Osteuropa kartiert – Mapping Eastern Europe

Osteuropa kartiert – Mapping Eastern Europe

Organisatoren
Christophe von Werdt, Osteuropa-Bibliothek Schweiz, Bern; Mira Jovanović, Osteuropäische Geschichte, Universität Zürich; Jörn Happel, Osteuropäische Geschichte, Universität Basel
Ort
Bern
Land
Switzerland
Vom - Bis
25.09.2008 - 27.09.2008
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Von
Jörn Happel, Historisches Seminar, Universität Basel

Auf die Suche nach „Knicken in der Karte“ machten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der dreitägigen internationalen Tagung „Osteuropa kartiert – Mapping Eastern Europe“, die vom 25. bis zum 27. September in der Schweizerischen Osteuropabibliothek (SOB) in Bern stattfand. Die zweite Tagung des Forums Ostmittel- und Südosteuropas (FOSE) wurde von Christophe von Werdt (Leiter der SOB, Bern), Mira Jovanović (Osteuropäische Geschichte, Universität Zürich) und Jörn Happel (Osteuropäische Geschichte, Universität Basel) konzipiert und durchgeführt. Die Tagungsbeiträge werden 2009 in einem Sammelband publiziert.

Als Festredner konnte zum Tagungsauftakt FRITHJOF BENJAMIN SCHENK (München) gewonnen werden. Er bezeichnete unter dem Titel „Mapping the Empire. Die Neuvermessung des Russländischen Reiches im Eisenbahnzeitalter“ Landkarten als Hort des Raumwissens. Mit seinen Ausführungen legte Schenk zudem einen Rahmen für die Tagung fest. So ging es bei ihm und den folgenden Vorträgen stets um reale, aber auch um kognitive Karten (mental maps). Schenk demonstrierte bei der Entwicklung russischer Eisenbahntrassen, wie Räume erfahren wurden, wie sich Kartenwissen in Kartenpolitik umschlug und wie sich das politische Territorium Russlands durch die Eisenbahn verkleinerte: Das riesige Land wurde zunehmend als politischer Raum beherrschbar, die Eisenbahnen hielten als „eherne Adern“ das Staatswesen zusammen. Russland sei deswegen als Territorium neu zu denken, nämlich als ökonomischer, politischer und strategischer Raum. Dies erläuterte SCHENK an Bauplänen verschiedenster Eisenbahnstrecken.

Die Kartensprache stand im Zentrum des Vortrags von ALEXANDER WOLODTSCHENKO (Dresden), der auf die unterschiedlichen Lesarten von Karten verwies. Schenk erläuterte in seinem Kommentar, dass heutzutage die Welt auf Straßenkreuzungen und Abbildungen, etwa mittels eines Navigationsgeräts reduziert werde. Die minimierte Form der Darstellung räumlicher Welt müsse bei der Identifizierung der jeweiligen Kartensprache zunehmend mitgedacht werden.

Die Karten von Herberstein und Jenkinson, die beide nach Reisen durch das Russland des frühen 16. Jahrhunderts entstanden, haben viele Jahrhunderte das westliche Russlandbild mitbestimmt. ANNINA CAVELTI (Basel) zeigte, wie Karten durch genaues Lesen für die Geschichtswissenschaft nutzbar gemacht werden können. Dabei beharrte sie darauf, die Semiotik der Karten, die nur aus der jeweiligen Entstehungszeit heraus verstanden werden kann, genau zu untersuchen, mithilfe von Texten sich diese auf den Karten zu erschließen.

Daran anknüpfend zeigte LILIYA BEREZHNAYA (Münster), wie auf polnisch-litauischen Karten des 17. Jahrhunderts Europa gegen Russland abgegrenzt wurde. Die „Vormauer der Christenheit“ lokalisierte Berezhnaya in Detailstudien. Das orthodoxe Russland gehörte demnach nicht zu den zivilisierten Ländern des Westens.

KRISTINA KÜNTZEL-WITT (Hamburg/Lübeck) suchte darauf eine Antwort, indem sie sich der Neuvermessung Sibiriens annahm. Sie referierte über den Aufbau eines Kartenwerks infolge der Großen Nordischen Expedition, an der im 18. Jahrhundert rund 3000 Personen teilgenommen hatten. Auch thematisierte sie die Suche des Dänen in russischen Diensten, Vitus Bering, nach der Westküste Amerikas. Die Expansion Russlands blieb dabei ein Staatsgeheimnis. Doch kam es zu einer Art Kulturrevolution in der russischen Kartographie, als im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts erstmals ein russischer Atlas gezeichnet wurde.

Auch das Fehlen von Karten kann ein Faktum sein. Über mental maps referierte MONIKA BAÁR. Im Habsburger Imperium stellte sie Konzeptionen dieser kognitiven Karten vor, wobei die Donau als Achse des Imperiums angenommen wurde. Palacky, Kossuth und Popović hatten detaillierte Pläne zur Ordnung des Reiches. Baár plädierte mit ihrem Vortrag dafür, auf hinter Karten stehende Konzeptionen zu achten, territoriale, ethnische und historische Konstruktionen aufzudecken. Schließlich seien die mental maps eines Kartographen ebenso in dessen Karte umgesetzt worden.

Karten verweisen häufig auf Räume, die nicht bestehen, aber gemacht werden. LUTZ HÄFNER (Bielefeld) bezeichnete Karten deshalb als kulturelle Artefakte. Die Vorträge der Vormittagssektion zusammenfassend, bilanzierte er dem Moskauer Reich mit ersten Kartenversuchen eine Hinwendung an die Territorialisierung von Herrschaft. Im Russland Peters des Großen stünden Karten für eine Europäisierung des Imperiums. So blieb aber das Problem, wo Europa ende, lange Zeit bestehen: am, vor oder hinter dem Ural. Schließlich seien Karten allezeit ein Kommunikationsmedium, bei dessen Untersuchung die Information und Kommunikation über das eigentliche Medium der Karte hinausgingen. So warf Häfner die Frage nach der Perzeption einer Karte auf.

PETER JORDAN (Wien) leitete die Nachmittagssektion, die sich mit der Nationalisierung von Karten befasste. Er erläuterte eingangs die politische Instrumentalisierung von Karten, vor allem ethnischer Karten, mit denen häufig nationales Bewusstsein geweckt worden sei. Anhand einer Karte, die die Verteilung der Slowenen in der Welt („Slovenci po svetu“) zeigte, ging er unter anderem auf die kartographische Darstellung von Besiedlungen ein, wodurch Verzerrungen oft möglich seien. Dabei gebe es drei Methoden: die Punktstreuungs-, die (plakative) Flächen- und die (wissenschaftlich korrekte) Diagrammmethode.

Mittels der „Carte Rouge“ des Kartographen und zeitweiligen Ministerpräsidenten Ungarns in der Zwischenkriegszeit Pál Teleki zeigte RÓBERT KEMÉNYFI (Debrecen), wie sich die „ethnischen Ungarn“ als nationales Zentrum gegenüber der ethnischen Vielfalt der „Peripherie der Minderheiten“ abgrenzte. Damit wurde eine Homogenisierung geschaffen. Indem auf der Karte die Ungarn in einer kräftigen roten Einfärbung auch auf Gebieten außerhalb „Restungarns“ siedelten, konnte den Nachbarvölkern in der Art „psychologischer Kriegsführung“ gezeigt werden, dass die infolge des Trianon-Vertrags „abgetretenen Territorien“ im Grunde doch zu Ungarn gehörten. Karten seien damit, allgemein gesprochen, Kanäle, die Botschaften an die Nachbarvölker und stets auch an die im Zentrum stehende Nationalität ausstrahlen.

Auf einer Karte von 1871 stellten russische Behörden den südwestlichen Landesteil des Imperiums dar. Es entstand unwillkürlich eine Karte der Ukraine, auf der eigentlich gezeigt werden sollte, dass dieses Gebiet nicht polnisch, somit nicht so gefährlich für den Reichszusammenhalt war. ANTON KOTENKO (Kiev/Budapest) stellte diese Karte in das Zentrum seiner Überlegungen und zeigte daran, wie unbeabsichtigt oder wie beabsichtigt Kartographen Fakten schaffen können. Die Karte besaß politischen Sprengstoff, da sie den Ukrainern sozusagen ein eigenes Gebiet zuwies: Vaterlandsgedanke, Mentalität und Territorium verschmolzen.

TOMASZ KAMUSELLA (Dublin) referierte über die Rolle von Schulatlanten. Diese seien besonders in Mittel- und Osteuropa verbreitet, weil hier das Modell des ethnolinguistischen Nationalstaats vorherrsche.

Wie Karten über Jahrzehnte hinweg politische Botschaften tradieren, zeigte TOBIAS WEGER (Oldenburg) in seinem Vortrag über die Konstruktion des deutschen Ostens im Kartenbild von 1890 bis 2007. Beinahe erschreckend wirkte, wie ein völkischer Metadiskurs hinter den verschiedensten Karten aufgedeckt werden kann: Karten um 1900, die das „Deutschtum“ oder den „Deutschen Osten“ abbilden und auf deutsche Siedlungszonen verwiesen, unterschieden sich wenig von denen des Nationalsozialismus. Selbst Karten aus der frühen Bundesrepublik und vereinfachende Illustrationskarten in heutigen deutschen Zeitungen (etwa im „Spiegel“) oder sogar in Schulatlanten bedienen sich fragwürdiger Kennzeichnungen: Die Schraffierungen deutscher Siedlungsgebiete im Jahre 1937 erwecken den Eindruck von Nostalgie deutscher Großmachtphantasien im Osten und entbehren oftmals jeglicher Realität, zumal die Deutschen in vielen Gebieten keine ethnisch homogene Bevölkerung stellten.

Eine literarische Karte stellte DANIEL HENSELER (Fribourg) vor, indem er den Gedichtzyklus „Powrót“ (Rückkehr) des polnischen Dichters Adam Zagajewski vorstellte. Mit den Versen des Dichters konnte eine sehnsüchtige, träumerische aber nicht konfliktfreie Anverwandlung Krakaus, einer beinahe als Paradies erscheinenden Stadt, nachvollzogen werden. Die Suche nach Poesie wurde bei Zagajewski zu einer Suche nach Gott.

Die Karten als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln zeigte FRANZ SZ. HORVÁTH (Hamburg) anhand des 1945 erschienenen Mitteleuropa-Atlasses des Ungarn András Rónai. Rónai, ein Student Pál Telekis (vgl. das Referat Keményfis) stellte das Karpatenbecken als geschlossene Einheit dar und markierte auf der letzten von über 100 Karten, die Gebietsverluste Ungarns seit 1918/19, wodurch die Revisionspolitik in einer Karte ausgedrückt worden sei. Es sei demnach nicht verwunderlich, so HORVÁTH, dass die Karte 1993 in einem rechtslastigen Verlag eine Neuauflage erlebte.

Die Kunsthistorikerin ANTJE KEMPE (Berlin/Wrocław) ließ die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in die Bildsprache von Karten eintauchen. Beeindruckend zeigte sie anhand von polnischen Propagandakarten, die nach 1945 entstanden waren, wie die neuen polnischen Ostgebiete von tatkräftigen polnischen Kolonisten wiederbesiedelt wurden. KEMPE erläuterte die Bedeutung des Grenzpfahls, der sich auf diesen Karten als wiederkehrendes Motiv findet und das ehemalige Ostdeutschland klar zum Bestandteil des neu erstandenen Polens erklärte.

Wie sehr „Fremdenverkehrskarten“ aus der jungen Bundesrepublik revanchistische Züge hatten, zeigte CHRISTIAN LOTZ (Leipzig) in seinem Referat „Der Knick in der Karte“. Die Darstellung des deutschpolnischen Grenzraums von 1956 bis 1975 wirkte für den heutigen Betrachter kurios. Wenngleich diese Karten, die selbstverständlich die DDR und die ehemaligen Ostgebiete als Deutschland zusammenfassten, auf der politischen internationalen Bühne keine Rolle spielten, führten sie zu einer Politisierung der Gesellschaft auf beiden Seiten der Oder-Neiße-Grenze. Erst mit der Neuen Ostpolitik der Regierung Brandt/Scheel verschwanden diese Karten zunehmend, wurde in den Fernsehsendungen nicht auch noch auf den Wetterkarten Sonne oder Regen über Pommern oder Ostpreußen thematisiert.

Die dreitägige Tagung in Bern fasste JÖRG STADELBAUER (Freiburg im Breisgau) zusammen. Er betonte, dass alle Vorträge vom spatial und/oder cultural turn in den Geistes- und Sozialwissenschaften inspiriert waren und versuchten, Konstruktionen im Kartenbild aufzudecken. Dabei standen die Grenzen ebenso wie die Entdeckung der Karten als politische Raumbilder im Mittelpunkt. Die Karten tradierten ein historisches Erbe, waren Belastungen für die Zukunft oder drückten einerseits politische Provokationen oder andererseits political correctness aus. Stadelbauer schlug vor, die in Bern vorgenommene interdisziplinäre Beschäftigung mit Karten fortzusetzen. Dabei stünden sechs Punkte im Vordergrund: Karten als Repräsentation von Herrschaftswissen und Vermittlung politischer Deutungsmacht, Karten als geopolitische Dokumente, Karten als Konstruktion von Territorialität, die Untersuchung von Zeichensprachen als Sondersprachen (Codes), Räume als relative und relationale mentale Konstruktionen und die in Karten ausgedrückte Widerspiegelung von Raumstrukturen. Nur durch Interdisziplinarität und ungewöhnliche Sichtweisen könnten die Knicke in den Karten gefunden und gedeutet werden.

Konferenzübersicht:

Dr. Frithjof Benjamin Schenk, München
Mapping the Empire: Die Neuvermessung des Russländischen Reiches im
Eisenbahnzeitalter

Panel I, Einführung: „Osteuropa kartiert“
(Moderation und Kommentar: Dr. Frithjof Benjamin Schenk, München)

Alexander Wolodtschenko (Dresden)
Einige toponymisch-kartosemiotische Aspekte Russlands des 20. Jahrhunderts

Panel II: „Karten(interpretationen) in der Vormoderne“
(Moderation und Kommentar: PD Dr. Lutz Häfner, Bielefeld/Gießen)

Annina Cavelti (Basel)
Was Karten über die Vergangenheit erzählen: Herberstein und Jenkinson

Liliya Berezhnaya (Münster)
An den Grenzen der Zivilisation: Die östlichen Grenzregionen der Adelsrepublik
Polen-Litauen in der europäischen Kartographie des 16. bis 18. Jahrhunderts

Kristina Küntzel-Witt (Lübeck)
Wie gross ist Sibirien? Die russischen Entdeckungen und die Kontroverse
zwischen Delisle, Engel, Müller im 18. Jahrhundert

Monika Baár (Ascona)
Mapping the Federal Idea: The Case of the Habsburg Empire

Panel III: „National-Karten und Nationalisten“
(Moderation und Kommentar: Prof. Dr. Peter Jordan, Wien)

Róbert Keményfi (Debrecen)
Konstituierung ethnischer Räume, ethnischer Grenzen und Karten: Der Mythos
vom ungarischen nationalen Raum und der ethnischen Grenzen

Anton Kotenko (Kiev)
Inventing Ukraine: Construction of Ukrainian National Space in the Nineteenth
Century

Tomasz Kamusella (Dublin)
School Historical Atlases and Ethnolinguistic Nationalism

Tobias Weger (Oldenburg)
Vom „Alldeutschen Atlas“ zu den „Erzwungenen Wegen“: Die Konstruktion des
„deutschen Ostens“ im Kartenbild, 1890-2007

Daniel Henseler (Fribourg)
„Die Stadt schreiben“: Adam Zagajewskis dichterische Anverwandlung Krakaus

Panel IV: „Inszenierung von Geschichte: Kartenkonstruktionen nach 1945“
(Moderation und Kommentar: Prof. Dr. Jörg Stadelbauer, Freiburg i. Br.)

Franz Horváth (Southampton)
Karten als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln? András Rónai und sein
„Mitteleuropa-Atlas“ von 1945

Antje Kempe (Berlin)
Identität im Piktogramm. Polnische Karten nach 1945 als argumentative
Ereignisbilder

Christian Lotz (Leipzig)
Der Knick in der Karte. Der internationale Streit um die kartographische
Darstellung des deutschpolnischen Grenzraumes (1956-1975)

Kontakt

Forum Ostmittel- und Süosteuropa (FOSE)
c/o Schweizerische Osteuropabibliothek
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