Vergeben und vergessen – oder etwa nicht? 10. Hoyaer Tagung zur Sportgeschichte

Vergeben und vergessen – oder etwa nicht? 10. Hoyaer Tagung zur Sportgeschichte

Organisatoren
Niedersächsisches Institut für Sportgeschichte Hoya e.V. (NISH)
Ort
Hoya
Land
Deutschland
Vom - Bis
10.10.2008 - 12.10.2008
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Von
Arnd Krüger

Die 10. Hoyaer Tagung zur Sportgeschichte befasste sich mit den verschiedenen Formen von Erinnerungskultur innerhalb des Sports. Verbunden war die Tagung mit der Aufnahme weiterer Persönlichkeiten in die Ehrengalerie des Niedersächsischen Sports durch das Niedersächsische Institut für Sportgeschichte Hoya e.V. (NISH). Mit dieser Ehrengalerie hat sich der Sport in Niedersachsen einen Erinnerungsort geschaffen, um herausragende sportliche, aber auch sportwissenschaftliche und organisatorische Leistungen auszuzeichnen und für die Nachwelt zu erhalten.

In der Sektion Nationalsozialismus und jüdischer Sport referierte JUSTUS MEYER (Universität Hamburg) über die Sonderausstellung des HSV-Museums zu "Die Raute unter dem Hakenkreuz." Der HSV hat sich sehr gezielt der Aufarbeitung der eigenen Geschichte gestellt. Der Referent machte deutlich, dass es auch bei so gut aufgearbeiteten Vereinen wie dem HSV bei der Erforschung von Details immer wieder zu Überraschungen kommen kann. So zeigte er beispielhaft die Entwicklung des ehemaligen Stürmerstars Tull Harder, der nach seiner aktiven Karriere in der SS diente und Lagerleiter des KZ Neuengamme war, sowie des ehemaligen Präsidenten Emil Martens, dessen Fall bis vor wenigen Jahren unbekannt war. Als Homosexueller wurde er von den Nationalsozialisten verurteilt und zur Zustimmung zur Kastration gezwungen. Durch die weite Spanne der Untersuchungen (vor allem durch den Museumsleiter Dirk Mansen und den Historiker Gottfried Lorenz) wird deutlich, dass bestimmte Ereignisse aus der Vereinsgeschichte in späteren Zeiten ausgeblendet werden, weil jede Zeit die eigenen Fragen stellt.

Ein Gegenstück in der Form der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit stellte BERNO BAHRO (Universität Potsdam) dar: den Sport Club Charlottenburg (SCC). In der offiziellen Vereinsgeschichte (2002) wurde die NS-Zeit auf einer Seite abgehandelt. Der Ausschluss der jüdischen Mitglieder 1933 wurde verschwiegen, obwohl sich unter ihnen prominente Sportler/innen befanden, wie die deutsche Meisterin im Speerwurf Martha Jacob, die später nach Südafrika emigrierte. Deren Tochter, der sie vom Ausschluss aufgrund ihrer jüdischen Herkunft berichtet hatte, trat eine intensive Spurensuche in Berlin los. Die Vereinsführung verhielt sich gegenüber dieser Aufarbeitung der antisemitischen Vergangenheit überaus reserviert, enthüllte aber schließlich 2006 eine Gedenktafel für die ausgeschlossenen jüdischen Sportler und Sportlerinnen. Die so gänzlich unterschiedlichen Verhaltensweisen von HSV und SCC wurden ausgiebig im Hinblick auf das jeweilige Umfeld diskutiert. Die Fragen, die an die eigenen Geschichte gestellt werden, werden eben nicht nur durch den Zeitgeist bestimmt, sondern auch durch die konkreten Situationen, in denen sich die Vereine befinden (Fußballbundesliga vs. AIMS).

NELE FAHNENBRUCK (Universität Hamburg) zeichnete die Geschichte des Hamburger Spring-Derby von 1920 bis 1939 nach. In den Mittelpunkt stellte sie dabei Eduard Pulvermann, einen nationalkonservativen Hamburger Kaufmann (Teilnehmer am Kapp-Putsch) und "Halbjuden", der schließlich 1944 im KZ Neuengamme ums Leben kam. Gerade weil Pulvermann kein politisches Motiv mit der Gründung verband, sondern ein an englischen Vorbildern orientiertes gesellschaftliches Ereignis kreieren wollte, konnte diese Veranstaltung ein Schaufenster nationaler Verbundenheit, deutschen (und vor allem Hamburger) Selbstbewusstseins und internationalen Ansehens bleiben -- auch wenn sich die Nationalsozialisten der Veranstaltung zeitweise bemächtigten.

HARALD KLINGEBIEL (Bremen) berichtete über die Arbeit des "Wuseum" (Werder-Museum im Werder-Turm im Weser-Stadion) und das nun bereits seit zwanzig Jahren bestehende Projekt "Vereinsgeschichte Werder Bremen". Der Verein möchte ein Zeichen gegen Rassismus und Antisemitismus im Fußball setzen und hat sich somit der vollständigen Aufarbeitung seiner Geschichte verschrieben. Im Rahmen seines Vortrages zu jüdischen Sportlern bei Werder zeichnete der Referent die Geschichte von acht Familien- bzw. Einzelschicksalen von "halbjüdischen" und jüdischen Vereinsmitgliedern nach. Es lässt sich kein einheitliches Muster aufzeigen, da einige ermordet wurden, andere emigrierten und einige auch wieder zurückkamen und im SV Werder auch wieder Funktionen übernommen haben. Klingebiel machte deutlich, dass es erst durch langfristige und kleinflächige Studien überhaupt möglich wird, Personen zu identifizieren, die nicht im Fokus des Vereinsinteresses gestanden haben und es auch verdienen, nicht in Vergessenheit zu geraten.

In der Sektion "Behindertensport" zeigte BERND WEDEMEYER-KOLWE (Universität Göttingen) die Geschichte des organisierten Behindertensports in Niedersachsen auf. Die Geschichte des Behinderten-Sportverbandes Niedersachsen (BSN) ist dadurch geprägt, dass man auf die eigene Ausgrenzung mit der Ausgrenzung anderer antwortete. Zunächst auf die Arbeit mit Kriegsversehrten spezialisiert, lehnte man zivilbeschädigte Gruppen, als Verband für Körperbehinderte Personen mit geistiger Behinderung ab. Die innere und äußere Integrationsgeschichte des BSN stellte sich als ein steiniger Weg dar, bis daraus schließlich ein anerkannter und akzeptierter Landesverband des LandesSportBundes wurde. Durch die Geschichte der Ausgrenzung bei späterer Integration ist es auch schwierig, nicht weiter verfolgte Traditionslinien historisch aufzuarbeiten.

CHRISTIANE HORN (Universität Göttingen) zeigte den radikalen Integrationsansatz im norwegischen Behindertensport auf, bei der es in der jüngsten Zeit zur Auflösung des Behindertensportverbandes kam, weil jeder Sportfachverband die diese Sportart betreibenden Menschen mit Behinderungen bei sich gleichberechtigt aufnehmen muss. Das Ausklammern von Menschen mit Behinderungen in einem eigenen Verband mag organisatorisch "praktisch" sein, der Grundsatz "separate but equal" hat sich im Hinblick auf den Gleichheitsgrundsatz auch schon in anderen Kontexten als Illusion erwiesen. Es ist zu früh zu beurteilen, ob sich aus staatlichen Vorgaben (und finanziellem Druck) in Norwegen ergebenden Rahmenbedingungen wirklich eine Verbesserung der Möglichkeiten und des sozialen Status für Körperbehinderte im Sport ergeben werden.

KNUT TESKE (Berlin) zeigte die Probleme auf, die dadurch entstehen, dass man als Journalist einerseits der Aktualität verpflichtet sei, andererseits immer nur das berichten könne, was sich zuverlässig belegen lasse. Am Beispiel der unterschiedlichen Praxis des Umganges mit Sportlern und Doping in der DDR und der Bundesrepublik machte er deutlich, dass es auch Delikte gebe, die man eben nicht vergeben und vergessen dürfe (auch wenn der internationale Verband eine Verjährungsfrist in die Bestrafung für Doping in das Regelwerk eingebaut habe). Durch das Staatsdoping in der DDR sei dieses besser und leichter aufzuarbeiten als die Doping-Inseln mit der "freiwilligen Verschwiegenheit" in denselben Sportarten in Westdeutschland. Die Frage der persönlichen Verantwortung und Schuld in einem komplexen Leistungssportsystem konnte am Beispiel Doping mit seinen Solidarsystemen jenseits aller politischen Systeme in der Eigenwelt des Sports umfassend diskutiert werden.

JUTTA BRAUN (Universität Potsdam) setzte sich mit dem Phänomen der "Republikflucht" und der "Fluchthelfer" in den deutsch-deutschen Sportbeziehungen auseinander. Hierzu bediente sie sich besonders der Akten der Stasi. Auch wenn hierbei vor allem die spektakulären Fälle (Lutz Eigendorf, Jürgen May etc.) thematisiert worden waren, so hat es hunderte solcher Fälle gegeben. Bis heute ist dies ein weitgehend ausgeblendetes Kapitel der deutsch-deutschen Geschichte, auch wenn es zum Beispiel auf diese Weise zu einem Transfer an Kenntnissen über die Trainingsformen (und die sie begleitenden unterstützenden Maßnahmen) kam. Professionelle Fluchthelfer rekrutierten sich teilweise aus dem kriminellen Milieu und stürzten nicht selten völlig Unbeteiligte durch ihre Aktionen ins Unglück. Vielleicht sind es gerade diese Details, die erklären helfen, warum es bei den westdeutschen Sportfreunden bis heute häufig Scheu und Unwilligkeit gibt, über die Vergangenheit zu sprechen, so dass auch dies ein Kapitel deutsch-deutscher Sportgeschichte ist, das sich schwer erforschen lässt.

ARND KRÜGER (Universität Göttingen) versuchte anhand von unterschiedlichen Beispielen aus der Sportgeschichte mit seinem Beitrag über die sieben Arten in Vergessenheit zu geraten etwas Systematik in die Kultur von Erinnern und Vergessen zu bringen: Damnatio memoriae, vorgeschriebenes Vergessen, Vergessen als Grundlage für neue Chance und Identität, Strukturelle Amnesie, Vergessen durch ein Zuviel an gespeicherter Information, Vergessen als Teil des Fortschrittglaubens, Vergessen als beschämtes Schweigen. In der Diskussion wurde deutlich, dass sich diese Arten nicht so einfach isolieren lassen und es sich häufig in der Realität um eine Mischung aus mehreren Arten handelt. So wurde zum Beispiel in der DDR "Republikflucht" mit der Streichung aus allen Listen im Sport geahndet (=Damnatio memoriae), zu der dann im Westen durch die Inanspruchnahme von Hilfe von kriminellen Fluchthelfern Vergessen als beschämtes Schweigen hinzutrat.

Die aktuelle Bedeutung der Tagung für die Arbeit des Landessportbundes Niedersachsen (LSB) unterstrich dessen Direktor REINHARD RAWE (Hannover). Angeregt durch die Tagung (und der Notwendigkeit der nächsten Jubiläen), habe er sich mit der Geschichte der Präsidenten des LSB befasst. Der Vorstand des LSB habe nun mit über fünfzigjähriger Verspätung seinen Gründungspräsidenten Heinrich Hünecke (1891 - 1971) rehabilitiert, der damals aufgrund von Korruptionsvorwürfen im von ihm zu verantwortenden Niedersächsischen Fußball-Toto aus dem Amt geschieden sei und später vom LSB ausgeschlossen wurde. Auch als alle Vorwürfe gegen Hünecke sich als gegenstandslos erwiesen hatten, er als Beamter längst wieder in sein Amt zurückgekehrt sei, hat der Sport ihn nicht wieder in seine Reihen aufgenommen. Sein Name und seine Verdienste um die Neugründung des deutschen Sports und des Sports in Niedersachsen nach 1945 wurden lange verschwiegen. Auch wenn offen blieb, warum er nicht zeitnah rehabilitiert wurde, so ist er doch in Folge der 10. Hoyaer Tagung durch den Vorstand des LSB rehabilitiert worden.

Mitgliedschaft im LandesSportBund (LSB) ist eine wichtige Kategorie, um Nutznießer kommunaler und staatlicher Förderungsleistungen für den Sport zu werden. Sportvereine/-verbände, die nicht Mitglied im LSB sind, haben es schwer, sich als gleichberechtigt zu präsentieren. NORBERT ENGELHARDT (Hannover) hat gezeigt, dass der LSB im Laufe seiner Entwicklung einen Wandel in der Anerkennungspraxis durchlaufen hat, von einer ideologischen zu einer pragmatischen Position. Wichtig in dieser Entwicklung waren Bundesgerichtshofurteile (und ein Generationswechsel bei den Akteuren). Durch das Ein-Verbandsprinzip (pro Sportart nur ein Verband) ist einerseits die Einheit des Sports gesichert, andererseits haben es neue Sportarten schwer, sich zu etablieren. Sportarten, die unter dem Dach einen größeren Verbandes betrieben werden, haben häufig Probleme, sich entsprechend zu präsentieren - und damit auch ihre eigenständige Geschichte zu dokumentieren.

Einen solchen Fall dokumentierte aus der Sicht von betroffenen CHRISTIAN BRUNKEN (Oldenburg) bei Vereinen mit neuen Sportarten am Beispiel des Jugger-Sports. Auch hier verließ die Tagung den sporthistorischen Rahmen, da sich mit Engelhardt der beim LSB für die Aufnahmepraxis Verantwortliche mit dem Antragsteller gegenübersaß und deutlich wurde, wie sich im konkreten Einzelfall die Mechanismen von Verwaltungshandeln abspielen. Da durch das Spielgerät der Eindruck von Menschenverachtender Praxis entstehen kann, wurde die Sportart zunächst abgelehnt. Hätte sich der Jugger-Sport (wie ungefähr 200 andere Sportarten) zunächst unter das Dach eines anerkannten Verbandes begeben, statt gleich den harten Weg der eigenen Anerkennung zu gehen, hätten sich viele der Fragen und der damit verbundenen Ablehnung wahrscheinlich gar nicht erst gestellt.

Schließlich referierte TATJANA EGGELING (Berlin) über die Geschichte schwul-lesbischer Sportvereine. Auch hier konnte man einen relativen Wandel in der öffentlichen Wahrnehmung feststellen, von Ablehnung und Ausgrenzung hinzu Toleranz und Akzeptanz. Es blieb in der Diskussion offen, ob sich dies am jeweiligen Zeitgeist orientiert oder ob der Sport als ein sehr öffentliches Gut diesen Zeitgeist maßgeblich mit beeinflussen kann. Die unterschiedliche Akzeptanz in einzelnen Sportarten und in einzelnen lokalen und regionalen Zentren spielte hierbei auch eine entsprechende Rolle.

In der abschließenden Diskussion wurde deutlich, dass die Tagung sich sehr mit Fragen des Vergessens, Verdrängens, Ausklammern befasst hatte, die Fragen der Traditionspflege, der Erinnerungskultur und der Erinnerungsorte aber zu kurz gekommen war. Als besonders positiv wurde wahrgenommen, dass neben den Sporthistorikern sich auch Vertreter der größten Niedersächsischen Sportorganisation dem Problem der Gedächtnisarbeit - nicht nur als Referenten, sondern auch unter den Zuhörern - gestellt haben.

Die Vorträge werden zeitnah publiziert.

Konferenzübersicht:

Nationalsozialismus und jüdischer Sport
Justus Meyer (Universität Hamburg): Die Sonderausstellung des HSV-Museums „Die Raute unter dem Hakenkreuz“
Berno Bahro (Universität Potsdam): Vom Umgang mit der eigenen nationalsozialistischen Geschichte – das Beispiel eines Berliner Traditionsvereins
Nele Fahnenbruck (Hamburg): Das Hamburger Spring-Derby von 1920 bis 1939. Eine Analyse unter besonderer Berücksichtigung von Kontinuität und Wandel in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus
Harald Klingebiel (Bremen): Jüdische Sportler bei Werder Bremen

Behindertensport
Prof. Dr. Dr. Bernd Wedemeyer-Kolwe (Universität Göttingen): Versehrtensport in Niedersachsen zwischen Ausgrenzung und Integration
Christiane Horn (Göttingen): Der Integrationsansatz im norwegischen Behindertensport

Sportlerbiographien
Knut Teske (Berlin): Sportler und Doping in der DDR und in der BRD
Dr. Jutta Braun (Potsdam): „Republikflucht“ und „Fluchthelfer“: ein verdrängtes Kapitel deutsch-deutscher Sportbeziehungen

Sportfunktionäre und ihre Vergangenheit
Prof. Dr. Arnd Krüger (Universität Göttingen): Die 7 Arten in Vergessenheit zu geraten. Beispiele aus der Sportgeschichte
Reinhard Rawe (LandesSportBund Niedersachsen): Heinrich Hünecke: der vergessene erste Vorsitzende des LSB

Sportorganisationen und ihre Vereinspolitik
Norbert Engelhardt (LandesSportBund Niedersachsen): Die Ablehnungskategorien bei Aufnahmeanträgen von Vereinen in den LSB
Christian Brunken (Oldenburg): Die Aufnahme- und Ablehnungspraxis des LSB bei Vereinen mit neuen Sportarten am Beispiel des Jugger-Sports (Arbeitstitel)
Dr. Tatjana Eggeling (Berlin): Zur Geschichte schwul-lesbischer Sportvereine
Prof. Dr. Arnd Krüger: Abschlussbesprechung


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