifizierbar und auch von einem gemeinsamen, für alle bürgerlichen Fraktionen verbindlichen Modell der Lebensführung dürfe längst nicht mehr die Rede sein.

Dem vielfach diagnostizierten Wandel des deutschen Bürgertums um 1900 ging der Workshop „Bürgertum und Bürgerlichkeit zwischen 1870 und 1930. Kontinuität und Wandel“ vom 26. bis 28. März auf Schloß Landsberg in Essen-Kettwig nach. Die Tagung bildete zugleich den Abschluß des interdisziplinären Forschungsprojekts „August Thyssen und Schloß Landsberg. Ein Unternehmer und sein Haus“, das - von der Fritz Thyssen-Stiftung gefördert - in seinem sozialhistorischen Teil auf der Makroebene die Frage nach dem Wandel der bürgerlichen Leitbilder zwischen 1870 und 1930 mit einer Auswertung zeitgenössischer bürgerlicher Printmedien beantwortete. Hinzu kam der mikroanalytische Zugriff: Am Fallbeispiel August Thyssens wurden die Konturen wirtschaftsbürgerlicher Lebensführung rekonstruiert und mit einem Blick auf die Alltagspraktiken ausgewählter Repräsentanten der Frankfurter Wirtschaftselite (August und Moritz von Metzler, Wilhelm und Richard Merton, Moritz von Bethmann) vergleichend eingeordnet.2

Nachdem Werner Plumpe (Frankfurt am Main) in seinen einführenden Überlegungen die Entwicklung des Bürgertums im Kontext der großen sozioökonomischen Strukturveränderungen um 1900 beschrieb und den Entwicklungsprozeß von der Blüte hin zur Erosion einheitlicher bürgerlicher Denk- und Lebensformen nachzeichnete, ging der Workshop den mannigfaltigen Wechselbeziehungen zwischen Kontinuität und Wandel im Untersuchungszeitraum in vier Sektionen nach.
In der Geschichtswissenschaft, aber auch in der Soziologie, der Kunstgeschichte, der Architektur oder auch der Kulturgeographie wird über die Bedeutung des „Raums“ als elementaren Bezugspunkt individuellen Handels zunehmend diskutiert. Mit der ersten Sektion „Bürgerliche Reliefe. Raum- und Siedlungsstrukturen, Topographie“ (Leitung: Werner Plumpe, Frankfurt am Main) trug der Workshop dem aktuellen wissenschaftlichen Diskurs Rechnung und lotete Möglichkeiten aus, das Raumkonzept pointierter als bisher in die Bürgertumsforschung zu integrieren. In seinem Beitrag zur „Raumaneignung des Bürgertums“ beschrieb Alarich Rooch (Bremen/Düsseldorf) die Stadt als einen „komplexen Kommunikations-, Seh- und Erfahrungsraum“, in dem über vielfältige symbolische Formen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsstrukturen transferiert werden. Für Rooch ist vor allem die Architektur ein Medium, mit dem eine symbolisch strukturierte Lebenswelt in umfassender Weise produziert und reproduziert wird: Vermittels ihrer symbolischen Formen, die soziokulturelle Orientierungsmuster kommunizieren, werden soziale Beziehungsstrukturen konstituiert und verfestigt. An ausgewählten Bauwerken (Villa, Warenhaus etc.) arbeitete Rooch die „distinktive Formensprache“ heraus, mit der sich das Bürgertum als bestimmende kulturelle Trägerschicht in Szene setzte.
Die Aneignung des städtischen Raumes ging stets auch mit der Erschließung neuer und dem Funktionswandel älterer Stadtviertel einher. Der Frage nach den längerfristigen Veränderungen im Raumgefüge der Stadt ging Gerd Kuhn (Stuttgart) am Beispiel der Villenkolonien und der Suburbanisierung nach. Als „Pioniere der Suburbanisierung“ entdeckte das Bürgertum seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Räume jenseits der lärmenden und schmutzigen Kernstadt, um sich an naturnahen Orten der Ruhe sozial und kulturell zu entfalten. Eine deutliche Zäsur markieren nach Gerd Kuhn die Jahre nach der Jahrhundertwende, die einer „Metamorphose der suburbanen Sehnsucht“ gleichgekommen seien. Die städtischen Peripherien verloren insbesondere ihre soziale Exklusivität und öffneten sich auch weniger begüterten Schichten.
Für das Bürgertum war nicht nur die Aneignung und Gestaltung von öffentlichen oder halböffentlichen Räumen, sondern auch die Selbstdarstellung in den privaten Wohnräumen von erheblicher Bedeutung, die Adelheid von Saldern (Hannover) in ihrem Beitrag „Bürgerliches Wohnen als Rauminszenierung“ beleuchtete. Gehörte der in vieler Hinsicht „überladene“ und „dunkle“ Einrichtungsstil zu den Epochenmerkmalen bürgerlichen Wohnverhaltens im Historismus, zeichnete sich das „modernere“ Wohnen u.a. durch eine Verbindung von „Prunk und Technik“, eine größere „Europäisierung“, die funktionale Ausdifferenzierung der Wohnräume, die repräsentative standesgemäße Selbstinszenierung sowie einen „Drang nach kultureller Harmonie“ aus. Im Spiegel der keineswegs einheitlichen, sondern heterogenen bürgerlichen Wohnformen könne nach von Saldern zwar nicht von einer Auflösung, aber sehr wohl von einer „Zersplitterung“ des Bürgertum gesprochen werden.

Unter Leitung von Lothar Gall (Frankfurt am Main) widmete sich die zweite Sektion dem Thema „Bürgerliche Institutionen“. Als eine der wesentlichen institutionellen „Keimzellen“ einer gemeinsamen bürgerlichen Lebensführung seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert gilt zurecht der Verein. Trotz aller Fortschritte in der Aufarbeitung des Vereinswesens sind die Desiderata nicht zu übersehen, auf die Ralf Roth (Frankfurt am Main) in seinem Forschungsüberblick hinwies. Nach Auffassung Roths gehört u.a. die Geschichte der bürgerlichen Vereine seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert, ihre Einbettung in den europäischen Kontext, sowie deren Wirkungen im Spannungsfeld von Wirtschaft und Politik zu den „weißen Flecken“ der Bürgertumsforschung.
Die vielfältigen Veränderungen in der Museumslandschaft zwischen Jahrhundertwende und früher Weimarer Republik beleuchtete Dieter Hein (Frankfurt am Main). Der Sog der kulturellen Krise seit den ausgehenden 1890er Jahren, die immer deutlicher auch zu einem Thema der öffentlichen Meinung wurde, machte auch vor den Museumstüren nicht halt: Der Kunsthandel expandierte, die Museumsvereine verloren ihren „elitären Touch“ und nach 1914 zunehmend auch ihre namhaften finanzkräftigen Mitglieder. Parallel zum Verlust bürgerlicher Exklusivität lassen sich nach Dieter Hein aber auch wiederholt Anläufe bürgerliche Kreise ausmachen, sich über Museumsvereine als neue bürgerliche Elite zu definieren. Hein betonte überdies den Wandel im Umgang mit Kunst und Kultur in bürgerlichen Kreisen. Zwar nicht als ausgeprägte „Kenner“, aber sehr wohl als Gesellschaftsmitglieder, die sich in ihrer Alltagspraxis vielfältig mit kulturellen Phänomenen auseinandersetzten, erwarb das Bürgertum in den Jahren nach 1900 häufiger als vor der Jahrhundertwende „Kunst der Kunst wegen“.
Über das laufende Forschungsprojekt „Stiftungen und Mäzenatentum am Beispiel Hamburger Stifterinnen“ (gefördert von der ZEIT-Stiftung) berichteten Manuela Klein und Andreas Schulz (Frankfurt am Main). Zu den Untersuchungsgegenständen der Studie, die ihr Augenmerk nicht auf die Stiftung als Institution, sondern auf die Stifterinnen als handelnde Akteure legt, zählen das Selbstverständnis und die Motive der Stifterinnen, ihre institutionellen Verankerungen (weibliche Besuchsvereine, „Hamburger Hochschule für das weibliche Geschlecht“ etc.) sowie die Frage nach den Schwerpunkten im weiblichen Stiftungsverhalten.
Der beschleunigte soziale Wandel im Kaiserreich und die mannigfaltigen Statusunsicherheiten in den Lebenswelten des Adels und des Bürgertums schlugen sich auch in einer wachsenden Nachfrage nach neuen, sozial offenen Geselligkeitsformen nieder, die Christiane Eisenberg (Berlin) in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung stellte. Eisenberg skizzierte die „Five-o'clock-teas“, die „Jours fixes“ und die „Clubs“ in England als wichtige Indikatoren und Vorbilder einer neuen Geselligkeitskultur. Zu besonders attraktiven neuen Formen der Geselligkeit entwickelten sich laut Eisenberg das Reisen und der Sport. Gerade der Sport habe auf die Gesellschaftsgeschichte des Bürgertums nachhaltig zurückgewirkt, konkrete Vorstellungen von einer „offenen Gesellschaft“ erzeugt, eine Subversion von Stand und Status bewirkt und die Erwerbsmentalität aufgewertet. Die neuen Formen des Sports verloren indes bis zum Ende der Weimarer Demokratie wichtige soziale Funktionen. Vor allem der ausgeprägte emanzipatorische Charakter ging zunehmend verloren, um allerdings im 20. Jahrhundert auch immer wieder eine Revitalisierung zu erfahren.

In jüngster Zeit werden unter dem Einfluß der „kulturalistischen Wende“ der „Wertehimmel“ des Bürgertums, die Konturen bürgerlicher Lebensführung und das Spannungsverhältnis zwischen der normativen „Matrix“ des Wertesystem und den konkreten Alltagspraktiken neu thematisiert. Mit der Diskussion einher geht auch die Suche nach einem gehaltvollen theoretisch-methodischen Zugriff, der es erlaubt, individuelles bürgerliches Handeln sozial- und kulturhistorisch zu verorten.
In seinen Betrachtungen zur bourgeoisen Lebensführung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts griff Morten Reitmayer (Trier) in der dritten Sektion „Habitus und Lebensführung“ (Leitung: Cornelia Rauh-Kühne, Tübingen) auf das theoretische und begriffliche Instrumentarium Pierre Bourdieus zurück, um die strukturellen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und die Handlungsmuster im „Raum der Oberklassen“ zu beschreiben. Nach Auffassung Reitmayers haben sich zwischen Bourgeoisie, Bildungsbürgertum und Adel keine gemeinsamen Normen der Lebensführung herausgebildet, die für die unterschiedlichen Gruppen vorbildlich oder gar verbindlich gewesen wären. Charakteristisch sei vielmehr die große Distanz zwischen den heterogenen Fraktionen der Oberklassen gewesen. Der eigentliche Ursprung bürgerlicher Lebensführung läge in den „habituellen Prägungen“ der Individuen, die - so Bourdieu - von der unterschiedlichen Teilhabe an den Formen ökonomischen und sozialen Kapitals hervorgebracht werden. Aus den Positionen der Akteure im Raum der Bourgeoisie, die sich durch die Partizipation an den Kapitalformen ergibt, entwickelte Reitmayer vier zentrale Kategorien, die der bourgeoisen Lebensführung ihre Gestalt verliehen: Der gesellschaftliche Führungsanspruch der Bourgeoisie, die ökonomisch definierte Zweckrationalität, ein ausgesprochenes Arbeits- und Leistungsethos sowie eine spezifische Auffassung von Öffentlichkeit und Privatheit.
Jörg Lesczenski (Bochum) skizzierte unter der Fragestellung „Wie der Vater so die Söhne?“ den Wandel von Leitbildern zwischen den Generationen am Beispiel der Familie Thyssen. Die „Konfliktgeschichte“ im Hause Thyssen zeige, daß die Wahrnehmungs- und Handlungsmuster August Thyssens, seine Wertpräferenzen und Hierarchien von der nachwachsenden Generation nicht mehr vorbehaltlos geteilt wurden. Seine Söhne, so die Ergebnisse, lehnten das Leitbild des autoritären Familienvaters ab und verknüpften ihren eigenen Wertekanon und ihren eigenen Lebensweg weniger mit dem Firmenwohl des Thyssen-Konzerns. Das Arbeits- und Leistungsethos blieb existent, verlor aber seine übermächtige Dominanz. Zudem zeigte sich bei den Söhnen eine größere Neigung, ökonomisches Kapital in repräsentativ-symbolischer Form auszudrücken.
Daß die Kluft zwischen Familienideal und –wirklichkeit mitunter paradoxe Formen annahm, zeigt die Biographie und das Werk des konservativen Volkstumsforschers und Publizisten Wilhelm Heinrich Riehl, den Bärbel Kuhn (Saarbrücken) in das Zentrum ihres Beitrags „Bürgerliches Familienidyll. Zum Wandel der Geschlechterverhältnisse und –rollen“ rückte. Während Riehl in seinen Arbeiten die „natürliche Ungleichheit“ zwischen Mann und Frau begründete und sie ganz in ihren „häuslichen Wirkungskreis“ verwies, verliefen die Lebensläufe seiner vier Töchter in ganz anderen Bahnen: Nur eine Tochter heiratete, während zwei von ihnen eine Ausbildung absolvierten und außerhalb des Hauses finanziell lukrativen Berufen nachgingen. Obwohl bereits zu Lebzeiten Riehls die Alltagspraktiken das von ihm konstruierte Familienideal mit seinen starren Geschlechterrollen vielfach ad absurdum führte, blieben seine Schriften auch nach seinem Tod (1897) in bürgerlichen Kreisen attraktiv und erfuhren in den 1920er und 1930er eine Renaissance mit ersten völkischen Interpretationen.

Zu einem unabdingbaren Element bürgerlicher Lebensführung gehörte die „gekonnte“ Selbstinszenierung und die Neigung, den eigenen Sehnsüchten in symbolhaften Formen Ausdruck zu verleihen, die in der vierten Sektion „Bürgerliche Ikonen. Sehnsüchte und Inszenierungen“ (Leitung: Dieter Ziegler, Bochum) diskutiert wurden. Claudia Euskirchen (Köln) näherte sich dem Thema mit einer Betrachtung der Kunstsammlung August Thyssens. Auf seinem Alterswohnsitz Schloß Landsberg trug einer der ökonomisch einflußreichsten Wirtschaftsbürger seiner Zeit u.a. zahlreiche Kopien nach Werken „Alter Meister“ des 17. Jahrhunderts, eine kleine Portraitgalerie berühmter Staatsmänner (Kopien wie Originale), Werke aus der Düsseldorfer Malerschule und zahlreiche Plastiken aus dem Umfeld der Berliner Bildhauerschule zusammen. Euskirchen sieht bis auf eine - allerdings bedeutende Ausnahme - keine Veranlassung, Thyssen als einen programmatischen Sammler zu charakterisieren: In der geschäftlichen Liaison und der Auseinandersetzung mit dem Franzosen Auguste Rodin, von dem der Großunternehmer mehrere Marmorplastiken erwarb, habe Thyssen Leidenschaft, Enthusiasmus und Zähigkeit bewiesen. Hier bündelten sich bei August Thyssen nach Auffassung Euskirchens Mut, Selbstbewußtsein, Sinn für unternehmerisches Handeln, aber auch das Bekenntnis des Sammlers zur Individualität.
Karl Christian Führer (Hamburg) legte in seinem Beitrag zum „Bürgerlichen Geschmack“ mit einer Analyse der zahlreichen Theaterskandale der 1920er Jahre den Blick auf die Differenzen im künstlerisch-moralischen Urteil und die Erosion allgemein akzeptierter ästhetischer Maßstäbe frei, an der das Bürgertum in der Weimarer Zeit buchstäblich gelitten habe. Noch ganz in der Tradition des Kaiserreichs stehend und in seinem Kunstverständnis konservativ orientiert, öffnete sich das bürgerliche Theaterpublikum in seiner großen Mehrheit nur selten neuen Inszenierungsformen wie der offenen Darstellung von Sexualität. Die zeitgenössischen Skandale entzündeten sich nicht nur, wie Führer feststellte, an den Inhalten und Inszenierungen der Stücke, sondern gerade auch an der „Zweiteilung des bürgerlichen Publikums“: Aggressionen und Proteste bezogen sich weniger auf das als provokant empfundene theatralische Ereignis selbst als auf die Tatsache, daß es Publikumsgruppen gab, die enthusiastisch applaudierten, wo andere befremdet reagierten.
Zu den Sehnsüchten der Bürgerinnen und Bürger gehörte schließlich auch die Hoffnung, nach dem Tod im kollektiven Gedächtnis der bürgerlichen Gesellschaft zu verbleiben. Den Entwicklungen von Denkmalen und Friedhöfen als „Orte ästhetischer Selbstinszenierung“ ging Eckhardt Treichel (Frankfurt am Main) nach. Während in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf den kommunalen Friedhöfen die gemeinsame Formsprache des Klassizismus sowie eine Ikonographie, die den Tod „ästhetisch entschärfte“, die gemeinsamen kulturellen Leitbilder des städtischen Bürgertums demonstrierten, löste sich das einheitliche Erscheinungsbild der Friedhöfe seit den 1860er Jahren allmählich auf. In der ästhetischen Gestaltung und der Symbolik zeichneten sich nunmehr eine Tendenz zur Verweltlichung und ein größerer Individualismus ab. In den Jahren nach der Jahrhundertwende lassen sich nach Eckhardt Treichel Reformbewegungen ausmachen, die sich gegen die modernen Großstadtfriedhöfe richteten und die Friedhöfe als „Ort des stillen Totengedenkens“ zurückgewinnen wollten. Trotz der zunehmenden bürokratischen Reglementierung der Friedhofskultur, die nach dem Ersten Weltkrieg hinzu kam, blieben allerdings, so die Beobachtung Treichels, dem Bürgertum genügend Spielräume, um ihre Sepulkralkultur jeweils individuell zu gestalten.

Die zahlreichen Einzelergebnisse zeigten nachdrücklich, wie sehr die bürgerliche Welt, ihre Institutionen und Vorstellungen über die „richtige“ Lebensführung, im Bürgertum selbst in die Diskussion gerieten. Der „offene Suchprozeß nach akzeptablen Regeln einer angemessenen Lebensführung“, wie es Werner Plumpe in seinem Eröffnungsvortrag beschrieb, die „Erosion bisheriger Gewißheiten, der innere Zerfall und die äußere Relativierung traditionaler canones und Orientierungssysteme“3 prägten spätestens nach 1900 den bürgerlichen Zeitgeist.
Über die präzise Charakterisierung der Strukturveränderungen, über ihre genaue „soziale Reichweite“ und besonders über ihre Folgewirkungen für die Geschichte des Bürgertums im 20. Jahrhundert darf indes weiter gestritten werden: Ob sich der Prozeß eher als „Erosion“ oder als „Formwandel“ beschreiben läßt, ob er das Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum zeitgleich und mit der gleichen Intensität betraf, ob der tiefgreifende Wandel einem „irreversiblen Bruch mit der Tradition des Bürgertums“ gleichkommt, „nach dem von Bürgertum und Bürgerlichkeit in einer historisch räsonablen Weise sinnvoll nicht mehr zu sprechen ist“ (Werner Plumpe), oder ob das Bürgertum samt seiner Wertpräferenzen die Jahre des Strukturwandel nicht zumindest insoweit „überlebte“, um später als „Phönix aus der Asche“ die Gesellschaftsgeschichte der Bundesrepublik nachhaltig zu beeinflussen, ist längst noch nicht abschließend beantwortet.4

Anmerkungen:

1 Geiger, Theodor: Die soziale Schichtung des deutschen Volkes. Soziographischer Versuch auf statistischer Grundlage, 2. Auflage, Stuttgart 1967, S. 124 f., S. 130.
2 An dem interdisziplinären Projekt (Laufzeit 1. April 2000 – 31. März 2003) waren beteiligt: Der Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Frankfurt a.M. (Prof. Dr. Werner Plumpe), das Zentrum für interdisziplinäre Ruhrgebietsforschung an der Ruhr-Universität Bochum, das Kunsthistorische Institut/ Abteilung Architekturgeschichte der Universität zu Köln (Prof. Dr. Norbert Nussbaum), sowie der Lehrstuhl für Denkmalpflege und Bauforschung an der Universität Dortmund (Prof. Dr. Uta Hassler),.
3 Drehsen, Volker/ Sparn, Walter: Die Moderne: Kulturkrise und Konstruktionsgeist, in: Dies. (Hg.): Vom Weltbildwandel zur Weltanschauungsanalyse. Krisenwahrnehmung und Krisenbewältigung um 1900, Berlin 1996.
4 Wehler, Hans-Ulrich: Deutsches Bürgertum nach 1945: Exitus oder Phönix aus der Asche., in: Geschichte und Gesellschaft .27 (2001), S. 617 – 634.


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